REZENSIONEN: Stay save oder stay free?
Edward Snowden: Permanent Record. Meine Geschichte. S. Fischer Verlag, 5. Aufl. 2019, 432 S. Geb., 22 €,
„Mein Name ist Edward Joseph Snowden. Früher stand ich im Dienst der Regierung, heute stehe ich im Dienst der Öffentlichkeit. Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das nicht dasselbe ist …“ – so beginnt die Autobiographie des wohl bekanntesten Whistleblowers des 21. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte eines Nerds, der als Jugendlicher von der Internet-Welt fasziniert war, für die CIA und die NSA gearbeitet hat – und am Ende alle US-Geheimdienste und andere auf seinen Fersen hatte. Denn er hat das historisch einzigartige weltweite Überwachungssystem aller in – und ausländischer Bürger öffentlich gemacht. Um einer Verurteilung wegen Spionage zu entgehen, floh er über Hongkong nach Moskau, wo er seitdem im Asyl lebt, obgleich er ein anderes Asylland bevorzugt hätte. Kaum ein Staat wollte ihn haben, zu sehr wurden von Regierungschefs Repressalien der US-Regierung als Konsequenz gefürchtet.
Das Buch ist der Versuch zu zeigen, dass Snowden ein von seinem Gewissen Getriebener war, der in seinem Weg an die Öffentlichkeit so umsichtig wie möglich vorgegangen ist, sich auf Kontakte zu Qualitätsmedien beschränkte, um Schaden für Dritte – außer für die betroffenen Geheimdienste – zu vermeiden. Er war Top-Insider beim Übergang von der gezielten Überwachung einzelner Personen zur Massenüberwachung ganzer Bevölkerungen durch die US-Geheimdienste. Unter seiner Beteiligung wurden die technischen Voraussetzungen geschaffen, „weltweit die gesamte digitale Kommunikation zu sammeln, sie für die Ewigkeit zu speichern und beliebig zu durchsuchen.“ (S. 9)
Snowden war immer bemüht, bei allem Wirbel um seine Person den Fokus auf das eigentliche Ziel seiner Veröffentlichungen zu richten. Die Weltöffentlichkeit sollte sensibilisiert werden für die Gefährdungen der Privatsphäre durch Massenüberwachung. Dass sich Snowden dann doch entschlossen hat, ein Buch zu schreiben, ist seiner Einsicht zu verdanken, dass sein Anliegen ein Massenpublikum erreicht, wenn es mit seiner persönlichen Geschichte verbunden ist. Er tat gut daran, sich neun Monate lang einem professionellen Schreiber anzuvertrauen, der in der Danksagung zum Buch auch genannt wird.
Herausgekommen ist ein lesenswertes 428-Seiten-Opus, das uns mit Cliffhangern, die wir aus Filmserien kennen, Appetit aufs ständige Weiterlesen macht. Dieser Programmierer ohne Studienabschluss schafft es, mit hoch entwickelter Verstellungskunst und überschießendem Selbstwertgefühl ins Zentrum der Überwachungs-Programmentwicklung von CIA und NSA zu gelangen. Dass dabei kein lineares Heldenepos geschildert wird, liegt an Snowdens Souveränität, bei hohem Unterhaltungswert auch noch recht peinliche Episoden seiner Vita mitzuteilen.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York kommt ganz der Patriot in ihm zur Geltung: Er will als Elitesoldat Terroristen jagen; daraus wird nichts wegen einer schweren Verletzung, die er sich im Militärdienst zuzieht. Stattdessen beginnt seiner Karriere als Cyberspion mit höchster Geheimhaltungsstufe.
Seitdem werden Einfallsreichtum und unermüdliche Ausdauer auch nachts in menschenleeren Gebäuden, gepaart mit äußerster Vorsicht, die entscheidenden Voraussetzungen für das akribische Sammeln all der Dokumente, die im Frühjahr 2013 Schlagzeilen in aller Welt machten. „Auf der Hierarchieleiter stand ich nahezu auf der untersten Stufe, aber was den Zugang anging, war ich ganz oben im Himmel.“ (S. 347) Seine automatisierte Readboard-Plattform für Dokumente, die ihm sammelnswert erschienen, „spähte nicht nur in das NSA Netzwerk NSAnet, sondern darüber hinaus auch in die Netzwerke von CIA und FBI sowie in das Joint Worldwide Intelligence Communicationssystem (JWICS), das streng geheime Intranet des Verteidigungsministeriums.“ (S. 280).
Snowden hat teuer bezahlt: mit epileptischen Anfällen wohl als Folge von Dauerstress, dem zeitweisen Ruin seiner Liebesbeziehung und der Aussicht, sein Heimatland nicht wieder betreten zu dürfen, jedenfalls solange er nicht aufgrund des Spionage Acts von 1917 (!) zu langjähriger Haftstrafe oder gar der Todesstrafe verurteilt werden wollte.
Die Arbeit an später bekannt gewordenen Überwachungsprogrammen wie XKeyscore oder Prism haben Snowden nach und nach begreifen lassen, welche eigentlichen Ziele die US-Geheimdienste verfolgten: die weltweite Überwachung des gesamten digitalen Kommunikationsverkehrs.
Snowdens Autobiographie wird ein Sachbuch, wenn er in Details geht. Das macht die Lesbarkeit schwerer, gibt aber unvergleichliche Einblicke in die Entwicklung und Funktionsweise der staatlichen Überwachungsprogramme sowie die Strukturen der amerikanischen Geheimdienste.
Snowden meinte nach seinen Enthüllungen, es wäre am Schlimmsten für ihn, wenn diese folgenlos blieben. Der Titel seines Buches „Permanent Record“ bedeutet, dass wir in unserer digitalen Kommunikation dauerüberwacht und gespeichert werden. Dass Whatsapp beispielsweise auf der individuellen Ebene durch End-zu-End-Verschlüsselung sicherer geworden ist, dürfte eine Konsequenz der Snowden-Enthüllungen sein. Und dass größere Daten-Souveränität durch eine europäische Datencloud-Lösung in der politischen Diskussion gefordert wird, ist ebenso Ergebnis der Enthüllungen Snowdens wie der Hinweis auf die unbedingt notwendige weitere Implementierung der europäischen Datenschutzgrundverordnung, von der Snowden viel hält.
Zusätzlich hat sich seit Snowden die Diskussion um die Fragestellung erweitert, welche Rolle eigentlich neben der staatlichen Überwachung die Datenkonzerne Facebook, Google & Co in ihren Datenzentren bei der privaten Überwachung spielen. Sie arbeiten mit vergleichbaren Algorithmen wie die staatlichen Institutionen. Auch ohne Whistleblower ist die Öffentlichkeit durch Datenleaks auf missbräuchliche Nutzung bei Millionen von Daten dort aufmerksam geworden. Bekannt wurde zudem der staatliche Zugriff auf Daten der Konzerne – mit oder auch ohne Richtererlaubnis.
Für Snowden sind die Gefahren der digitalen Überwachung durch veränderte politische Machtverhältnisse seit seinen Enthüllungen gewachsen. Es ist Trump, der über die Leitlinien der Überwachung durch Geheimdienste entscheidet. Bei der Zunahme autokratischer Regierungssysteme ist davon auszugehen, dass deren technologisches Know-How nicht minder entwickelt ist als das des US- oder britischen Geheimdienstes. Wir wissen, dass Russland seit mehr als einem Jahrzehnt seine Bürger durch Programme des russischen Geheimdienstes FSB überwacht. Chinas „Social Credit System“ erscheint als eine totale Dystopie, in der Daten der Bürger aus unterschiedlichsten Lebensbereichen zu Aggregaten verbunden werden, die letztlich durch Sanktionen auch über Lebenswege und – möglichkeiten entscheiden wie z.B den Zugang zu Bildung, Krediten oder auch Reiseerlaubnissen.
Dennoch, so resümmiert Snowden die Wirkung seiner Enthüllungen: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs debattierten freiheitlich demokratische Regierungen auf der ganzen Welt wieder über die Privatsphäre als natürliches, angeborenes Recht des Menschen, ob Mann, Frau oder Kind.“ In einem 2009 per Video zwischen Berlin und Moskau geführten Interview meinte Snowden am Ende, es sei nicht genug zu sagen „stay save“, viel wichtiger sei eine Haltung, die fordert „stay free“. Ihm persönlich wäre das am meisten zu wünschen. Inzwischen hat ein amerikanisches Gericht auf Betreiben der US-Regierung entschieden, dass Snowden über die Erlöse aus seinem Buch nicht verfügen darf.
Werner Koep-Kerstin