Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

„Heteronome Fremd­be­stim­mung“

Ungereimtheiten und problematische Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB. In: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 23-26

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB hat erwartungsgemäß große Resonanz gefunden und, je nach Voreinstellung der Betroffenen, Beunruhigung und Sorge bzw. Freude und Erleichterung hervorgerufen. Im Folgenden geht es nicht darum, die entsprechende Grundsatzkontroverse weiterzuverfolgen. Stattdessen sind auf knappem Raum drei besonders bedenkliche Aspekte der Entscheidung zu beleuchten: Sie ist, erstens, durch Widersprüche und Inkonsistenzen gekennzeichnet (dazu 1.). Sie lässt, zweitens, eine tragfähige Begründung für ihre zentrale Aussage vermissen (dazu 2.). Drittens schließlich enthält das Urteil zwar Hinweise für eine mögliche zukünftige Regelung. In Verbindung mit seinen problematischen Grundannahmen ergibt sich aber eine kaum lösbare Regulierungsaporie (dazu 3.).

1. Die Urteilsgründe lesen sich, als seien formal wie inhaltlich disparate Versatzstücke hastig zusammengefügt worden, um eine möglichst breite Mehrheit im Senat zu sichern. Die Begründung erhält auf diese Weise eine eigenartige Schieflage; sie erscheint als schlechter Kompromiss. So wird die Vorgehensweise des Gesetzgebers zunächst ausdrücklich gebilligt. Zumal dessen Annahme, mit der „Geschäftsmäßigkeit“ ginge eine (abstrakte) Autonomiegefährdung einher, wird – auch unter dem Eindruck der Ausführungen der sachverständigen Personen in der mündlichen Verhandlung, die dies in der Tat weitgehend bestätigten – als plausibel bezeichnet und akzeptiert. Eben dieses Argument des intendierten Autonomieschutzes wird jedoch in der Angemessenheitsprüfung kaum noch erwähnt, geschweige denn ordnungsgemäß in den Abwägungsprozess einbezogen. Im Gegenteil geht das Urteil hinter seine eigenen Ausführungen zurück und verweist auf die Unzulässigkeit eines gegen die Autonomie gerichteten Lebensschutzes. Ganz am Ende erfolgt eine unvermittelte Bemerkung zur fehlenden Pflicht, Suizidwünsche zu unterstützen – das steht in einem Spannungsverhältnis zur Vorgabe, verlässliche reale Zugangsmöglichkeiten sicherzustellen.

2. Die teilweise stark überzogene Sprache stellt schon prima facie ein Indiz für argumentative Schwächen dar. Wer nicht überzeugen kann, übertreibt. Das zeigt sich bereits am Pleonasmus „autonome Selbstbestimmung“. Ferner hat aus Sicht des Gerichts der Gesetzgeber eine „autonomiefeindliche“ Regelung getroffen (die aber zugleich, s.o., anerkanntermaßen dem Autonomieschutz dient). Die Unangemessenheit der Regelung wird damit begründet, durch § 217 StGB werde „die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt“ und „faktisch weitgehend entleert“. Damit werden, selbst wenn man die Prämisse mitträgt, dass sich Selbstbestimmung gerade in Fremdbeteiligung (und entsprechender Abhängigkeit und Einflussnahmemöglichkeit) äußert, Reichweite und Bedeutung von § 217 StGB massiv überdehnt. Von einer „vollständige[n] Suspendierung individueller Selbstbestimmung“ kann keine Rede sein: Die Norm beinhaltet das Verbot eines Teilbereichs eines Teilbereichs des selbstbestimmten Sterbens. Nicht der Suizid und auch nicht die Beihilfe hierzu werden kriminalisiert, sondern nur die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe – aus Gründen, die dem Gericht wie gezeigt durchaus einleuchten. Die Entscheidungsbegründung argumentiert nun, unter Rückgriff auf die reichlich unbestimmte Figur der „Einheit der Rechtsordnung“, § 217 StGB sei nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil einer insgesamt den Zugang zu Suizidassistenz unzulässig erschwerenden Rechtslage. Das mag man so sehen, auch wenn es angesichts von ca. 10.000 Suiziden pro Jahr allein in Deutschland manchem zynisch und praxisfremd erscheinen wird. Jedenfalls aber erklärt es nicht, warum Abhilfe ausgerechnet von den Sterbehilfeorganisationen geleistet werden soll, deren Treiben das Gericht unter Verweis auf die Erkenntnisse aus der mündlichen Verhandlung sehr kritisch sieht.
(Nur am Rande sei angemerkt, dass die Widersprüche sich nicht auf die hier thematisierte Entscheidung beschränken. Mit einem nur einen Tag später veröffentlichten Beschluss wurde vom gleichen Senat eine landesgesetzliche Regelung zum „Kopftuchverbot“ bestätigt. Das deutet darauf hin, dass das einseitige, sie absolut setzende Verständnis von Autonomie, das im Angemessenheitsteil des Urteils zu § 217 StGB zum Ausdruck kommt, [noch] nicht allumfassend gilt. Konsistent und überzeugend ist dies nicht.)

3. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Gesetzgeber zu kontrollieren, ist demokratisch besonders heikel. Sie ist daher zurückhaltend-sensibel, am Gewaltenteilungsprinzip orientiert wahrzunehmen. Es wirft zumindest Zweifel an einem diesem Grundsatz entsprechenden judicial self-restraint auf, wenn auf einen außerordentlich intensiven und ungewöhnlich partizipativen Gesetzgebungsprozess eine verfassungsgerichtliche Entscheidung folgt, der zufolge nicht nur der Mehrheitsbeschluss, sondern letztlich alle vier im Bundestag diskutierten Gesetzentwürfe verfassungswidrig sind. Im Übrigen ist das Gericht entgegen teilweise geäußerter Kritik nicht gehindert, Hinweise zu möglichen Neuregelungen zu treffen. Das entspricht gängiger Praxis der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und ist sinnvoll. Allerdings ist nicht erkennbar, wie der Gesetzgeber im vorliegenden Fall den widersprüchlichen Vorgaben des Gerichts genügen soll. Insbesondere bleibt das Verhältnis einer möglichen Regulierung zum übergeordneten Ziel eines „real eröffneten“ Zugangs zur Suizidassistenz unklar. Der Urteilsbegründung zufolge ist ein „faktisch hinreichende[r] Raum zur Entfaltung und Umsetzung“ zu gewährleisten. Verbindet man dies mit der Be- bzw. Abwertung des § 217 StGB, wäre wohl nur eine den Zugang kaum beschränkende Regelung verfassungskonform. Der Gesetzgeber dürfte also nur weitgehend ineffektive Sicherungsmechanismen schaffen; er erzeugte damit gleichwohl den Eindruck einer – typischerweise: wirksamen – staatlichen Kontrolle. Völlig offen ist ferner, wie mit faktischen Hindernissen umzugehen ist, die die Tätigkeit der Sterbehilfeorganisationen erschweren. Das betrifft etwa die Frage der verfügbaren Mittel, aber auch die Beteiligungsbereitschaft der Ärzte und damit verbundene Qualitäts- und Qualifikationsanforderungen. Besondere, etwa berufsethisch begründete, Schwierigkeiten stellen sich bei Suizidassistenzbegehren von (noch) Gesunden. Konsequenterweise hätte das Urteil eine „flächendeckende Grundversorgung“ mit Suizidassistenz einfordern müssen. Stattdessen endet es mit der genannten, der zuvor bemühten Begründungsstrategie zuwiderlaufenden Aussage, eine „Verpflichtung zur Suizidhilfe“ dürfe es nicht geben.

Fazit: Die Entscheidung betrifft ein grundsätzliches Dilemma unserer Gesellschaft. Sie steht, wie die beschwerdegegenständliche Strafnorm, für die Schwierigkeiten, relationale Autonomie zu bestimmen und abzusichern. Dass man hier unterschiedliche Auffassungen vertreten kann, versteht sich eigentlich von selbst. Die Entscheidung zu § 217 StGB wird indes, insbesondere infolge der überschießenden und übersimplifizierenden Rhetorik, dieser komplexen Problematik nicht gerecht. Sie beansprucht in Inhalt, Sprache und Habitus eine Überlegenheitsposition des Verfassungsgerichts, die dessen verfassungsnormative Funktion überspannt. Hieraus können sich negative Auswirkungen ergeben, die über den konkreten Sachzusammenhang hinausreichen. Was sagt es über die politische Autonomie des Bürgers, wenn sie im Namen der grundrechtlichen Autonomie derart leicht zur Seite geschoben werden kann? Das Vorgehen des Gerichts bedient – zuletzt vermehrt zu beobachtende – Wahrheits- und Einheitssehnsüchte, deren Wurzeln letztlich im traditionellen obrigkeitsstaatlichen Denken liegen. Das beschädigt die pluralistische und damit notwendig relativistisch-tolerante Demokratie.

 

Prof. Dr. Steffen Augsberg ist Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Er gehört zu den Verfassern eines 2014 vorgestellten Gesetzentwurfs zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (mit der Deutschen Stiftung Patientenschutz) und war Verfahrensbevollmächtigter des Deutschen Bundestages im Rahmen der Verfassungsbeschwerden gegen § 217.

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