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Der 12. Zivilsenat des Bundes­ge­richts­hofes auf Abwegen

in: vorgänge Nr. 216 (4/2016), S. 101-105

Auch fünf Jahre nach der gesetzlichen Anerkennung von Patientenverfügungen beschäftigen diese immer noch die Gerichte. Zu den wiederkehrenden Fragen gehören, ob eine vorliegende Verfügung noch dem (inzwischen vielleicht geänderten) Willen des Verfügenden entspricht, oder ob der eingetretene Krankheits- bzw. Behandlungsfall unter jene Verfügung gehört oder nicht. In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6.7.2016 (Az. XII ZB 61/16) stellt dieser nun völlig neue Anforderungen daran, wie konkret die Umstände des Behandlungsverzichts zu benennen sind. Mit dieser Entscheidung werden viele der bisher verbreiteten Vordrucke für Patientenverfügungen (auch der von der Humanistischen Union vorgeschlagene Text) hinfällig und müssen überarbeitet werden, weil sie im Zweifelsfall als nicht mehr hinreichend bestimmt genug anzusehen sind. Welche rechtspolitischen Probleme die Entscheidung darüber hinaus aufwirft, skizziert Rosemarie Will in ihrem Kommentar der Entscheidung.

Der Sachverhalt

Eine Frau, Jahrgang 1941, liegt im Koma. Sie erlitt Ende 2011 einen Hirnschlag und wird seither künstlich ernährt. Infolge einer Reihe epileptischer Anfälle im Frühjahr 2013 verlor sie die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation. Aussicht auf Besserung gibt es nicht, weil das Gehirn dauerhaft geschädigt ist. Die Frau hat 2003 und 2011 gleichlautende, weit verbreitete Patientenverfügungsvordrucke der evangelischen Kirche ausgefüllt und einer ihrer drei Töchter eine Generalvollmacht erteilt. Die Patientenverfügung der Betroffenen lautet wie folgt:

„Für den Fall, daß ich (…) aufgrund von Bewußtlosigkeit oder Bewußtseinstrübung (…) nicht mehr in der Lage bin, meinen Willen zu äußern, verfüge ich: Solange eine realistische Aussicht auf Erhaltung eines erträglichen Lebens besteht, erwarte ich ärztlichen und pflegerischen Beistand unter Ausschöpfung der angemessenen Möglichkeiten. Dagegen wünsche ich, daß lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn medizinisch eindeutig festgestellt ist,
* daß ich mich unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozeß befinde, bei dem jede lebenserhaltende Therapie das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf Besserung verlängern würde, oder
* daß keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewußtseins besteht, oder
* daß aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibt, oder
* daß es zu einem nicht behandelbaren, dauernden Ausfall lebenswichtiger Funktionen meines Körpers kommt.
Behandlung und Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist. Ich möchte in Würde und Frieden sterben können, nach Möglichkeit in meiner vertrauten Umgebung. Aktive Sterbehilfe lehne ich ab. Ich bitte um menschliche und seelsorgerische Begleitung.“

Der dauerhafte Ausfall von Vitalfunktionen ohne Aussicht auf Besserung liegt wegen des schweren Dauerschadens des Gehirns ausweislich eines Gutachtens vor.

Die bevollmächtigte Tochter weigerte sich aber, die künstliche Ernährung für ihre Mutter beenden zu lassen. Sie stimmte mit der behandelnden Hausärztin darin überein, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung nicht dem Willen der Betroffenen entspricht, Sie trägt vor, dass mit der künstlichen Ernährung der Mutter begonnen wurde, als diese noch äußerungsfähig war.

Dagegen klagten ihre beiden Schwestern. Sie wollen die Beendigung der künstlichen Ernährung erreichen, weil sie der Auffassung sind, dass dies dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen entspricht. Angesichts der Weigerung ihrer Schwester beantragen sie, dass das Gericht sie als Kontrollbetreuer nach § 1896 Abs. 3 BGB einsetzt, um in dieser Rolle die Vollmacht ihrer Schwester  zu widerrufen um den Willen der Mutter, wie er in der Patientenverfügung niedergelegt ist, durchsetzen zu können. Dazu beschritten sie den Rechtsweg über das Amtsgericht, zum Landgericht bis zum BGH. Während das Amtsgericht ihren Antrag ablehnte, hat das Landgericht eine der beiden auf den Abbruch der künstlichen Ernährung drängenden Töchter zur Betreuerin der Betroffenen bestellt. Dagegen legte die von der Mutter bevollmächtigte Tochter Rechtsbeschwerde beim BGH ein.

Die Entschei­dung

Die Rechtsbeschwerde war vor dem BGH erfolgreich (Beschluss v. 6.7.2016, Az. XII ZB 61/16). Der BGH hat angenommen, dass die Patientenverfügung unwirksam ist, weil sie zu unbestimmt sei. Demzufolge habe die von der Mutter bevollmächtigte Tochter die Grenzen ihrer Vertretungsbefugnis nicht überschritten.
Eine Patientenverfügung müsse sich konkret zu einzelnen medizinischen Behandlungen oder zu bestimmten Krankheiten äußern. Die Formulierung „lebensverlängernde Maßnahmen seien nicht erwünscht“ reiche nicht aus, um eine künstliche Ernährung zu beenden, entschied der BGH. Eine Patientenverfügung sei nur dann bindend, wenn dieser „konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können“. Die Äußerung, „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“ zu wünschen, sei für sich genommen nicht konkret genug. Eine Konkretisierung könne zum Beispiel erfolgen, indem bestimmte ärztliche Maßnahmen genannt würden oder Bezug auf Krankheiten oder Behandlungssituationen genommen werde. Von vornherein nicht ausreichend seien allgemeine Anweisungen, wie die Aufforderung, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen oder zuzulassen, wenn ein Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten ist.

Die Feststellung im Beschluss, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patientenverfügung aber auch nicht überspannt werden dürfen, klingt angesichts der in der Entscheidung geforderten Bestimmtheit fast höhnisch. Das gilt auch für die Bemerkung, dass nur vorausgesetzt werden könne, dass der Betroffene umschreibend festlege, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht. Tatsächlich fordert die Entscheidung ein Maß an Bestimmtheit, das sowohl die eingetretene Gesundheitsschädigung als auch die abzubrechende medizinische Maßnahme konkret benennt. „Unmittelbare Bindungswirkung entfaltet eine Patientenverfügung im Sinne des § 1901a Abs. 1 BGB nur dann, wenn ihr konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können.“ (Rn. 54 (1)) Bislang galten zu spezifische Angaben eigentlich als gefährlich, weil sie den Anwendungsbereich einer Patientenverfügung einengten und dadurch Gefahr liefen, der Fülle möglicher Varianten von Behandlungsmethoden nicht zu entsprechen.

Hinzu kommt, dass der XII. Zivilsenat keineswegs abschließend entschieden hat – er verwies die Entscheidung vielmehr an das Landgericht zurück. Wenn keine bzw. (wie hier vom BGH entschieden) keine wirksame Patientenverfügung vorliegt, muss im Streitfall auf den mutmaßlichen Willen des/der Betroffenen abgestellt werden. Wie dieser ermittelt wird, hängt vom Einzelfall ab. Wenn wie hier eine Patientenverfügung vorliegt, die zwar im konkreten Fall für nicht einschlägig gehalten wird, könnte sie gleichwohl zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens herangezogen werden. Auch wenn der Fall des Abbruchs der künstlichen Ernährung nach dem Verständnis des BGH nicht konkret (genug) geregelt wurde, bedeutet dies nicht, dass die vorliegende Erklärung nicht dafür herangezogen werden kann, um den mutmaßlichen Willen der Betroffenen für die Entscheidung zum Abbruch heran zu ziehen. Man hätte in der Patientenverfügung für den Fall des Abbruchs der künstlichen Ernährung eine Regelungslücke konstatieren können, die man – wie sonst auch üblich – im Wege der Bildung eines juristischen Analogieschlusses schließen kann. Das wurde in der Entscheidung unverständlicherweise ausgeschlossen, weil man nicht bereit war, auch nur irgendwelche konkreten Behandlungsschritte unter den Begriff der lebenserhaltenden Maßnahmen zu subsumieren. Dem BGH ging es ersichtlich darum, die gesamte Patientenverfügung als verbindliche Willensäußerung aus der Welt zu schaffen.
Warum der Begriff lebensverlängernde Maßnahme in Patientenverfügungen nach juristischen Methoden nicht interpretations- und anwendungsfähig sein soll, erscheint als willkürliche Annahme des BGHs. Jedenfalls wird nicht hinreichend begründet, warum die Äußerung, jemand wünsche „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“, „für sich genommen keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung“ enthalten soll (Rn. 55).

Wenn man sich den Fortgang des Streites vorstellt, erscheint die Entscheidung des XII. Zivilsenates deshalb nicht nur lebensfern, sondern auch juristisch fragwürdig. Dem Gesetzgeber ist es regelmäßig erlaubt, eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen in seinen Gesetzestexten zu verwenden, weil er natürlich nicht alle konkreten Fallkonstellationen voraussehen kann. Dem Verfasser einer Patientenverfügung hingegen wird abverlangt, ohne solche Verallgemeinerungen auszukommen. Das ist nicht nur ein unverständliches Verlangen, sondern der dritten Gewalt auch nicht erlaubt.

Bewertung

Der XII. Zivilsenat behindert mit seiner Entscheidung nicht nur die Anwendung von Patientenverfügungen, sondern auch von Selbstbestimmung und Rechtssicherheit beim Sterben im weiteren Sinne. Er stellt sich gegen den Siegeszug der Patientenverfügungen und verbreitet Rechtsunsicherheit mit seinen überzogenen Forderungen an deren Bestimmtheit.

Die Entscheidung ist  nicht einfach nur eine falsche Entscheidung, weil der BGH Zweifel konstruiert, die abwegig erscheinen. Warum soll nicht klar sein, dass die künstliche Ernährung per Magensonde eine lebensverlängernde Maßnahme ist? Was der BGH hier an Bestimmtheit fordert, ist eine juristische Kasuistik, die für Niemanden leistbar ist und letztlich immer wieder zu Regelungslücken in Patientenverfügungen führen wird, die in der Folge unwirksam würden. Damit konterkariert die Justiz nicht nur den Willen des Einzelnen, sondern auch den des Gesetzgebers. Dieser hat bewusst keine formellen Anforderungen an eine Patientenverfügung gestellt. Insoweit kann von den Gerichten auch nur das in der Rechtsordnung sonst übliche Maß an Konkretheit verlangt werden.

Der vorliegende Beschluss ist mit seinen Forderungen nach kasuistischer Konkretheit der in einer Patientenverfügung zu treffenden Festlegungen in seiner Bedeutung für die Praxis des Umgangs mit Patientenverfügungen kaum zu  überschätzen. Mit seiner Entscheidung belebt der BGH einen alten Streit im Gewand des Bestimmtheitsarguments wieder neu. Lange Zeit wurde bestritten, dass der Abbruch einer künstlichen Ernährung eine zulässige Form der passiven Sterbehilfe sei. Auch wenn man nach der aktuellen Entscheidung weiterhin ausdrücklich verfügen kann, dass man in bestimmten Fällen keine künstliche Ernährung will, ist der generell möglichen Wirkung dieser Entscheidung noch nicht abgeholfen. Das hier verwendete Bestimmtheitsargument kann auch in vielen anderen Konstellationen instrumentalisiert werden. Immer dann, wenn nahe Angehörige über den Vollzug einer Patientenverfügung in Streit geraten oder sich mit Ärzten über den Vollzug nicht einigen können, liegt die Entscheidung bei den Gerichten. Die können sich künftig leicht der Streitentscheidung verweigern, indem sie erklären, die Patientenverfügung sei für den vorliegenden Fall nicht hinreichend konkret und daher unwirksam. Zwar wird man künstliche Beatmung, künstliche Ernährung, Defibrilation, etc. künftig als lebensbeendende Maßnahmen in einer Verfügung aufzählen können – aber sind das alle erdenklichen Maßnahmen der Lebensverlängerung? Und wie könnte man all die Krankheiten bzw. Behandlungssituationen bestimmt genug benennen, in denen diese Maßnahmen nicht mehr angewandt werden sollen? Das ist praktisch unmöglich.

Die Forderung nach Konkretheit und Bestimmtheit könnte zu einer Allzweckwaffe gegen den Vollzug von Patientenverfügungen werden, was entmutigend ist. Im konkreten Fall lässt sich nur hoffen, dass das Landgericht eine Entscheidung trifft, die das Martyrium der Betroffenen beendet.

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