Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

Podiums­dis­kus­sion: § 217 StGB und das berufs­recht­liche Verbot der ärztlichen Suizi­das­sis­tenz

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 35-50

Schon seit 2011 empfiehlt die Musterordnung der Bundesärztekammer (MBO-Ä) in § 16 den Landesärztekammern, in ihre Satzungen ein berufsrechtliches Verbot der Suizidbeihilfe für Ärzte aufzunehmen. Von den 17 Landesärztekammern haben 10 dieses Verbot in ihre Berufsordnungen aufgenommen. Die restlichen Kammern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe) sind den Vorgaben nicht gefolgt und haben lediglich Empfehlungen ausgesprochen. Die unterschiedliche Umsetzung von § 16 MBO-Ä hat zu einem uneinheitlichen Berufsrecht in Deutschland geführt, das die kontroversen Positionen innerhalb der Ärzteschaft widerspiegelt. Dieses uneinheitliche Berufsrecht führt zu weiterer Rechtsunsicherheit in Sachen Sterbehilfe, die damit erneut zum Fall für die Gerichte wird.
Den bisherigen Höhepunkt der juristischen Kontroversen um das berufsrechtliche Verbot ärztlicher Suizidbeihilfe markiert eine Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes (VG) im Rechtsstreit zwischen dem Berliner Arzt Uwe-Christian Arnold, damals auch stellvertretender Vorsitzender von Dignitas Deutschland, und der Berliner Landesärztekammer.[1] Das Gericht verwarf mit seiner Entscheidung eine Untersagungsverfügung der Berliner Ärztekammer, die nach seiner Auffassung formell und materiell gegen höherrangiges Recht verstoße.
Mit den zu erwartenden Auswirkungen der anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217StGB auf das ärztliche Berufsrecht befasste sich das zweite Panel der gemeinsamen Tagung von Humanistischer Union und Friedrich-Naumann-Stiftung am 9. Mai 2019. Wir dokumentieren diese Diskussion in leicht bearbeiteter Form.

Elisa Hoven: Wir werden uns jetzt § 217 noch einmal unter einem anderen Blickwinkel anschauen, insbesondere werden wir fragen, ob er Strafbarkeitsrisiken für Ärzte birgt oder nicht. Außerdem werden wir über strafrechtliche Verfahren, die Ärzte im Bereich der Suizidbeihilfe über sich ergehen lassen mussten, sprechen und uns dann, den berufsrechtlichen Regelung zur Suizidbeihilfe in der Musterberufsordnung, zuwenden.
Ob § 217 Strafbarkeitsrisiken für Ärzte beinhaltet, dazu haben wir im vorangegangenen Panel unterschiedliches gehört. Teilweise wurde gesagt: Natürlich sind Ärzte erfasst. Teilweise wurde gesagt: Nein, die sollen doch eigentlich, wenn sie normale ärztliche Tätigkeit ausüben, gerade nicht von § 217 tangiert werden. Das kontrovers diskutierte Merkmal – die geschäftsmäßige Suizidassistenz – schließt das Ärzte von der Suizidassistenz tatsächlich aus. Ist das, wie Herr Augsberg angedeutet hat, ein Merkmal, das den Unterschied zwischen altruistisch und egoistisch Handeln kennzeichnet? Oder handelt auch jemand geschäftsmäßig, wenn er als Arzt altruistisch immer wieder Menschen in Not unterstützt, weil dies eine wiederholte Tätigkeit ist?
Der Tatbestand von § 217 stellt auch unter Strafe, dass ich eine Gelegenheit gewähre, verschaffe oder vermittle. Das ist relativ weit. Das ist nicht nur das Reichen des tödlichen Medikamentes. Schon, wenn ich den Kontakt zu einem Sterbehilfeverein in der Schweiz herstelle, also eine Gelegenheit vermittele, mache ich mich strafbar. Ebenfalls zu erwähnen ist, dass natürlich (wie bei allen Tatbeständen) auch die Möglichkeit besteht, zu dem Tatbestand Beihilfe zu leisten. Sie können auch zu einer Suizidbeihilfe noch eine Beihilfe leisten. Dann brauchen Sie das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit gar nicht mehr. Ein Beispiel ist ein Arzt, der einen Suizidhelfer unterstützt und sich dadurch auch strafbar machen kann, selbst wenn er gar nicht geschäftsmäßig handelt. Ausgeschlossen sind davon Angehörige, das steht in Absatz 2. Ärzte sind nicht ausdrücklich ausgenommen. Dazu wird uns sicher Herr Hilgendorf noch das Eine oder Andere sagen können.
Wir gehen dann weg vom Strafrecht und werden uns die Musterberufsordnung anschauen. In § 16 der Musterberufsordnung können Sie lesen: „[Ärzte] dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“[2]

Eric Hilgendorf: Meines Erachtens besteht die Kernproblematik darin, dass der technische, medizinische Fortschritt uns heute ermöglicht, das Sterben praktisch endlos zu verlängern. Es gibt keinen natürlichen Tod mehr. Die Ärzte können Menschen lange am Leben halten, die früher relativ rasch gestorben wären. Und das führt zu einer Vielzahl von Problemen. Zwei sind besonders wichtig. Einmal: es droht die Gefahr von Übertherapie – also es wird immer mehr behandelt. Man kann es ja und es ist auch finanzierbar, weil die Krankenkassen bezahlen; und vielleicht das Erbe auch üppig ist und ausreicht. Und zweitens: Es droht die Gefahr von lebensverkürzenden Aktivitäten, die nicht von Ärzten durchgeführt werden, sondern von anderen. Ich habe das einmal als „wilde Sterbehilfe“ bezeichnet. Ich selber habe ein Problem damit, dass zum Beispiel Juristen sich berufen fühlen, am Lebensende Menschen vom Diesseits ins Jenseits zu verhelfen, indem sie vorbeifahren und tödliche Medikamente bringen. Es scheint aber so zu sein, dass dies tatsächlich notwendig war, weil in den Krankenhäusern nicht geholfen wurde. Dies ist die Problemsituation.
Ich bin für die Petition gegen § 217 mitverantwortlich, weil ich damals dem Kollegen Rosenau vorgeschlagen habe, so etwas durchzuführen. Er hatte die Adressen. Und es waren nicht 140, es waren am Schluss 152 Voten. Das ist mit Abstand die meistunterzeichnete Petition, die wir jemals im Strafrecht durchgeführt haben. Wir sind nur zwischen 250 und 260 Aktive. Wir haben für die Petition auch nur per E-Mail eingeladen; Kollegen, die keine E-Mail benutzen, konnten wir also gar nicht erreichen. Dementsprechend gibt es also eine erstaunlich hohe Zustimmungsrate. Warum?
Wir Juristen neigen dazu, dass man mit Fällen beginnt. Nehmen Sie an: ein Arzt hat einen Schmerzpatienten und er gibt diesem Schmerzpatienten über das Wochenende eine hohe Dosis an Schmerzmitteln mit nach Hause, damit der sich jeden Tag etwas zuführen kann, um so noch einmal mit seiner Familie zusammen zu sein. Ist das strafbar? Fällt das unter § 217 StGB? Angenommen, es ist ein Palliativmediziner, dann würden die meisten von Ihnen wahrscheinlich sagen: „Nein, das kann nicht strafbar sein. Das ist doch ganz ok, das ist menschlich.“ Angenommen, es ist ein „böser“ Sterbehelfer; der tut genau dasselbe. Da würden viele von Ihnen sagen: „Das muss strafbar sein.“ Das Problem dieser Norm ist, dass sie völlig unterschiedslos alle Gruppen, die ich genannt habe, erfasst – sowohl die Palliativmedizin als auch das, was Herr Kusch und andere getan haben. Das Wort „Absicht“ hilft nicht viel. In den Gesetzgebungsmaterialien steht, dass in Bezug auf die Förderung Absicht gegeben sein muss, aber nicht in Bezug auf die Selbsttötung.
Was ist mit dem Wort „geschäftsmäßig“? Geschäftsmäßig ist ein Begriff, den wir im Strafrecht schon lange verwenden. Und der wird immer definiert als „auf Wiederholung angelegt“. Immer, wenn man etwas nicht nur einmal macht, sondern es in derselben Situation nochmal machen würde, dann ist das geschäftsmäßig. Und natürlich handelt ein Arzt, wenn er als Arzt handelt – schon aus Gewissensgründen – immer geschäftsmäßig. Also ist der Begriff gerade für Ärzte überhaupt nicht trennscharf. Ärzte handeln immer geschäftsmäßig. Deswegen war es absurd, diese Bestimmung in § 217 StGB aufzunehmen. Für den Fall der Vergabe von höheren Medikamentendosen mit nach Hause macht sich der Palliativmediziner nun strafbar. Ich war unter anderem auch beteiligt an der Verfassungsbeschwerde von Herrn Thöns, der gerade diesen Punkt angesprochen hat.
Zweiter Problemfall: Nehmen Sie an, in einem Hospiz, von mir aus in einem katholischen Hospiz, wird ein Zimmer vorgehalten, in dem sich Patienten, die nicht mehr behandelt werden wollen (sei es weil sie die Medikamente absetzen; sei es, weil sie sich zu Tode hungern wollen, weil sie fasten wollen) zurückziehen können, um dort zu sterben. Auch das fällt darunter! Es wird von der Klinik regelmäßig, geschäftsmäßig die Möglichkeit zum Suizid eingeräumt. Das „sich durch Sterbefasten zu Tode bringen“ ist ganz klar Suizid durch Unterlassen. Und das Sterbezimmer ist vorgehalten auf Dauer, nicht nur für einen Fall; es ist immer wieder in Benutzung. Also ist es natürlich geschäftsmäßig. Wollen wir das unter Strafe stellen? Meine Großeltern haben durchaus auch vom Sterbefasten gesprochen, das hieß damals anders: Man ist „ausgezehrt“ am Ende. Sie haben erzählt, dass ihre Eltern an Auszehrung gestorben sind. Es scheint so zu sein, dass Menschen am Lebensende schon immer manchmal auf Nahrungsmittel verzichteten und starben. Die Hilfe dabei ist jetzt strafbar geworden. Im Strafrecht ist der Wortlaut bestimmend; man versucht sich möglichst exakt am Wortlaut entlang zu hangeln. Juristen, die das Gesetz unvoreingenommen lesen, sind der Meinung, dass der Palliativmediziner jetzt potentiell strafbar ist. Und der Klinikleiter, der ein Zimmer zum Sterben vorhält, ist auch potentiell strafbar. Dazu muss man bedenken: Bei einem Verdacht müssen die Staatsanwaltschaften tätig werden.
Das Ganze ist so problematisch, dass die Norm zurzeit auf Eis liegt; alle warten auf das Bundesverfassungsgericht in der Hoffnung, dass hier eine Lösung herbeigeführt wird.
Wie geht es aus, das Verfahren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Norm gekippt wird. Aber sie ist so eindeutig gegen die fundamentalen Grundsätze des Strafrechts gerichtet – Bestimmtheit, Gesetzesorientiertheit – dass hier unbedingt eine Präzisierung erfolgen muss. Das rechtsstaatliche Strafrecht beruht darauf, dass man aus der Norm ablesen kann, was strafwürdig ist und was nicht. Und bei dieser Norm geht das nicht. Mit ein bisschen Nachdenken erkennt man, dass hier viel zu viel erfasst wird. Das ist der Grund, weshalb wir Strafrechtler diese Norm ganz überwiegend ablehnen.

Martina Jaklin: Ich habe den Eindruck, auch ich bin hier in der Höhle des Löwen gelandet.
Sie kennen alle den Satz: „Ärztliche Aufgabe ist die Hilfe beim Sterben und nicht die Hilfe zum Sterben.“[3] Das ist ja ein sehr virulenter Satz und ich will versuchen Ihnen diesen Satz aus der Sicht der ärztlichen Selbstverwaltung zu erläutern. Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist in erster Linie, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen. Das steht so in den Berufsordnungen aller Landesärztekammern und es ergibt sich auch aus der Tradition des ärztlichen Berufs. Ebenso sind Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet, Leiden zu lindern und das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten zu respektieren. Auch das ergibt sich aus der ärztlichen Tradition und den ärztlichen Berufsordnungen der Landesärztekammern.
Die Begleitung Sterbender mit allen medizinisch indizierten Möglichkeiten zur Schmerz- und Leidenslinderung gehört dazu. Auch das ist nach den Berufsordnungen ärztliche Aufgabe. Dabei können sich Grenzsituationen ergeben, in denen Ärztinnen und Ärzte eine Gewissensentscheidung treffen müssen. Die ist zu respektieren, auch wenn sie im Einzelfall bedeutet, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten der Vorzug eingeräumt wird – also ein ärztlich assistierter Suizid gewährt wird. Aber von welchen Situationen sprechen wir hier? Ärztinnen und Ärzte sind nach ihrer Tradition und nach den Berufsordnungen dazu verpflichtet, ihren Beruf nach den Geboten der ärztlichen Ethik auszuüben. Konkretisiert wird dieses Gebot durch die heute in allen Berufsordnungen enthaltenen Vorschriften, wonach die Mitwirkung beim Suizid keine ärztliche Aufgabe ist und Ärztinnen und Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen – oder, wie in Berlin und Westfalen-Lippe zum Beispiel – nicht leisten sollen. Für beide Varianten bleiben nach unserer Auffassung bestimmte Gewissensentscheidungen im Einzelfall sanktionslos. Das kann aber nur Sachverhalte betreffen, die das Berliner Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2012 überzeugend genannt hat: Es handelt sich um Einzelfälle, in denen eine enge Arzt-Patienten-Beziehung besteht und unerträgliches, unheilbares Leiden weder durch den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen noch durch palliativmedizinische Maßnahmen ausreichend gelindert werden kann, und wenn die Patientin oder der Patient in dieser Situation die Hilfe zum Sterben wünscht.
Ausgeschlossen, weil eindeutig der ärztlichen Ethik widersprechend, so das Berliner Verwaltungsgericht, ist eine ärztliche Suizidbeihilfe bei körperlich und seelisch im Wesentlichen gesunden Menschen. Solche Handlungen sind nach allen aktuellen Berufsordnungen der Ärztekammern unzulässig und auch sanktionsbewehrt. Den Landesärztekammern bleiben da Spielräume, aber grundsätzlich sind sie sanktionsbewehrt. In der Begründung zur Berliner Vorschrift haben wir damals ausdrücklich auch den Bezug zu der Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts hergestellt, sodass nach unserer Auffassung auch hinreichend deutlich sein sollte, welche Handlungen im Rahmen einer Gewissensentscheidung nicht sanktioniert werden sollen. Nach der Auffassung der Ärztekammer Berlin sowie der anderen Kammern ergibt sich diese Rechtslage auch aus dem § 217 StGB. Nach unserer Auffassung ist diese Norm erforderlich, um geschäftsmäßige, das heißt eben auf Wiederholung ausgelegte, regulär angebotene Suizidassistenz (und zwar nicht nur durch Ärztinnen und Ärzte) zu unterbinden.
Die Hilfe zum Suizid stellt nach der Auffassung der ärztlichen Selbstverwaltung keine reguläre ärztliche Behandlungsoption dar. In einem stark auf Ökonomisierung ausgerichteten Gesundheitswesen wie dem unsrigen und den klammen Kassen im Sozialwesen müssen sich Patientinnen und Patienten nach der Auffassung der Ärzteschaft mehr denn je darauf verlassen können, dass Ärztinnen und Ärzte vor allem der Erhaltung ihres Lebens verpflichtet sind. Damit soll keineswegs die Autonomie der im Wesentlichen gesunden Menschen zur selbstbestimmten Wahl ihres eigenen Todeszeitpunktes in Abrede gestellt werden. Nur gehört es eben nicht zu den Aufgaben der Ärztinnen und Ärzte, hierbei behilflich zu sein.

Johann F. Spittler: Ich bin sozusagen der Gegentäter der eben vertretenen Auffassung. Das heißt: Ich bin sowohl in Zusammenarbeit mit der Schweizer Organisation Dignitas tätig gewesen, als auch mit der ja nun hinreichend übel beleumdeten Hamburger Organisation Sterbehilfe Deutschland. Ich möchte anmerken, dass diese Zusammenarbeit seit meiner eigenen Verfassungsbeschwerde von Herrn Kusch beendet worden ist, sodass ich keinerlei Informationen mehr habe, wie er weiter handelt; außer durch Informationen aus der Presse.
Ich möchte anfangen damit: Menschen, die sich eigeninitiativ und freiwillig an eine Organisation wenden, sind in ihrem Überlegungsprozess fortgeschritten. Das sind Menschen – ich habe ja nun fast 500 derartige Untersuchungen zur Freiverantwortlichkeit gemacht –, die ihren Überlegungsprozess eigentlich abgeschlossen haben; durchaus mit einer fortbestehenden Ambivalenz.
Ich bin von meinem Fachgebiet her primär Neurologe, hatte also mit den schon erwähnten ALS-Fällen (Amyotrophe Lateralsklerose) zu tun; aber ich bin auch Psychiater und habe mit meiner psychiatrischen Expertise diese Menschen eingehend befragt. Ich vertrete ausdrücklich in einer Differenzierung zu Ihnen sowohl die Suizidbeihilfegesuche von Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen als auch jene mit psychischen Erkrankungen. Das steht im Zusammenhang mit der Schweizer Rechtsprechung, darauf will ich jetzt im Augenblick aber nicht näher eingehen.
Ich bin auch ein Vertreter des mehr oder weniger reinen Alterssuizids – dokumentiert an dem Hamburger Fall, wo wir ja die BGH-Entscheidung im Juli bzw. nachfolgend das Urteil erwarten dürfen -. Die beiden Damen, die ich in Hamburg persönlich begleitet habe, was dann das Verfahren ausgelöst hat, waren alte Damen, die durchaus ihre Gebrechlichkeiten hatten – 81 und 86 Jahre alt – aber die nicht lebensbedrohlich erkrankt waren. Deren Hauptargument war: Wir haben uns zwei gepflegte Hamburger Seniorenheime angeguckt, wir wollen das nicht. Wir leben zusammen – nach der gescheiterten Beziehung der einen und dem Tod des Mannes der anderen – und wir wollen diese Gemeinsamkeit nicht aufgeben! Ich möchte auch diese Menschen vertreten.
Zweites Stichwort: Die Entscheidung des deutschen Ärztetages 2011 ist eine Mehrheitsentscheidung gewesen und für mich ist die fundamentale Frage: Können wir eigentlich mit solchen Entscheidungen der Ärzteschaft gegen die Mehrheit des Bevölkerungswillens zufrieden sein? Immerhin gab es eine relevante Minderheit von der Größenordnung eines Drittels, wenn ich es recht im Kopf habe, die diese Verbotsregelung nicht haben wollte. Und es bleibt die Frage: Sollen wir nach Kammerzugehörigkeit handeln? In Bayern ist der Passus beispielsweise nicht übernommen worden; dort kann jeder Arzt handeln, wie er es für richtig hält, ohne dass ihm berufsrechtliche Konsequenzen drohen. Und dann ist schließlich die Frage: Geht das Ganze nur anwaltlich begleitet, mit kampfeswilligen Anwälten? Ich habe bei der Bundesverfassungsgerichtsverhandlung Herrn Putz getroffen. Er sagt, er lässt im Moment eine Dissertation über 230 Fälle schreiben, in denen er rein juristisch beraten hat, wie § 217 Absatz 2 konkretisiert werden kann. Ich bin hochgespannt auf das, was da zutage kommen wird. Aber das kann es doch wohl nicht sein!
Absatz 2 von § 217 lässt ja mehr oder weniger nur die Laiensuizidhilfe zu; also durch Angehörige oder nahestehende Personen. Es ist die Frage: Wie wird da die Freiverantwortlichkeit eigentlich beurteilt? Ich habe unendliche Mühen in meine Gutachten investiert, habe sie wissenschaftlich ausgearbeitet. Meine Arbeit war sicher viel zu akribisch und nicht generalisierbar. Aber wie wird die Freiverantwortlichkeit innerhalb einer Familie gesichert? Und ich frage mich: Kann unsere Gesellschaft, unser Staat darauf verzichten, die Freiverantwortlichkeit zu prüfen?
Schließlich: Wo sollen die Medikamente für einen Suizid herkommen außer von Ärzten? Und es ist schließlich die Frage: Wie soll der Totenschein ausgefüllt werden? Soll der ein klein bisschen beschönigend ausgefüllt werden? In meinen Augen hilft alles nichts: Es geht nicht ohne Ärzte, ob die Ärzte wollen oder nicht! Und ich mag es nicht, wenn ein Radiologe und Berufspolitiker widerwärtige Sprüche von sich gibt, dass Menschen nur dann ihre Selbstbestimmung wirklich wahrnehmen, wenn sie gar nicht auf die Idee kommen, sich an Sterbehilfe-Vereine zu wenden.
Schließlich bleibt die Frage: Welcher Arzt, außer Herrn Turowski[4] und mir, wird eigentlich ein Ermittlungsverfahren und ein Berufsgerichtsverfahren riskieren und schließlich einen Prozess? Ich habe die von der Staatsanwaltschaft verfolgte Suizidbegleitung in Hamburg 2012 durchgeführt. Jetzt hoffen wir darauf, dass im Juli 2019 das Verfahren vor dem BGH abläuft. Und dann frage ich mich: Was ist eigentlich die Konsequenz in der derzeitigen gesetzlichen und berufsrechtlichen Situation? Heimliches Handeln? Exportieren in die Schweiz? Oder einsame Suizide?
Ich möchte Ihnen zum Schluss eine Provokation zumuten. Wenn Sie in die Niederlande gucken, dann ist das dortige Kontrollverfahren dadurch bewirkt, dass eigentlich sowohl die Tötung auf Verlangen als auch die Suizidbeihilfe gesetzlich verboten sind, einfach verboten! Wir haben in Deutschland den § 217 Absatz 1, wir haben den juristischen Druck des Verbotes. Wir hätten die Möglichkeit, einen § 217 Absatz 3 mit Ausnahmeregelungen zu schaffen – also das, was Herr Hufen angesprochen hat; dass das BVerfG sagen könnte, unter den und den Bedingungen wäre es möglich. Ich kann nur sagen: Die niederländischen Verhältnisse werden hier immer als Schreckgespenst dargestellt. Soweit ich das nach ausgiebigsten wissenschaftlichen Erörterungen in den berühmtesten medizinischen Zeitschriften beurteilen kann, gibt es dort eine akribische Aufarbeitung dessen, was passiert – einschließlich der schwierigen und belastenden Entscheidungen, die im Grenzbereich dazukommen.

Elisa Hoven: Bevor wir jetzt über die einzelnen Facetten der Risiken für Ärztinnen und Ärzte sprechen, möchte ich kurz ein Zitat des Präsidenten der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery verlesen: Folgendes hat er gestern in einem Interview gesagt: „Eine effektive Suizidunterstützung durch Ärzte würde bedeuten, Sterbewilligen würde das Gift über einen Venenzugang injiziert. Wo ist da dann noch der Unterschied zur Euthanasie?“
Vielleicht die Frage erst einmal an Sie: Sehen Sie das ähnlich? Wo ist die Grenze?

Johann F. Spittler: Also ich möchte ausdrücklich betonen: Die praktische Erfahrung aus insgesamt 263 assistierten Suiziden, die ich bei Dignitas und bei Sterbehilfe Deutschland übersehe, war eine andere. Dort war es in allen Fällen möglich, die letztlich entscheidende Handlung von dem Betreffenden selbst ausführen zu lassen. Wir hatten einen hochgradig gelähmten Patienten mit ALS. Er hat immer noch die Möglichkeit, den geknickten Infusionsschlauch zwischen seine Zähne zu nehmen und bei dem vorherigen Probelauf so lange zuzuhalten, bis wir gesagt haben: „Bitte machen Sie jetzt auf.“; um zu sehen, dass er dann wieder aufmachen kann. Im Ernstfall hätte er ohne weiteres die Zähne zulassen können. Meiner Meinung nach können wir bei der deutschen Gesetzeslage bleiben und ich bin dankbar, dass ich nicht die allerletzte maßgebliche Handlung selber machen muss, sondern dass ich sie dem Betreffenden überlassen kann. Und wir haben in jedem Falle bis zuletzt nachgefragt: „Passen Sie auf: Wenn Sie dieses Medikament jetzt nehmen, dann gibt es kein Zurück! Dann müssen Sie auch das zweite nehmen, damit Sie die Komplikationen des ersten nicht erleben. Wollen Sie das wirklich?“ Diese Möglichkeit ist für mich absolut essentiell! Deswegen kann ich persönlich mir allenfalls in einer sehr mühseligen Phantasie vorstellen, dass es auch mal eine Tötung auf Verlangen geben könnte, wie das in Holland ja sehr häufig praktiziert wird, aber notwendig, finde ich, ist das nicht. Wir können bei der derzeitigen deutschen Rechtsordnung bleiben.

Elisa Hoven: Herrn Hilgendorf, können wir dabei bleiben, ist diese Unterscheidung, die Herr Augsberg kritisiert hatte, dass wir § 216 anerkennen – also Tötung auf Verlangen strafbar lassen – dann noch vereinbar mit unserer Diskussion?

Eric Hilgendorf: Für Juristen ist es ganz wichtig, dass die Kontrolle über das Geschehen am Schluss beim Sterbewilligen liegt, dass er also, wie das Herr Spittler geschildert hat, den entscheidenden Akt selber tut. Wenn es anders ist, liegt die Tatherrschaft beim Arzt, weil er dann kein Helfer mehr ist, sondern ein Täter. Und dann kann er sich nach § 216 strafbar machen – Tötung auf Verlangen – oder noch schlimmer nach § 212 – Totschlag; oder sogar nach § 211 – Mord, z.B. wenn irgendwelche finanziellen Interessen im Spiel wären. Und ich würde nicht meinen, dass wir die Rechtslage schnell ändern sollten, weil man aus der Geschichte des § 217 lernen kann: diese Dinge sollten langsam, mit viel Sachverstand und ohne Übereilung, geregelt werden. Aber es ist schon wichtig, dass es um die Fälle geht, in denen der Sterbewillige zum Schluss eigenmächtig diesen Schritt tut. Die Frage ist dann natürlich: Ist die Tatsache, dass er selber trinkt, schon wirklich ein Indiz für Autonomie? Ist er hier selbstbestimmt? Oder spielen andere Mechanismen eine Rolle? Dies ist ein Problem. Wir dürfen es uns nicht zu leicht machen. Aber trotzdem würde ich sagen:Wenn jemand den letzten Schritt selber tut, dann will er ihn auch tun. Und insofern ist es richtig, zu sagen, Hilfe dabei sollte nicht strafbar sein.

Martina Jaklin: Wenn ich mich an meine Strafrechtsausbildung, die schon ein bisschen länger zurückliegt, zurück erinnere, dann ist es so, dass der § 216 Strafgesetzbuch, also die Tötung auf Verlangen, eine Privilegierung im Strafrecht darstellt. Wenn wir diese Norm nicht hätten, dann wären wir beim § 212, also beim Totschlag, wie Herr Hilgendorf gerade schon gesagt hat. Und ganz klar: Hier darf es niemals um aktives Tun eines Arztes oder einer Ärztin gehen. Das steht seit Beginn an in den Berufsordnungen der Ärztekammern, dass aktive Zutun zur Tötung eines Patienten nicht erlaubt und unärztlich ist. Also wir reden hier tatsächlich über die Bereitstellung des ärztlichen Know-hows, über das Verordnen von Medikamenten und die Aufklärung darüber, wie es geht. Dabei geht es um die Begleitung, auch um eine emotionale Unterstützung. Und das darf nicht verteufelt werden! Das Zitat, das wir gerade gehört haben, das kenne ich nicht; ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang es gefallen ist.
Gleichwohl besteht auch in der Ärztekammer Berlin die Sorge, dass es eine Entwicklung des Gesundheitswesens gibt, wenn der ärztlich assistierte Suizid in größerem Umfang zugelassen werden würde und nicht nur in wirklich begrenzten, schwerwiegenden Einzelfällen; in Einzelfällen, in denen jemandem nicht mehr mit bestimmten Maßnahmen, bis hin zur palliativen Sedierung, geholfen werden kann. Es besteht die Sorge, dass sich das in unserem Gesundheitswesen auf eine Weise auswirken könnte, die wir nicht erleben wollen. Wenn wir jetzt beginnen etwas freizugeben und eine solche Entwicklung einläuten, dann müssen wir auch daran denken, was damit in 20 oder 30 Jahren ist. Ich persönlich möchte in einer solchen Gesellschaft nicht leben, in der in einem Krankenhaus neben dem Zimmer für die kranken Patienten und ihre heilenden Ärzte das andere Zimmer liegt, in dem die gesunden Menschen auf die Verwirklichung ihres Wunschtodestages warten.

Eric Hilgendorf: Wir sollten, ich hatte das ja angedeutet, auch den Aspekt der Übertherapie beachten. Der § 217 blockiert Bemühungen und Überlegungen in der Ärzteschaft, wie man Leidenden das Lebensende erleichtern kann. Wenn man das Sterben auch nur beschleunigt und es mehr als nur einmal aus Gewissensgründen macht, dann ist man im Prinzip im Anwendungsbereich des § 217. Es gibt jetzt einen wie ich finde schreckerregenden Fall, den der Bundesgerichtshof im April diesen Jahres entschieden hat.[5] Da ging es um Schadensersatz für eine radikale Übertherapie am Lebensende. Der BGH hat entschieden: „Übertherapie lag wohl vor, aber Weiterleben kann kein Schaden sein.“ Deshalb wurde Schadensersatz verweigert.
Mir ist es gelungen, die Art der Behandlung, die in diesem Fall durchgeführt wurde, aus einem Begleitgutachten zu eruieren. Ich darf Ihnen das einmal ganz kurz, nur ausschnittsweise vorlesen: Der 82 Jahre alte Vater des Klägers litt an einer fortgeschrittenen Demenz. Er war bewegungs- sowie kommunikationsunfähig, konnte Stuhl und Harn nicht halten. Er litt unter Erstickungsanfällen, extrem ausgeprägten fixierten Gelenkfehlstellungen, einer Spastik, paraphimosen Augenentzündungen – weil er vergaß, sie zu schließen – und wiederkehrenden Druckgeschwüren, zum Beispiel über dem Steiß 30 mal 30 Zentimeter totes Fleisch. Aufgrund von Zahnfäule mussten ihm fast alle Zähne gezogen werden. Wiederkehrend stöhnte er und biss sich die Lippe blutig. Auf diese Schmerzzeichen verordnete der Arzt nie ein stark wirksames Schmerzmittel. Der Gutachter sagt, die Schmerztherapie, die durchgeführt wurde, habe nicht ausgereicht. Stattdessen ließ dieser Arzt ihn über Jahre hinweg künstlich ernähren. Er impfte den Hilflosen gegen Grippe, führte diverse Laboruntersuchungen durch, verordnete modernste Antibiotika, ließ den Patienten leidvoll absaugen und berechnete sogar eine Krebsvorsorgeuntersuchung. Ab 2010 berechnete er Palliativversorgung. Er muss also gemerkt haben, dass es mit dem Mann zu Ende geht. Mithin wurde der natürliche Tod um Jahre hinausgezögert, das Leiden verlängert. An dieser Stelle höre ich jetzt auf. Ich glaube, diese Behandlung war eindeutig standeswidrig oder sollte es zumindest sein! Das ist das, was droht, wenn den Ärzten nicht Gelegenheit gegeben wird, nachzudenken, ob man ein Leben manchmal nicht besser beenden, ob man es auslaufen lassen sollte. Und wir sollten immer bedenken: Jeder von uns wird sterben, früher oder später. Viele Menschen leben heute ohne Verwandte, die helfen können. Hier war sogar noch ein Sohn vorhanden, selbst der konnte sich aber nicht durchsetzen. Selbst Anwälte waren nicht in der Lage, diese „Behandlung“ zu stoppen. Das sind, finde ich, sind grauenvolle Perspektiven!
Deswegen muss man unbedingt dafür sorgen, dass in der Ärzteschaft ernsthaft darüber nachgedacht wird, wie mit Sterbenden umgegangen wird. Der § 217 blockiert das meines Erachtens. Die Norm ist eine strafrechtliche Keule, die ein vernünftiges Nachdenken erschwert. Letztlich sollten diese Fälle in der Ärzteschaft entschieden werden. Wir brauchen eine Fortentwicklung der ärztlichen Ethik! Und in den Krankenhäusern, in den Palliativstationen muss überlegt werden, unter welchen Umständen eine Behandlung weitergeführt werden sollte, und unter welchen nicht.

Elisa Hoven: Herr Hufen hatte in der Diskussion zuvor gesagt: Es gibt keinen Arzt mehr, der nicht Angst vor Strafe hat. Und das schwingt ja jetzt auch bei Ihren Ausführungen mit, Herr Hilgendorf, dass ein Arzt möglicherweise auch Angst hat, wenn er anders handelt als wie von Ihnen eben in so furchtbar drastischen Worten beschrieben, dass er sich möglicherweise strafbar macht. Frau Jaklin, sagen Sie gerne was zu diesem Fall. Aber auch zu dieser Vermutung, die im Raum steht, der ja Herr Augsberg widersprochen hat, dass Ärzte durch den § 217 vielleicht auch verunsichert sind und sich jetzt erst recht nicht mehr trauen, Unterstützung beim Sterben zu leisten.

Martina Jaklin: Also klar ist, dass in diesem ganzen Bereich – Übertherapie, Behandlung von Sterbenden und Patientenautonomie – die Ärzte auch mal in einem Graubereich tätig sind. Ich habe zu diesem hier erwähnten Fall auch etwas gelesen und ich möchte hierzu nur noch etwas klarstellen: Es ging um einen zivilrechtlichen Fall. Und es ist nicht gesagt worden, dass es zulässig war, was dort gemacht worden ist. Der Bundesgerichtshof hat nur gesagt, dass mit unserem Grundgesetz, d.h. mit Artikel 1 nicht vereinbar ist, dass das Weiterleben an sich einen Schaden darstellt. Eine solche Bewertung wäre nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das ist das Einzige, was m. E. dort entschieden wurde.
Natürlich stehen, wenn jemand eine Therapie bekommt, die er eigentlich nicht haben wollte, dann auch Schadenersatzansprüche im Raum; gar keine Frage. Ich kenne den Fall nicht so genau wie Sie. Das klingt wie ein Horrorfall. Gleichzeitig muss ich aber sagen: Wir in der Ärztekammer beraten sehr oft und umfassend Ärztinnen und Ärzte zu ihren berufsrechtlichen Fragen. Dazu gehören auch immer wieder Fragen zu: Was darf ich? Welchen Willen muss ich beachten? Was muss ich noch eruieren, um herauszufinden, was der Patient eigentlich will? Wann darf ich welches Gerät abstellen? Wann muss ich was abstellen? Ärzte haben heute genau so viel Angst davor, ein Leben zu früh zu beenden wie davor, ein Leben nicht früh genug zu beenden, also den Patienten nicht sterben zu lassen. Das ist ja, was wir alle zur Kenntnis nehmen: Die Rechtsprechung der letzten Jahre, ausgelöst auch durch das Patientenverfügungsgesetz, hat eine Kehrtwende in Deutschland eingeleitet. Seitdem ist die sogenannte passive Sterbehilfe, also das Recht des Patienten zu sagen: „Ich möchte eine bestimmte Behandlung nicht mehr haben“, ohne dass er sich in einem irreversiblen Sterbeprozess befinden muss – dieses Recht ist nicht mehr anzuzweifeln. Das ist meines Erachtens heute eigentlich fast überall angekommen. Wir treffen kaum noch auf Ärzte, bei denen das nicht angekommen ist. Natürlich ergeben sich immer wieder Einzelfälle, in denen bestimmte Dinge fraglich sind. So hat mich zum Beispiel einmal ein Chefarzt aus dem Unfallkrankenhaus Berlin angerufen und um Beratung gebeten: Da wollte jemand unbedingt, dass die Beatmung abgestellt wird. Das konnten die aber nicht machen, weil das dann ein qualvoller Tod geworden wäre. Um das zu verhindern, musste der Patient vorher sediert werden. Da das dann auch eine aktive Handlung ist, war man sich unsicher darüber, ob das zulässig ist. Man musste also eine aktive Handlung vornehmen, um einen nicht-qualvollen Tod zu ermöglichen. Natürlich haben wir diesen Arzt beraten und gesagt: Das ist erlaubt! Man darf Maßnahmen, wie das vom Patienten gewünschte Abstellen der Beatmung, durch eine Sedierung abmildern. Damit ist diesem Patientenwillen auch zu genügen!
Diese Beratung wird durch Ärztekammern heute jeden Tag geleistet. Ich glaube, dass sich das in der Patientenschaft vielfach noch nicht so herumgesprochen hat, wenn ich höre, dass Patienten sich zu Sterbehilfevereinen aufmachen, damit die ihnen helfen, dass sie bestimmte Behandlungen nicht mehr durchführen lassen müssen. Dazu braucht es meines Erachtens keinen Sterbehilfeverein.

Johann F. Spittler: Diesem letzten Satz kann ich zustimmen. Allerdings: Sie haben ja selber gesagt, es ist noch nicht bei allen Ärzten angekommen und natürlich auch nicht bei allen Bürgern dieses Landes und Patienten, dass ihr Wille gilt. Es ist manchmal auch mühsam, den Patientenwillen durchzusetzen. Da stimmen wir ja völlig überein; dafür sind Sterbehilfe-Vereine nicht unbedingt nötig! Nur: Wir haben das Problem. Ich kann immer wieder nur auf die Schweiz verweisen: die Schweiz hat acht Millionen Einwohner und die Vereine haben 150.000 Mitglieder. Das sind fast zwei Prozent der Bevölkerung!
Wir hatten über viele Jahre regelmäßig in der Bundesrepublik auch Meinungsumfragen. Die Schweizer Medizinalrechtsanwälte haben eine wunderbare Meinungsumfrage gemacht: 70 bis 80 Prozent der Menschen in diesem Land sind für eine liberale Lösung, manchmal sogar für Tötung auf Verlangen. Das finde ich auch nicht gut.
Aber Frau Jaklin, ich würde Ihnen schon gerne etwas widersprechen. So wie bei Dignitas und bei Sterbehilfe Deutschland gearbeitet wird, ist das immer ein längerer Prozess. Die Patienten müssen Mitglied werden; die potentiell nach Suizidbeihilfe Fragenden müssen medizinische Befunde vorlegen, sie müssen eine Begründung vorlegen. Bei Sterbehilfe Deutschland wird ein Videointerview gemacht. Zugegeben, ich habe bei den allermeisten Fällen als einziger Arzt untersucht; aber vorher lief ja eine juristische Prüfung! Das heißt, es gab ein Vier-Augen- und Vier-Ohren-Prinzip! Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich möchte in einem Land zu leben, wo ich die Freiheit habe, einem Menschen direkt sagen zu können: Bitte, jetzt sei mir behilflich.
Und ich muss nochmal betonen: Ich habe fast 500 Menschen untersucht, und nur 263 davon haben Suizidbeihilfe in Anspruch genommen. 12 davon, wo wir reserviert geantwortet haben – Wartezeiten oder Therapieauflage verlangten – haben dann einsame Suizide begangen. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Denen haben wir nicht geholfen!

Elisa Hoven: Ich würde jetzt den Bogen zur Musterberufsordnung schlagen. Frau Jaklin, warum hat Berlin eine Sollvorschrift eingefügt? Finden Sie das Verbot in der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer falsch? Warum haben Sie sich so entschieden? Und birgt das nicht auch gewisse Rechtsunsicherheiten, denn was ist nun „Soll“ genau?

Martina Jaklin: Ja, das birgt Rechtsunsicherheiten, das war uns von Anfang an klar. Wir wollten aber nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, was wir begrüßt haben, deutlich machen, dass das kein starres System ist, sondern dass es Ausnahmen einer wohlbegründeten Gewissensentscheidung gibt, die letztlich dann nicht dazu führt, dass hier eine berufsrechtliche Sanktion erfolgt.
In der Begründung hat die Delegiertenversammlung der Ärztekammer Berlin sich ausdrücklich auch auf das Urteil bezogen, sodass sehr klar ist, was die Delegiertenversammlung der Ärztekammer Berlin eigentlich regeln wollte. Ob das letztlich Bestand haben wird, wenn das in einem Einzelfall vor Gericht geprüft wird, werden wir sehen.
Wir haben es in der Berliner Berufsordnung ein bisschen anders gemacht als es in der Muster-Berufsordnung geregelt ist. Wir haben die maßgebliche Vorschrift in Paragraf 1 geregelt; in dem Teil, in dem es um die Aufgaben der Ärzte geht – es ist keine ärztliche Aufgabe – und haben das abgetrennt von der Sterbebegleitung, die aus unserer Sicht damit nichts zu tun hat. Die Sterbebegleitung kann dazu führen, dass in Einzelfällen ein ärztlich assistierter Suizid gewünscht wird und auch möglich ist. Das ist dann keine Sterbebegleitung und vom Grundsatz her ein anderer Zugang.

Elisa Hoven: Erlauben Sie mir gleich eine kurze Rückfrage, weil ja schon ab und an Zahlen hier genannt wurden. Denken Sie denn, dass diese Entscheidung, die Sie ja treffen und die für die Ärztinnen und Ärzte in ihrem Einzugsgebiet verbindlich ist, dass die auch im Hinblick auf Minderheiten unter ihren Kolleginnen und Kollegen richtig ist, die ja nun anders denken? Eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Jahr 2015 hatte ergeben, dass nur 34 % sich für ein berufsrechtliches Verbot ausgesprochen haben, 29 % waren dagegen, die meisten haben sich gar nicht geäußert. Dann gibt es ja auch Umfragen – etwa vom Allensbach-Institut – zur Befürwortung oder Ablehnung von Suizidbegleitung; da haben immerhin auch 30 % der Ärzte gesagt, sie befürworten eine Suizidbegleitung. Und wenn wir dann auf die Bevölkerung – das ist ja heute schon an der einen oder anderen Stelle genannt worden – schauen, da sind nur 11 % der Bevölkerung für ein Verbot von Sterbehilfe, 48 % befürworten sogar aktive Sterbehilfe.
Positionieren Sie sich mit diesem Verbot nicht gegen einen Wunsch Ihrer Patienten oder gegen eine nicht ganz zu vernachlässigende Mindermeinung der Ärzte?

Martina Jaklin: Ja, aber das ist auch das Wesen einer Normenfindung. Ich habe vorhin schon gesagt, dass diese Vorschriften ein Ausdruck der ärztlichen Ethik sind. Und wie findet man heraus, was ärztliche Ethik ist? Das ist eine gefestigte Mehrheitsauffassung davon, was im Rahmen der ärztlichen Berufsausübung richtig oder falsch sein soll, die aber noch nicht rechtlich geregelt ist. Mir liegen übrigens, was die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin angeht, völlig andere Zahlen vor als Ihnen. Nach meiner Kenntnis befürwortet die Mehrheit der Befragten das Verbot organisierter Suizidbeihilfe wie etwa von Dignitas oder EXIT: 71 % Zustimmung unter den Ärzten zu einem solchen Verbot.[6] Das sind nach meiner Kenntnis die aktuellsten Zahlen.

Johan F. Spittler: Mir sind diese Gedankengänge geläufig, ich bin seit 25 Jahren in dem Bereich aktiv. Was mich wirklich beschäftigt, ist dieses Verhältnis von Mehrheitsentscheidung – Deutscher Ärztetag 2011 usw. Kann das überzeugend sein, wenn eine relevante Minderheit sagt, wir finden das nicht richtig? Und was ist das in unserer Demokratie mit der Verehrung von Mehrheitsentscheidungen? Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn ich so fundamentale Fragen stelle.

Martina Jaklin: Die Frage ist nicht zu beantworten. Letztlich ist es die Aufgabe der Selbstverwaltung der Ärzte, sich selbst Regeln aufzuerlegen, d.h. im Gesamtgefüge der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Normen sich ihre eigenen Regeln zu geben, ihre eigenen Grenzen zu ziehen. Und das ist schlechterdings nicht anders als über Mehrheitsentscheidungen zu machen.

Elisa Hoven: Allerdings hat da das Verwaltungsgericht Berlin ja auch Zweifel an der Verfassungskonformität einer solchen Festlegung durch die Kammer geäußert. Herr Hilgendorf, vielleicht können Sie da als Strafrechtler Ihre rechtliche Einschätzung geben? Ist ein solches Verbot legitimer Weise durch eine Kammer zu regeln oder entspricht das dem Gesetzesvorbehalt, also der Voraussetzung, dass die wesentlichen zentralen ethischen Fragen vom Gesetzgeber geregelt werden müssen und nicht von einzelnen Kammern?

Eric Hilgendorf: Das ist natürlich eine komplizierte Frage. Ich wollte ursprünglich Frau Jaklin ein bisschen zur Seite springen, deswegen macht es jetzt auch Sinn, dass wir gemeinsam ein Mikro benutzen. Es ist ja in der Tat so, dass das Selbstverständnis der Ärzte auf Lebenserhaltung ausgerichtet ist – und das ist auch gut so. Zum Beispiel ist aktive Sterbehilfe für Ärzte ein großes Problem und könnte die Standesethik tief erschüttern. Ein generelles Verbot von Assistenz, von Unterstützung würde ich aber für bedenklich halten, weil hier Entscheidungen, die der Gesetzgeber treffen muss, durch eine Kammer getroffen werden. Aber wenn man formuliert: „Soll nicht“ oder „soll im Regelfall nicht“ – dann ist die Marschrichtung klar; dann ist den Ärzten gesagt: das ist der Grundsatz, daran müsst Ihr Euch orientieren! Aber man sollte dann in den Erläuterungen schreiben, dass es Ausnahmen geben kann, Extremfälle, in denen es möglich ist, zu helfen, weil es auch aus moralischen Gründen geboten ist. Niemand muss! Natürlich kann, wer Gewissensbedenken hat, nicht verpflichtet werden, genauso wie beim Schwangerschaftsabbruch auch; aber es sollte dennoch ausnahmsweise erlaubt sein, solche Hilfe zu leisten.
Wir müssen immer im Auge behalten, dass es ja um wenige Fälle geht! Dieses Modell soll nie Regelmodell werden. Es geht um Ausnahmen, um leidende Menschen, die noch autonom entscheiden können und die dann sagen: Ich möchte sterben und ich brauche dabei Hilfe, ich habe nicht mehr die Fähigkeiten, es selbst zu tun. Es geht nicht um ein Verfahren, das weite Verbreitung finden soll. Nach meiner Ansicht ist dieser Entscheidungsprozess – die Klärung der Frage, ab wann es zulässig ist und in welchen Fällen man Assistenz leisten darf und in welchen nicht – etwas, das man den Ärzten und Ärztinnen überlassen muss. Es sollte sozusagen aus der ärztlichen Praxis heraus über Jahre hinweg wachsen und Juristen sollten sich fernhalten. Ich bin der Meinung, dass die Juridifizierung der ganzen Debatte – durch den BGH jetzt kein Schmerzensgeld, durch den Strafgesetzgeber § 217, dafür Staatsanwälte – genau die falsche Richtung ist. Wir Juristen sind nicht dafür ausgebildet, um diese Fragen im Detail zu behandeln. Man sollte sie bei der Ärzteschaft belassen und dabei wird mittelfristig etwas Vernünftiges herauskommen. Die Juristen haben allenfalls die Aufgabe, Extremfälle im Blick zu behalten: extremes Leidenlassen wie in dem von mir geschilderten Fall. Es handelt sich um eine Körperverletzung, sogar eine gefährliche; das ist wie eine Folter. Das ist etwa so, als würde ein Arzt jemanden, der gefoltert wird, immer weiter unterstützen, damit er möglichst lange lebt, damit er die Qualen möglichst lange ertragen muss. Das kann nicht zulässig sein. Die Juristen sind für die Extremfälle zuständig, aber die eigentlichen ethischen Leitlinien, die müssen sukzessiv von der Ärzteschaft entwickelt werden.

Martina Jaklin: Ich möchte ganz kurz etwas zur Verfassungsgemäßheit eines berufsrechtlichen Verbotes sagen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat gesagt: Ein ausnahmsloses Verbot ist auf Satzungsrecht nicht zu stützen, dafür brauchen Sie eine gesetzliche Grundlage. Ansonsten hat es diese Frage gar nicht wirklich beantwortet.
Ich möchte nochmal ganz kurz etwas dazu sagen, warum es in diesem Berliner Verfahren überhaupt zu so einer Entscheidung gekommen ist. Es war letztlich so, dass uns ein Angehöriger einer Person angerufen hat, bei der innerhalb von zwei Tagen nach dem Anruf eine Suizidassistenz durchgeführt werden sollte. Und es hieß, diese Frau sei gar nicht erkrankt! Die Ärztekammer Berlin war dann in der Situation, dass sie entscheiden musste, was sie innerhalb von zwei Tagen macht. Und sie hat innerhalb von zwei Tagen vorsorglich eine Untersagungsverfügung ausgesprochen. Weil es sich um einen sehr bekannten Arzt und Sterbehelfer handelte, hat sie untersagt, auch keine tödlich wirksamen Medikamente an andere auszuhändigen. Da die eigentlich in dem Fall betroffene Frau zwischenzeitlich gestorben war, ging es im Berliner Urteil nur noch um das allgemein ausgesprochene Verbot, der Hauptteil dieses Verfahrens hatte sich bereits erledigt. Das Gericht hat dann entschieden, dass Ärztekammern ein solches Verbot nicht ausnahmslos erteilen dürfen. Und nur aus diesem Grund, weil dort eben hilfsweise ein ausnahmsloses Verbot ausgesprochen worden ist, hat das Berliner Gericht ein – wie ich jetzt finde – sehr gutes und ausgewogenes Urteil getroffen, indem es gesagt hat, dass diese ausnahmslose Entscheidung nicht rechtmäßig ist. Den hier in Rede stehenden Ausnahmefall hätte die Ärztekammer auch nie verfolgt. Die Ärztekammer hätte niemanden berufsrechtlich verfolgt, wenn eine Ausnahme, ein Grenzfall vorgelegen hätte, in der jemand tatsächlich körperlich schwer erkrankt war und dieser Mensch gewünscht hätte, sein oder ihr Leiden zu beenden.
Ich habe übrigens damals den Kläger gefragt: Wenn Sie denn eine Entscheidung herbeiführen möchten, die auch für Deutschland eine Rechtsentwicklung in Ihrem Sinne voranbringt, warum suchen Sie sich nicht einen kranken Patienten? Da wurde mir gesagt: Weil wir keinen Zugang haben zu kranken Patienten. Die sind nämlich in den Hospizen, die sind in den Krankenhäusern. Und deswegen betreffen sämtliche Urteile im Wesentlichen gesunde Patienten.

Johann F. Spittler: Ich beschränke mich mal auf diese letzte Frage, weil sie mich natürlich auch lange beschäftigt hat. Ich habe fast 500 Patienten persönlich ausgiebig gesprochen. Und es gibt Situationen fortgeschrittener metastasierter Karzinome mit einer mutmaßlichen Lebenserwartung von wenigen Wochen, manchmal sogar nur Tagen, die sagen: Ich möchte jetzt nicht weiter. Solche Fälle haben wir. Und dann gibt es tatsächlich Fälle von durchaus gravierenden körperlichen Erkrankungen, also jedenfalls nicht lebensbedrohlich, wo man dann gefragt wird, und zwar sehr persönlich gefragt wird: Ich möchte nicht mehr! Da steht man vor der Entscheidung: Sage ich dem ‚Sieh doch zu, wo Du bleibst!‘? Pardon, das war sehr grob gesagt.
Die Frage des Alterssuizids vertrete ich ganz klar. Aber ich möchte noch auf die dritte Gruppe eingehen, die mich auch intensiv beschäftigt hat. Ich hätte mir in meinem neurologischen Vorleben, wo wir uns um Milligramme, Millisekunden, Millivolt und solche Sachen kümmern, ich hätte es mir in meinen düstersten Träumen nicht vorstellen können, was ich für persönliche Geschichten von Menschen mit psychischen Problematiken einmal in meinem Leben zu sehen und zu hören bekommen würde – zu meinem Entsetzen: Frauen mit Missbrauch in der Kindheit, die in ihrem Leben einen beruflichen Weg gemacht haben, dann in irgendwelchen anderen Lebenssituationen gescheitert sind, und sozial völlig desintegriert sind, immer noch mit dieser alten Qual und Problematik. Und natürlich habe ich davor gesessen und mich gefragt: ‚Um Himmels willen dieser Mensch ist nicht krank. Aber ich sehe keine Möglichkeit, diesem Menschen zu sagen: Sieh doch zu, wo Du bleibst!‘
Das heißt, ich stimme Ihnen zu: Wir haben es mit einer Ausweitung zu tun. Aber wenn die Menschen sich eigeninitiativ, frei verantwortlich an einen Verein wenden, der ihnen diese Möglichkeit bietet, dann sehe ich nicht mein Recht, ihnen zu sagen: ‚Du kannst mir erzählen, was Du willst, ich mache das nicht!‘ Und, wie gesagt: Mich haben die 12 einsamen Suizide nach Therapieauflage, nach Wiederholungsuntersuchungsauflage, die haben mich verstört.
Deshalb bin ich der Meinung, wir sollten sehr gründlich untersuchen. Ich hoffe, dass das BVerfG eine Möglichkeit schafft, wo man wiederholt tätig werden kann; wo man mit der Expertise, die man gesammelt hat, tätig werden kann und wo man diesen Menschen eine Möglichkeit anbieten kann; gerne mit staatlichen, administrativen Auflagen. Es gibt nun mal Menschen, die sehr selbstbestimmt sind und leben wollen. Und ich habe mich mit den Entscheidungen schwer getan, aber habe mich in vielen Fällen dem nicht entziehen können.

Martina Jaklin: Ich bin gefragt worden, wie ich mir die Rahmenbedingungen eines humanen Sterbens vorstelle. Und da will ich jetzt mal so einen ganz persönlichen Wunsch äußern, der vielleicht auch nicht ganz realistisch ist: Ganz, ganz viel Geld in die Palliativmedizin; ganz viel Geld für alle die, die Sterbende begleiten. Und ganz viel Aufklärung, sodass ich nicht alleine bin, wenn ich in dem Sterbeprozess bin, wenn ich schwer erkrankt bin. Was mir große Angst machen würde bzw. eine Gesellschaft, in der ich eigentlich nicht leben will, wäre eine Gesellschaft, in der es Ärzte gibt, die dafür zuständig wären, jedem den Suizidwunsch zu erfüllen, der einen festgefügten Sterbewunsch hat – egal welches Alter und egal in welchem Zustand;und das parallel zu einem unter enormen Kostendruck stehenden Gesundheits- und Sozialsystem. Das finde ich eine Horrorvorstellung.

Eric Hilgendorf: Ich kann mich Frau Jaklin weitgehend anschließen. Auch der Sterbende hat Menschenwürde, hat Menschenrechte. Er kann entscheiden auch über sein Lebensende. Eine Assistenz beim Suizid sollte ein extremer Ausnahmefall bleiben; in vielen Fällen wird man auf andere Weise helfen können. Ärzte wissen wie, deshalb halte ich es für ganz wichtig, dass dieses Geschehen in ärztlicher Hand bleibt, in der Hand von Experten, die sich durch das ärztliche Ethos gebunden fühlen. Und mittelfristig, denke ich, werden wir auch dahin kommen, dass wir einen vernünftigen Weg finden.
Der § 217 ist schlechtes Recht und sollte beseitigt werden. Das ganze Geschehen sollte bei den Ärzten bleiben, aber wenn dann so nachgedacht wird, wie das Frau Jaklin getan hat, bin ich eigentlich guter Dinge, dass wir mittelfristig zu einer tragfähigen Lösung kommen.

Elisa Hoven: Dann danke ich den Referenten noch einmal ganz herzlich für die klaren Schlussstatements.

PROF. DR. ELISA HOVEN   hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medienstrafrecht an der Universität Leipzig inne.

PROF. DR. DR. ERIC HILGENDORF   ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. Medizin- und Biostrafrecht, Bioethik, Computer- und Internetstrafrecht.

MARTINA JAKLIN   ist die Leiterin der Abteilung Berufs- und Satzungsrecht der Ärztekammer Berlin. Ihr Aufgabengebiet umfasst u.a. die Betreuung der berufsaufsichtsrechtlichen Verfahren und Satzungsverfahren sowie die berufsrechtliche Beratung der Kammermitglieder.

PD DR. JOHANN F. SPITTLER   ist seit vielen Jahren als klinisch-neurologischer sowie psychiatrischer Gutachter tätig. Er hat bereits 494 psychiatrische Gutachten zur Entscheidungskompetenz Sterbewilliger verfasst und arbeitete bis zum Inkrafttreten von §217 StGB u.a. mit Dignitas Schweiz sowie Sterbehilfe Deutschland zusammen.

Anmerkungen:

1 VG Berlin, Urteil der 9. Kammer vom 30. März 2012 – VG 9 K 63.09.
2 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt, geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018, abrufbar unter https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf.
3 Vgl. Bundesärztekammer (2011), Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt 108 (7) v. 18.02.2011, S. 346 ff.
4 Gemeint ist der Berliner Hausarzt Dr. Christoph Turowski, gegen den nach dem Suizid einer Patientin von ihm wegen Förderung des Suizids und unterlassener Hilfeleistung ermittelt wurde. Turowski wurde vom LG Berlin (8. März 2018 – 502 KLs 1/17) sowie vom Bundesgerichtshof (3. Juli 2019 – 5 StR 393/18) freigesprochen.
5 Bundesgerichtshof, Urteil v. 2.4.2019 – Az. VI ZR 13/18.
6 S. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Stellungnahme zur mündlichen Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 16. und 17. April 2019 in Sachen „§ 217 StGB (geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung)“ v. 13.3.2019, S. 4.

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