Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

Die Freiheit der Suizi­d-Hilfe - wie handeln?

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 93-100

Das Bundesverfassungsgericht hat über die Zulässigkeit von organisierter, professioneller Suizidhilfe entschieden. Damit ist die Frage des Ob geklärt. Wie eine solche Hilfe idealerweise ablaufen sollte, um die Suizidwilligen nicht unnötigen weiteren Belastungen auszusetzen und zugleich die Gefahr eines Missbrauchs auszuschließen, ist damit noch nicht gesagt. Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach. Der Autor, selbst seit vielen Jahren in der Suizidbegleitung tätig, formuliert auf der Grundlage seiner Erfahrungen einige Mindestanforderungen zum Ablauf organisierter Suizid(bei)hilfe.

I. Einleitung

Am 26.2.2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Verbot der „gewerblichen“, d.h. der wiederholten Suizidhilfe (§ 217 StGB) für nichtig erklärt und in vielerlei Hinsicht Eckpunkte für eine zukünftige sowohl in Vereinen organisierte als auch ärztliche Suizidhilfe aufgezeigt.[1] In seinem Urteil hat das BVerfG auch auf ein abschließendes Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) Leipzig[2] vom 2.7.2019 Bezug genommen; darin sind die Kriterien für den Wegfall der Garantenpflicht (eines Angehörigen oder Arztes) bzw. der allgemeinen Rettungspflicht beim Hinzukommen zu oder einer Anwesenheit bei einem Suizid aufgeführt: Maßgeblich ist die Freiverantwortlichkeit mit den Teilkriterien der Einsichts- und Urteilsfähigkeit, der Mängelfreiheit und der inneren Festigkeit des Suizid-Entschlusses. Zugleich hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber Durchführungsregularien schaffen kann. Inzwischen werden bereits erste Entwürfe für eine gesetzliche Regelung propagiert, die weitreichende formale und organisatorische Vorgaben enthalten.[3]

Gegenwärtig befinden wir uns in einer Zwischenphase, in der weder die Befürworter noch die Kritiker der Suizid-Hilfe definitive Vorstellungen haben, in welcher Form zukünftig in Deutschland eine den Vorgaben des BVerfG entsprechende Suizid-Hilfe durchgeführt werden sollte. Menschen drängen – teilweise nach mehrjähriger Wartezeit wegen des § 217 StGB, und weil sie (zurecht) nicht „in die Schweiz fahren“ wollen – auf die Umsetzung einer Hilfe; Helfer müssen sich gegenwärtig darüber entscheiden, welche Gesichtspunkte beachtet werden müssen und in welcher Form eine Hilfe derzeit rechtskonform durchgeführt werden kann. Nachdem eigene erste Überlegungen skizziert sind,[4] sollen hier einige konkretere Planungen und erste praktische Erfahrungen dargestellt werden, die eine Hilfe für zukünftiges Handeln darstellen können.

II. Konkrete Fallkon­stel­la­ti­onen

In einem ersten Fall einer amyotrophen Lateralsklerose mit inzwischen weitgehender Lähmung des rechten und zügig zunehmender Lähmung auch des linken Armes sowie des Nackens lehnte der betroffene Patient die sich abzeichnende vollständige Pflegeabhängigkeit kategorisch ab. Die von Anfang an behandelnde Neurologin hatte sich entschieden, persönlich Suizid-Hilfe zu leisten und hierfür um Beratung gebeten. Nach den Vorbereitungen wurde der Suizid von ihr und dem Autor in Anwesenheit eines Angehörigen begleitet. Alle verwendeten Utensilien (Trinkgläser mit Medikamentenresten), die Patientenverfügung, eine ausführliche Beurteilung der Freiverantwortlichkeit durch den Autor, eine strikt formulierte Nicht-Rettungs-Verfügung und ein Einnahme- und Versterbens-Protokoll wurden bereit gelegt und wegen des nicht natürlichen Todes die Bereitschaftspolizei informiert. Diese wurde von der Problemstellung überrascht, fand sich jedoch schnell zurecht, nahm die Personalien auf, benachrichtigte die Kriminalpolizei und versiegelte die Wohnung bis zu deren Eintreffen. Inzwischen läuft ein Ermittlungsverfahren unter dem Strafvorwurf der Tötung auf Verlangen mit einem Durchsuchungsbeschluss für den PKW des Sohnes zum Zweck der Beschlagnahme des dort gesichteten Mörsers, mit dem die Medikamente zermörsert sein können.

In einem zweiten Fall bestand ein mehrjähriger – wegen des § 217 StGB abwartender – Kontakt mit dem Autor bei Hochaltrigkeit und strikter Ablehnung eines Übergangs in ein Altenpflegeheim. Bei Zustimmung der Angehörigen und Information des Hausarztes wurde der Suizid – bei im Nebenhaus wartenden Angehörigen wunschgemäß vom Autor allein – begleitet. Wiederum wurden alle Utensilien am Ort belassen und die Patientenverfügung, das drei Wochen zuvor angefertigte Gutachten mit Feststellung der Freiverantwortlichkeit des Autors, die Nicht-Rettungs-Verfügung, das Einnahme- und Versterbensprotokoll und ein erklärendes Anschreiben an die Ermittlungsbehörden bereit gelegt und die Bereitschaftspolizei informiert. Eine wegen der Durchführung ohne Zeugen angefertigte Video-Aufnahme der eigentätigen Einnahme der Medikamente wurde zurückbehalten. Inzwischen läuft ein staatsanwaltliche Todesermittlungssache. Weitere Entscheidungen der Ermittlungsbehörden über eine Einstellung oder eine Veranlassung einer gerichtlichen Überprüfung sind bisher noch nicht bekannt.

III. Die Lehren für die Praxis

Alle unmittelbar und potentiell an einem solchen Verfahren Beteiligten – Sterbewillige, Angehörige, behandelnde Ärzte, Bereitschafts- und Kriminalpolizisten und schließlich Staatsanwälte – haben bisher von dem Urteil des BVerfG eine gewisse Kenntnis, müssen in dem praktischen Verfahren allerdings erst allmählich eine Entscheidungs- und Handlungssicherheit finden.

Unter der derzeitigen Rechtslage sind Suizid und Suizid-Hilfe keine strafbaren Handlungen, jedoch muss die Abgrenzung gegen (a) den Totschlag und (b) die Tötung auf Verlangen zweifelsfrei sein; für ersteres ist – etwas vereinfacht ausgedrückt – die Freiverantwortlichkeit, für letzteres die eigentätige Ausführung der für den Tod letztmaßgeblichen Handlung ausschlaggebend. Für deren Nachweis ist ein Mehr-Augen-/Ohren-Prinzip und eine hinreichend aussagefähige Dokumentation von Bedeutung.

Für die Dokumentation der Freiverantwortlichkeit (a) hat sich der Autor zum Grundsatz genommen, eine ausführliche Befragung zu Krankheitsgeschichte, Biographie und persönlichen Einstellungen und Überzeugungen vorzunehmen, anschließend in Gestalt eines Gutachtens auszuformulieren[5] und dieses Gutachten den Ermittlungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Das Mehr-Augen-/Ohren-Prinzip war im ersten Fall durch die Person der vorbehandelnden Neurologin und den Autor gegeben. Im zweiten Fall waren die Angehörigen und der Hausarzt uneingeschränkt informiert und hatten sich vollständig mit der eigenständigen Entscheidung der Suizidentin einverstanden erklärt, so dass an der zeugenschaftlichen Absicherung der Freiverantwortlichkeit kein Zweifel bestand.

Für das letztmaßgeblich eigentätige Handeln (b) war das Mehr-Augen-/Ohren-Prinzip im ersten Fall durch die Anwesenheit von behandelnder Ärztin, Autor und Angehörigem gegeben. Im zweiten Fall war bei der Durchführung des Suizids keine weitere Person anwesend. Zum einen ist darauf zu rekurrieren, dass die Zuführung der beiden für den Suizid eingesetzten Medikamente gar nicht ohne eigenes Handeln des Suizidenten möglich ist, zum anderen wurde zur Absicherung für den Fall eindringlicherer Ermittlungen ein Video gedreht, vorerst jedoch nicht den übergebenen Unterlagen beigefügt.

Der Grund für ein solches zurückhaltendes Vorgehen liegt darin, dass es im Gegensatz zu anderen Initiativen[6] gegenwärtig nicht im Interesse von Suizidenten, Angehörigen und Suizid-Helfern liegen kann, proaktiv ein aufwendiges Verfahren zu etablieren. Aus Sicht des Autors müssten die zur Verfügung gestellten Unterlagen für den ermittelnden Staatsanwalt ausreichen, um Freiverantwortlichkeit und Eigentätigkeit beurteilen und Fremdverschulden mit hinreichender Sicherheit ausschließen zu können.

IV. Einige kontroverse Aspekte

In der allgemeinen Diskussion wird einerseits der Unterschied zwischen der Tötung auf Verlangen („Aktive Sterbehilfe“) – das in den Niederlanden überwiegend übliche Verfahren – und der Suizid-Hilfe immer wieder missachtet, andererseits ein Horrorszenario eines Dammbruchs von der Suizid-Hilfe in Richtung der Tötung beschworen. Demgegenüber ist erneut zu betonen, dass eine Eigentätigkeit der letztmaßgeblichen Handlung durch den Suizidenten in allen dem Autor bekannt gewordenen Fällen sichergestellt werden konnte. Zweifellos kann und muss man sowohl in ethischer als auch in juristischer Perspektive über die psychologischen Wirkungen des wohlwollenden und damit fördernden Einflusses vorbereitender Gespräche und Handlungen (juristisch unter dem Begriff der Ingerenz) nachdenken. Das unmissverständlich eigentätige letztmaßgebliche Handeln des Suizidenten, bei dem sich der Helfende bei aller mitmenschlichen Zuwendung zugleich auch für den Augenblick zurücknimmt, stellt für den Helfenden eine – in meinen Augen unverzichtbare – Entlastung von unzumutbarer Verantwortung und vor einer Verwässerung der selbstbestimmten Handlungshoheit und Autonomie des Individuums dar. Damit besteht auch nach den sehr viel umfangreicheren Erfahrungen in der Schweiz aus Sicht der Sterbehilfe kein Anlass und kein Bedarf, über die möglichst freie Gestaltung der Suizid-Hilfe hinaus eine Ermöglichung der Tötung auf Verlangen zu fordern, sondern ein ausschließliches Interesse, diesbezüglich an der geltenden Rechtslage festzuhalten.

Von verschiedenen Seiten wurde eine Wartezeit zwischen erstmaliger Äußerung der Absicht und Ausführung für die zu gewährleistende innere Festigkeit des Suizid-Entschlusses gefordert. Aus der Praxis heraus besteht das Bedürfnis, hier eine zu starre Regelung zu vermeiden. Im ersteren Fall wurde die Untersuchung und formale Beurteilung der Freiverantwortlichkeit erst am Morgen vor dem Suizid durchgeführt; aber immerhin waren der behandelnden Neurologin der Krankheitsverlauf seit mehr als 1½ Jahren und die Überlegungen und Willensbestimmungen des Suizidenten seit 9 Monaten bekannt. Im zweiten Fall bestand der Kontakt mit Kommunikation des Suizidhilfe-Begehrens seit fünf Jahren, und die Begutachtung der Freiverantwortlichkeit lag drei Wochen zurück. Eine Wartefrist würde zu einer nicht zu rechtfertigenden Verlängerung des Leidens der suizidwilligen Person führen und, wenn aus zureichenden Gründen Ausnahmen von einer gesetzten Frist gewährt werden müssten, entstünden laufend Diskriminierungen. Die Frage der inneren Festigkeit bzw. Dauerhaftigkeit des Entschlusses sollte also in jedem Fall nach den individuellen Gegebenheiten beantwortet werden.

Kontrovers diskutiert wird die Frage der Begründung eines Suizidhilfe-Begehrens. Schwergradig beeinträchtigende und lebens-limitierende Erkrankungen gelten allgemein als einleuchtend und akzeptabel, kritischer diskutiert werden Hochaltrigkeit und psychische Störungen. Hier ist zum einen darauf aufmerksam zu machen, dass der zunehmende Verlust von Angehörigen, Freunden und damit Kontakten und die Perspektiven abnehmender Kräfte und der Pflegeabhängigkeit in den 80er Lebensjahren eine ganz andere Aktualität haben als in jüngerem oder mittlerem Lebensalter – in dem im Deutschen Bundestag über Gesetze entschieden wird. Bezüglich psychischer Störungen haben die eigenen Untersuchungen gezeigt, dass vorwiegend Menschen mit langjährigen Störungen und häufig mehrjährigen Therapie-Erfahrungen um eine Hilfe nachsuchen, weil sie inzwischen ein sehr nüchternes Urteil über die eigene Beeinträchtigung entwickelt haben.[7] Im Zweifelsfall kann die selbstkritische Einschätzung der weiteren Aussichten im Verhältnis zur krankheitswertigen Beeinflussung der Urteilsbildung auf Seiten des Suizidärs nur schwierig zu beurteilen sein. Dann ist das juristisch vorgegebene Kriterium der Mängelfreiheit nicht uneingeschränkt zu bejahen und die rechtliche Erheblichkeit des Begehrens muss demgegenüber plausibel begründet werden. BGH und BVerfG haben in ihren Entscheidungen jedoch im Gegensatz zu den Kriterien des BVerwG Leipzig[8] unmissverständlich festgestellt, dass allein die Freiverantwortlichkeit und nicht ein Beschwerdeausmaß oder eine Krankheit eine Nicht-Rettung nach einem Suizid rechtfertigen. Vergleichend kann an dieser Stelle auf das Urteil des Schweizer Bundesgerichts vom 3.11.2006 verwiesen werden: „Es ist nicht zu verkennen, dass eine unheilbare, dauerhafte, schwere psychische Beeinträchtigung ähnlich wie eine somatische ein Leiden begründen kann, das dem Patienten sein Leben auf Dauer hin nicht mehr als lebenswert erscheinen lässt.“[9]

In unserer Rechtsordnung ist für die Bereitstellung von Medikamenten für Dritte ein ärztliches Rezept erforderlich. Damit obliegt dem ausstellenden Arzt eine Verantwortung für die Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit. Die Ärzteschaft insgesamt kann sich dieser Verantwortung seit dem diesbezüglich unmissverständlichen Urteil des BVerfG nicht mehr kategorisch verweigern.[10]

V. Einige Hinter­grun­d-­Ge­sichts­punkte

Für den Suizidenten, insbesondere – sofern vorhanden – für seine Angehörigen und auch für den Begleitenden ist es sehr wünschenswert, eine Suizid-Hilfe, orientiert in erster Linie an den Wünschen des Suizidenten, so störungsfrei, intim und menschenwürdig wie möglich ablaufen zu lassen. Dem Helfenden kommt dabei nicht nur die Rolle des die notwendigen Mittel bereitstellenden und den Ablauf sichernden Begleiters zu. Vielmehr sollte er auch mitmenschlich aufmerksam eine Sicherheit gebende Nähe ermöglichen oder eine vielleicht gewünschte Distanz beachten. Im ersten geschilderten Fall musste der noch junge Sohn nach dem vorausgegangenen Tod seiner Mutter den Verlust auch des zweiten Elternteils hinnehmen; in der Begleitung mussten seine Hilflosigkeit und Unsicherheit aufgefangen und sein Denken auf seine in der Nähe wartende Frau und Schwiegereltern gelenkt werden. Die richterlich angeordnete Durchsuchung seines PKW mit Sicherstellung des Mörsers zur Untersuchung auf Fingerabdrücke trägt für die Unterscheidung von Suizid oder Tötung auf Verlangen nichts bei und stellt deshalb eine unnötige und unzumutbare Belastung des Angehörigen dar. Im zweiten Fall musste nur – aber immerhin – der ruhigen Entschiedenheit der Suizidentin gefolgt und ihr schrittweises eigenes Handeln angeleitet werden.

VI. Praktisches Verfahren

Entgegen allen abwehrenden Reden ärztlicher Berufspolitiker muss festgestellt werden: Ärzte sind in unserer Rechtsordnung naheliegende Adressaten von Suizidhilfe-Wünschen. Für die Durchführung einer Hilfe kann der folgende Ablaufplan vorgestellt werden:

Verfah­rens­plan im Hinblick auf eine Suizi­d-Hilfe

  • Grundprinzip: Maximale Transparenz der Dokumentation
    Mehr-Augen-/Ohren-Prinzip mit Einbezug Dritter
  • Ergebnisoffene Vorgespräche zur Willensbildung
  • Klärung der Begründung: Krankheit – psychische Störung – Altersperspektive
  • Klärung der Familien-/Angehörigen-Situation:
    Befördern der Kommunikation
  • Im Sinne der Suizidversuchs-Prävention Hinweis auf Risiken und
    Auswirkungen eines unbegleiteten „Do-it-yourself“ Suizids
  • Erwägung möglicher Alternativen: Therapie, Palliativtherapie,
    Weiterleben
  • Frühzeitige Erstellung einer unmissverständlichen Patientenverfügung
  • Dokumentation der Einwilligungskompetenz / Freiverantwortlichkeit
    mit kompetenten Zeugen oder ggf. ärztlicher Zweitmeinung
  • Beachtung einer situations-angemessenen Überlegungs-Zeit
  • Information über geeignete Methoden
  • Erstellung einer eindeutigen Nicht-Rettungs-Verfügung
  • Durchführung der Suizidhilfe, wenn möglich, in Anwesenheit Angehöriger
    Zubereitung der Medikamente ggf. durch Helfer, Einnahme eigenhändig
  • Dokumentation der Eigentätigkeit der letztmaßgeblichen Handlung
    durch beiwohnende Zeugen oder ggf. eine Video-Dokumentation
  • Führen eines Versterbens-Protokolls: Zeitangaben zu letzter Rückfrage,
    Medikamenteneinnahme, Einschlafen, Vitalfunktionen-Verlust
  • Hinterlassen aller Utensilien und Bereitlegen von Personalausweis,
    Patientenverfügung, Freiverantwortlichkeits-Dokumentation, Nicht-
    Rettungs-Verfügung und Versterbens-Protokoll
  • Benachrichtigen der Bereitschaftspolizei bzw. der Kripo über den nicht
    natürlichen Tod

VII. Zukunfts­per­spek­tiven im Hinblick auf gesetzliche Regelungen

 

Auch bei freundlichem und verständnisvollem Verhalten stellt das anschließende Auftreten uniformierter Polizei mit Wohnungsversiegelung, nachfolgendem Tätigwerden der KriPo und eventuell rechtsmedizinischer Obduktion insbesondere für Angehörige eine Belastung dar. Damit stellt sich die Frage, wie eine zukünftige gesetzliche Regelung geschaffen werden könnte: Kann – in Anlehnung an das niederländische Verfahren – unter der Bedingung einer hinreichend eindeutigen Dokumentation zugunsten einer ausschließlich nachträglichen Überprüfung der Dokumente auf dieses Tätigwerden verzichtet werden? Jedenfalls liegt es im Interesse des Autors, hierfür in der jetzigen Zwischenphase eine für den überprüfenden Staatsanwalt zureichende Beurteilungsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Eine obligatorische Vorab-Prüfung wie beim gesetzlich geregelten Schwangerschaftskonfliktberatungs-Modell[11] erscheint mir nicht notwendig, da hier nur eine Person betroffen ist und eine solche Auflage den einen Suizid planenden, häufig sehr mündigen Bürgern schwerlich zumutbar ist.

Ein unter Einhaltung der Freiverantwortlichkeit und Eigentätigkeit durchgeführter assistierter Suizid ist weder ein durch Fremdverschulden im engeren Sinne charakterisierter ‘nicht natürlicher’ noch ein ‘natürlicher’ Tod. Demnach könnte es – in einer fernen Zukunft? – sinnvoll sein, im Totenschein eine eigene dritte Kategorie für den assistierten Suizid einzuführen und dem Totenschein die erforderlichen Dokumente beizufügen. Hinsichtlich der Strafbarkeit des Totschlags und der Tötung auf Verlangen könnte diese Angabe des assistierten Suizids auf dem Totenschein der Trigger für ein obligates Überprüfungsverfahren – nach niederländischem Modell – ohne Erscheinen uniformierter Polizei sein.

VIII. Kernsätze

  • In Übereinstimmung mit den vom BVerfG formulierten Verhältnismäßigkeits-Anforderungen ist für die Sicherung des Lebensschutzes die Strafbarkeit von Totschlag und Tötung auf Verlangen die notwendige Voraussetzung.
  • Dafür sind eine angemessene Dokumentation von Freiverantwortlichkeit und Eigentätigkeit des Suizids und eine nachträgliche Prüfung – wie in den Niederlanden – unter den Möglichkeiten des bestehenden Strafrechts hinreichend und für Betroffene und Mitbetroffene menschenwürdig zu gestalten.

PD Dr. Johann F. Spittler   ist seit vielen Jahren als klinisch-neurologischer sowie psychiatrischer Gutachter tätig. Er hat bereits 494 psychiatrische Gutachten zur Entscheidungskompetenz Sterbewilliger verfasst und arbeitete bis zum Inkrafttreten von § 217 StGB u.a. mit Dignitas Schweiz sowie Sterbehilfe Deutschland zusammen.

Anmerkungen:

[1] BVerfG, Beschluss v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15

[2] BGH Leipzig, Beschluss v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18; Spittler, J. F. (2020): Rettungspflicht beim Suizid – Geschichte und aktuelle Entwicklung der Rechtsprechung aus ärztlich-psychiatrischer Sicht. MedR 37, S. 101-105; Spittler, J. F. (2020): Rechtsprechung: Zur Bedeutung der Freiverantwortlichkeit für die Rettungs- und Garantenpflicht bei einem Suizid StGB §§212, 216, 323c; BGB 1901 – Problemstellung, Zum Sachverhalt, Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18 (LG Hamburg). MedR 38, S. 120-125.

[3] HVD: https://humanistisch.de/x/hvd-bundesverband/inhalte/entwurf-des-hvd-bundesverbandes-fuer-ein-suizidhilfekonflikt-gesetz (gesehen: 21.5.2020).

 

[4] Spittler, NJOZ 2020, 545.

[5] Vom BGH Leipzig (Beschluss v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18) als nicht beanstandungsbedürftig angesehen.

[6] Vgl. Anm. 4.

[7] Spittler, J. F. (2015): Selbstbestimmung und psychische Störung bei Suizid-Beihilfe-Ansinnen. Nervenheilkunde 34, S. 1026-31 ; Spittler, J. F. (2016): Urteilsfähigkeit und Selbstbestimmung bei psychischer Störung und Suizid-Beihilfe-Ansinnen. Schweiz. Ärztezeitung 16.3., S. 435-437; Spittler, J. F. (2020): Freiverantwortlichkeit und natürlicher Wille bei Lebensbeendigungs-Absicht im Hinblick auf eine Demenz – Eine neuropsychiatrische Sicht. PflR 2, S. 70-76.

[8]Bundesverwaltungsgericht Leipzig (2.3.2017): Urteilsbegründung: Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung; VG Köln (19.11.2019): Recht auf Selbsttötung in Fällen schwerer Krankheit: Verwaltungsgericht Köln ruft Bundesverfassungsgericht an. Pressemitteilung; BVerfG, Beschluss v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, Rn. 210.

[9] BGE 133 I 58, E. 6.3.5.1

[10] BVerfG, Beschluss v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, RN 296/297.

[11] Vgl. Anm. 4.

nach oben