Grundrechte und NPD-Verbotsverfahren - das Bundesverfassungsgericht unter Entscheidungsdruck
Zweimal hat das Bundesverfassungsgericht bisher Parteiverbote erlassen: 1952 gegen die SRP und 1956 gegen die KPD. Die damaligen Begründungen können für die jetzt anstehende Entscheidung zum NPD-Verbotsantrag nicht mehr überzeugen. Rosemarie Will beschreibt, welche grund- und menschenrechtlichen Anforderungen ein Parteiverbot heute erfüllen muss.
Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Artikel aus der Zeitschrift vorgänge Nr. 216, die im Dezember 2016 erschienen ist. Die Ausgabe widmet sich dem Schwerpunkt Rechtspopulismus / Rechtsextremismus. Das gesamte Heft können Sie hier ansehen bzw. hier bestellen.
Am 17. Januar 2017 will das Bundesverfassungsgericht ein Urteil im NPD-Verbotsverfahren sprechen. Das fällt ihm offensichtlich schwer. Die mündliche Verhandlung liegt bereits mehr als ein halbes Jahr zurück. Auch das absehbare Ausscheiden des Richters Landau im Sommer dieses Jahrs, der noch in der mündlichen Verhandlung Anfang März 2016 teilnahm, hat nicht dazu geführt, dass vor seinem Ausscheiden eine Entscheidung getroffen wurde. Jetzt können nur noch 7 Richter über das Verbot abstimmen, was die Entscheidung erschwert, denn § 15 Absatz 4 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) verlangt für ein Parteiverbot eine qualifizierte 2/3-Mehrheit, also 6 Richter, die für das Verbot stimmen.
Damit nicht genug, hinzu kommt der heftige politische Streit über die Sinnhaftigkeit eines NPD-Verbotes, dem der tiefer gehende Streit über die grundsätzliche Zulässigkeit von Parteiverboten in demokratischen Systemen zugrunde liegt. [1] Zwar ist es die Aufgabe des BVerfG, grundlegende gesellschaftliche Konflikte zu entscheiden, aber als Gericht kann es dies nur mit Hilfe von Recht und Gesetz tun, d. h. es braucht zur Entscheidung verfassungsrechtliche Maßstäbe in Form von grundgesetzlichen Normen, die es zur Entscheidung des Konfliktes anwenden kann. Findet es diese in den 146 Artikeln des Grundgesetzes nicht vor, muss es die anzuwendenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe im Wege der Konkretisierung und Interpretation selber entwickeln. Auf diese Weise hat das BVerfG in den über 60 Jahren seiner Existenz den 146 Artikeln des Grundgesetzes bis heute 140 Entscheidungsbände mit geltenden Verfassungsnormen hinzugefügt.
Im gegenwärtigen politischen Streit über die Sinnhaftigkeit eines NPD-Verbotsverfahrens hat nur eines der drei möglichen Verfassungsorgane – der Bundesrat – den Antrag zum NPD-Verbot in Karlsruhe gestellt. Die nach Art. 21 III Grundgesetz (GG) i.V.m. § 43 BVerfGG ebenfalls Antragsberechtigten – der Bundestag und die Bundesregierung – haben diesmal bekanntlich weder eigene Verbotsanträge gestellt, noch sich dem Antrag des Bundesrates angeschlossen. Sowohl die Bundesregierung als auch der Bundestag hatten dabei nicht nur das Scheitern des Verbotsantrages von 2003 vor Augen, sondern es ging immer auch um die politische Notwendigkeit eines NPD-Verbotes und seiner grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit.
Das von 2001 bis 2003 gegen die NPD noch von Bundestag und Bundesregierung gemeinsam mit dem Bundesrat angestrebte Verbot war aus Zulässigkeitsgründen erfolglos (BVerfGE 107, 339 ff.). Es war bereits im Vorverfahren nach § 45 BVerfGG an der Problematik der V-Leute gescheitert, bevor es überhaupt zu einer mündlichen Verhandlung kam. Nach Einreichung des Verbotsantrages war bekannt geworden, wie stark die NPD-Führungsebene mit V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt war. Die Hürde des Vorverfahrens wurde diesmal genommen.
Der Versuch des Anwalts der NPD, Peter Richter, noch in der mündlichen Verhandlung die teilgeschwärzten Nachweise des Bundesrates für die Abschaltung der V-Leute in den Parteigremien als wertlos zu bezeichnen, wurde vom Gericht zurückgewiesen.
Zu Beginn des zweiten Verhandlungstages hatte das Gericht festgestellt, dass kein Grund besteht, das Verfahren zu stoppen, etwa wegen des Streits um die V-Leute. Es gebe keine Verfahrenshindernisse, so der Präsident Andreas Voßkuhle in der mündlichen Verhandlung. Nachdem diesmal das Vorverfahren erfolgreich durchlaufen und die mündliche Verhandlung durchgeführt werden konnten, muss jetzt geurteilt werden. Es fragt sich nun, nach welchen Kriterien eine Partei als verfassungswidrig beurteilt werden kann und welches die zeitgemäßen verfassungsrechtlichen Maßstäbe eines Parteiverbotes in einer demokratischen Rechtsordnung sind. Dabei muss das Gericht auch die vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dazu ergangene Rechtsprechung berücksichtigen. Andreas Voßkuhle nannte das Verbot einer Partei in der mündlichen Verhandlung ein „ebenso scharfes wie zweischneidiges Schwert“, das mit Bedacht geführt werden müsse. Das Urteil, auf das die Republik aber auch die internationale Öffentlichkeit derzeit wartet, wird daran gemessen werden.
Verfassungsrechtliche Vorgaben für ein Parteiverbot im Grundgesetz und ihre mögliche Anwendung im NPD-Verbotsverfahren
Nach Artikel 21 Abs. 2 Satz 1 GG sind Parteien verfassungswidrig, „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“. Dabei hat nach Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG das BVerfG ein Entscheidungsmonopol über die Verfassungswidrigkeit einer Partei, welches administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei ausschließt. Die Parteien sind damit weitergehend geschützt als „normale Vereine“, die vom zuständigen Innenminister des Bundes und der Länder nach Artikel 9 Abs. 2 GG verboten werden können. Dieses Parteienprivileg wird als Teil des Konzeptes der streitbaren Demokratie verstanden, mit dem verfassungsrechtliche Schlussfolgerungen aus dem Niedergang der Weimarer Republik gezogen werden sollten. Dazu gehörte, dass gegenüber „totalitären“ Parteien die neutrale Haltung des Staates aufgehoben wurde. Man könne „keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit“ gewähren. Die Weimarer Verfassung habe „auf eine Lösung verzichtet, ihre politische Indifferenz beibehalten und ist deshalb der aggressivsten dieser ‚totalitären‘ Parteien erlegen“ heißt es im KPD-Verbotsurteil (BVerfGE 5, 85 [138]). Das verkannte und verkürzte nicht nur in gefährlicher Weise den Blick auf die Ursachen für die Machtergreifung der NSDAP, sondern es rechtfertigt auch bis heute einen illiberalen Umgang mit den Feinden der Demokratie. Dabei war bereits in der frühen Bundesrepublik klar: „Die konsequent wertbezogene Haltung des Bonner Grundgesetzes ist im westeuropäischen Raum eine Novität, eine Ausnahme – die wertneutrale Haltung, das Bekenntnis zur ‚offenen‘ Demokratie die Regel.“[2] Das nach Art. 21 Abs. 2 GG mögliche Parteienverbot wird in § 13 Nr. 2 BVerfGG und den §§ 43 ff. BVerfGG weiter ausgestaltet. Nach § 46 III 1 BVerfGG sind mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit die Auflösung und das Verbot, eine Ersatzorganisation zu schaffen, zu verbinden. Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 46 III 2 BVerfGG ferner die Einziehung des Vermögens der verbotenen Partei zu gemeinnützigen Zwecken aussprechen. § 46 Abs. 1 Nr. 5 Bundeswahlgesetz regelt zudem den Mandatsverlust für die Abgeordneten der verfassungswidrigen Partei.
An dieser Rechtslage ist nur unbestritten, dass das BVerfG über den Verbotsantrag entscheidet. Alles andere: die tatbestandlichen Voraussetzungen des Parteiverbotes, das durch das Verbot geschützte Rechtsgut und die Rechtsfolgen des Verbotes waren von Anfang an umstritten und stehen in der nun anstehenden Entscheidung über ein NPD-Verbot erneut zur Disposition des Gerichtes. Insoweit kann das Gericht auf diesen drei Ebenen – den tatbestandlichen Voraussetzungen, dem geschützten Rechtsgut und den Rechtsfolgen – die notwendigen zeitgemäßen Konkretisierungen vornehmen. Ob es den Mut dazu hat, wird man sehen.
Bisher hat das BVerfG erst zwei Parteiverbote ausgesprochen: gegen die SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP (am 23. Oktober 1952), und gegen die KPD (am 17. August 1956). Die wichtigsten Ausformungen von verfassungsrechtlichen Kriterien, die bis heute für ein Parteiverbot gelten, hat das BVerfG im KPD-Verbotsurteil vorgenommen. Dabei musste sich das Gericht der Frage stellen, ob die Regelung des Parteiverbotes in Art. 21 Abs. 2 GG nicht in einem unlösbaren Widerspruch zu der vom Grundgesetz garantierten Meinungsäußerungsfreiheit steht und deshalb verfassungswidriges Verfassungsrecht ist. Wer Parteien wegen ihrer Ziele verbietet, verbietet immer auch Meinungsäußerungen wegen ihrer Inhalte. Eine solche Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit ist aber nach Art.5 Abs. 2 GG ein Sondergesetz und von Verfassungswegen verboten. Das Gericht fragte sich deshalb, ob
„eine freiheitlich-demokratische Verfassung, die zu ihrem Schutz einen ihrer eigenen Grundwerte, die politische Meinungsfreiheit, in so starkem Maße beschränkt, nicht damit in einen so unerträglichen Selbstwiderspruch verfällt, dass die beschränkende Bestimmung selbst als ‚verfassungswidrig‘ angesehen werden müsste, d.h. als einem Grundprinzip der Verfassung widersprechend, an dem auch die einzelnen positiven Verfassungsbestimmungen gemessen werden können und müssen.“ (BVerfGE 5, 137)
Eine überzeugende Antwort hat das Gericht darauf nicht gegeben, vielmehr einfach festgestellt: „Das Bundesverfassungsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß Art. 21 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich unangreifbar und damit für das Bundesverfassungsgericht bindend ist.“ (ebd.) Letztlich kann ein ausschließlich auf die Ziele und Programmatik einer Partei abstellendes Verbot diesen Widerspruch nicht lösen. Deshalb war es nicht überraschend, dass in der mündlichen Verhandlung im März Präsident Andreas Voßkuhle die Frage stellte, ob es nicht um mehr gehen müsse als nur um antidemokratische Inhalte. Nachdem die Vertreter des Bundesrates ausführlich die Wesensverwandtschaft der NPD mit der NSDAP aufgezeigt hatten, vermerkten die Richter mehrfach, dass ein radikales Programm oder extremistische Überzeugungen, Ziele und Absichten allein nicht ausreichen für ein Parteiverbot. Der Berichterstatter Peter Müller warf ein, dass es für ein Verbot „schon ziemlich dick kommen muss“. Andererseits müsse eine verfassungswidrige Partei auch nicht kurz vor der Machtübernahme stehen, um verboten werden zu können.
Was also können sinnvolle Kriterien für ein Parteiverbot sein, wenn es denn solche gibt? Seit dem Verbotsurteil zur SRP ist eine Partei nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung (vgl. BVerfGE 2, 1 [12 f.]) nicht anerkennt; es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen. Das scheint nicht einfach den Inhalt von Meinungsäußerungen zum Verbotskriterium zu machen. Schaut man sich jedoch die Anwendung dieses Kriteriums im KPD-Verbotsurteil an, wird schnell klar, dass es weit im Vorfeld strafrechtlicher Normen angesiedelt ist, dass es einen strikten Handlungsbezug und einen Bezug zum gewaltsamen Handeln nicht herstellt. Es verbleibt vielmehr im Bereich des ideologisch Gewollten.
Es ist aber möglich, angesichts des Textes von Art. 21 Abs. 2 GG, dies auch anders zu interpretieren. Dazu müsste vor allem die Frage nach der tatsächlichen politischen Bedeutung der Partei gestellt werden. Nach dem Grundgesetz darf eine Partei nur verboten werden, wenn sie „darauf ausgeht“, die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) „zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. Von diesem Text ausgehend wäre es möglich, eine tatsächliche Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch illegales Handeln zum Kriterium eines Parteiverbotes zu machen. Das „darauf ausgehen“ müsste dafür jedoch quantifiziert werden. Dann hätte allerdings die NPD gute Karten, einem Verbot zu entgehen, nachdem sie auch in Mecklenburg-Vorpommern im Landtag nicht mehr vertreten ist. Die Gefährdung der fdGO müsste gleichwohl für die Rechtfertigung des Parteiverbots konkret nachgewiesen werden, damit der Verbotsantrag nicht nur Symbolpolitik ist. Es müsste nachgewiesen werden, dass radikales Gedankengut in konkrete Gewalttaten bei den Parteimitgliedern mündet.
Die Verbotsurteile gegen die SRP und vor allem die KPD waren einseitig auf den Inhalt von Politik bezogen. Auf messbare Gefahren kam es nicht an. Eine moderne, grundrechtsschonende Interpretation, die insbesondere die Meinungsäußerungsfreiheit intakt lässt, muss die zweite Verbotsalternative stark machen. Sie muss sich gegen illegales, gewalttätiges Verhalten der Parteimitglieder und ihrer Anhänger richten. Dann fragt es sich aber, wozu man Parteiverbote eigentlich braucht, denn illegales gewalttätiges Verhalten ist immer auch strafrechtlich relevantes Verhalten. Wenn aber der Staat die Fähigkeit zur Verfolgung und Ahndung politisch motivierter Straftaten verliert, dürfte auch ein Parteiverbot nichts mehr auszurichten vermögen.
Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention
Über Karlsruhe ist im Falle eines NPD-Verbotes nicht einfach nur, wie so oft, der blaue Himmel, sondern der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) in Straßburg. Das BVerfG rechnet damit, dass im Falle eines Verbotes die NPD in Straßburg Individualbeschwerde gegen das Verbot erhebt. Schon in der veröffentlichten Gliederung für die mündliche Verhandlung ist dies deutlich geworden. Unter Punkt 1d der Begründetheitsprüfung sah die Gliederung vor, die Anforderungen der EMRK an ein Parteiverbot zu erörtern.
Dabei wurde deutlich, dass das Parteiverbotskonzept des KPD-Verbotsurteils sowohl gegen die Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) als auch gegen Artikel 10 (Meinungsfreiheit) der EMRK verstoßen würde. In die Ausübung dieser Rechte darf nur eingegriffen werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Parteiverbote, sind demnach als Eingriffe in diese Rechte vor allem nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip überprüfbar – was bislang im deutschen Verbotskonzept fehlt. So hat der EGMR bei seiner Rechtfertigung des türkischen Parteiverbots gegen die Wohlfahrtspartei, der Vor-Vorgängerin der jetzigen türkischen Regierungspartei AKP, im Wahlerfolg der Wohlfahrtspartei die verbotsbegründende Gefahr gesehen. Konsequenz wäre, dass kleinere und unbedeutende antidemokratische Parteien nicht Gegenstand eines Parteiverbots sein können – wie undemokratisch ihre erklärten politischen Ziele und Methoden auch sein mögen.
Ein Blick in die von der sogenannten Venedig-Kommission der „Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht“ zusammengefassten Parteiverbotsgrundsätze bestätigt dies. In den im Auftrag des Europarats erstellten Guidelines on Prohibition and Dissolution of Political Parties and Analogous Measures, die nach einer Befragung der 44 Mitgliedsstaaten am 10./11.12.1999 als Empfehlung erlassen wurden, heißt es:
„Prohibition or enforced dissolutions of political parties may only be justified in the case of parties which advocate the use of violence or use violence as a political means to overthrow the democratic constitutional order, thereby undermining the rights and freedoms guaranteed by the constitution. The fact alone that a party advocates a peaceful change of the Constitution should not be sufficient for its prohibition or dissolution. A party that aims at a peaceful change of the constitutional order through lawful means cannot be prohibited or dissolved on the basis of freedom of opinion. Merely challenging the established order on itself is not considered as a punishable offence in a liberal and democratic state. Any democratic society has other mechanisms to protect democracy and fundamental freedoms through such instruments as free election and in some countries through referendums when attitudes to any proposal to change the constitutional order in the country can be expressed.“[3]
Gemessen an diesen Empfehlungen besteht für die bundesdeutsche Verbotskonzeption Erneuerungsbedarf. Das betrifft sowohl das mit dem Verbot zu schützende Rechtsgut (die fdGO) als auch die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verbotes. Beides müsste deutlich enger gefasst werden, um dem empfohlenen europäischen Standard zu entsprechen. Das mit Parteiverbot zu schützende Rechtsgut – die fdGO – müsste im Sinne von § 81 StGB auf den dort verwendeten Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung begrenzt werden. Die relevanten Beeinträchtigungen der fdGO wären dann allein das ungehinderte rechtmäßige Funktionieren der Staatsorgane und der Schutz gegnerischer Parteien und Gruppierungen in ihrer Grundrechtsausübung. Daraus folgt, dass auch ein „Mehr“ gegenüber dem gefordert werden muss, was bislang als „aggressiv-kämpferische Haltung“ (falls man diese nicht gleich mit Gewaltbereitschaft gleichsetzt) als Voraussetzung für ein mögliches Verbot gefordert wurde.
Dass das BVerfG die konventionsrechtliche Dimension eines NPD-Verbots und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR im Blick hatte, wurde an vielen Stellen der mündlichen Verhandlung deutlich. Dabei drängte sich der Eindruck auf, dass das BVerfG eine Angleichung seines Prüfungsprogramms für ein Parteiverbot an das des EGMR anstrebt. Dies wurde vor allen im wiederholten Erörtern von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten deutlich, die in den bisherigen Parteiverbotsverfahren keine Rolle spielten, wohl aber in den Parteiverbotsverfahren des EGMR eine zentrale Rolle einnehmen. Das gilt sowohl für die festzustellenden Voraussetzungen als auch für die anzuordnenden Rechtsfolgen eines Parteiverbots. Vor allem die acht Entscheidungen des EGMR zur Verbotspraxis des Europarat-Mitglieds Türkische Republik machen dies deutlich.
Die Verbotskonzeption der Türkei einschließlich seiner Militärregime war dabei deutlich am deutschen Konzept der wehrhaften Demokratie orientiert. In diesem Konzept gingen Militärputsche mit Parteiverboten durch das Verfassungsgericht Hand in Hand. Das hat bekanntlich wiederkehrende bürgerkriegsähnliche Verhältnisse in der Türkei nicht verhindert, sondern befördert. Dass angesichts dessen der EGMR gleichwohl die türkischen Parteiverbote passieren ließ, liegt vor allem daran, dass ein Parteiverbot in der Türkei weniger weit reichende Folgen hat als das Parteiverbot nach dem Grundgesetz in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der Türkei ist die Auflösung einer politischen Partei in der Regel nur für die Mitglieder der Parteiführung mit einem befristeten Betätigungsverbot und dem Verlust des Abgeordnetenmandats verbunden. Die anderen Abgeordneten der aufgelösten Partei werden nach dem Verbot unabhängige Abgeordnete und können sich zu einer neuen Fraktion zusammenschließen, welche zum Kern einer neuen Partei werden kann. Der Eingriff in die Parteienfreiheit, als Grundlage des politischen Pluralismus, fällt damit weit weniger intensiv aus. Während die Gründung einer Nachfolgepartei in der Bundesrepublik Deutschland Straftatbestände verwirklicht und diese von der Wahlteilnahme ausgeschlossen ist, sind Nachfolgeorganisationen in der Türkei (vermittelt über den Schutz der Parlamentsabgeordneten) legal und geschützt. Angesichts dessen stellte ein Doktorand des heutigen BVerfG-Präsidenten Andreas Voßkuhle bereits 2003 mit Blick auf das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren fest:
„Ein deutsches Verbot der NPD durch das Bundesverfassungsgericht würde einer europäischen Überprüfung nach den gegebenen Umständen wohl ebenfalls nicht standhalten. Denn auch wenn die NPD zweifelsohne demokratiewidrige Ziele verfolgt und der Nachweis eines von der Partei ausgehenden Gewaltpotential gelingen sollte, stellt die Partei keine konkrete Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. In einer gefestigten Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland ist eine Partei von der Größe der NPD nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu tolerieren. Ein Verbot der NPD gemäß Art. 21 Abs. 2 GG wäre im Rahmen einer europäischen Überprüfung nach Artikel 11 Abs. 2 EMRK als unverhältnismäßig zu werten. Die Bundesrepublik Deutschland würde wegen eines Konventionsverstoßes gerügt werden und stünde zudem vor dem Problem, die außergerichtlichen Folgen eines solchen Verfahrens zu meistern. Denn die NPD würde durch das Verfahren in Straßburg Zugang zu einem breiten öffentlichen Forum gewinnen.“[4]
Bevor Freunde der Bürger- und Menschenrechte ein solches Ergebnis beklagen, sollten sie zweierlei bedenken: 1. Jedes politische Lager kann von Verboten betroffen sein. 2. Parteiverbote nach dem Muster des KPD-Verbots haben erhebliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit zur Folge.
PROF. DR. ROSEMARIE WILL Jahrgang 1949, hatte bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie derzeit für bioethische Fragen zuständig ist. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.
Anmerkungen
1 Vgl. Verbot der NPD oder mit Nationaldemokraten leben? Die Positionen, hrsg. von Claus Leggewie und Horst Meier, 2002; Eckart Klein, Ein neues NPD-Verbotsverfahren? Rechtsprobleme beim Verbot politischer Parteien (Veröffentlichungen der Potsdamer Juristischen Gesellschaft), 2012.
2 Erich E. Brunner, Die Problematik der verfassungsrechtlichen Behandlung extremistischer Parteien in den westeuropäischen Verfassungsstaaten, 1965, S. 192.
3 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission):Guidelines on Prohibition and Dissolution of Political Parties and Analogous Measures. Adopted by the Venice Commission at its 41st plenary session (Venice, 10/11 December, 1999), CDL-INF (2000) 1, abrufbar unter http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-INF(2000)001-e [1.12.2016].
4 Vgl. Oliver Klein, Parteiverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Zeitschrift für Rechtspolitik 34. Jahrg., Heft 9 (September 2001), S. 397-402 (402).