Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

Ist § 217 StGB verfas­sungs­ge­mäß?

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 27-34

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt. In ihrem Kommentar geht Rosemarie Will vor allem auf die grundrechtsdogmatischen Aspekte der Entscheidung ein. Sie weist insbesondere die Kritik an dem Urteil zurück, es stelle einen radikalen Bruch mit der bewährten Rechtskultur dar und stelle eine Abkehr von der lebensschutzfreundlichen Auslegung der Selbstbestimmung dar. Dagegen zeigt sie auf, in welcher Weise der Schutzbereich des selbstbestimmten Sterbens neu begründet wurde.

Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht § 217 StGB als mit dem Grundgesetz für unvereinbar und nichtig erklärt.[1] Das kam in dieser Klarheit sowohl für Gegner als auch Befürworter von § 217 StGB überraschend. Sieht man sich die vorstehende Diskussion zwischen Friedhelm Hufen und dem „Architekten“ der Regelung, Steffen Augsberg, an (s.S. 7ff. dieser Ausgabe), wird das sehr deutlich. Obwohl Hufen ein sehr konsequenter Streiter für ein selbstbestimmtes Sterben ist, hatte er mit der vollständigen Aufhebung von § 217 StGB nicht gerechnet. Augsberg hingegen war auch nach der mündlichen Verhandlung noch davon überzeugt, dass die entscheidenden Abwägungen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Grundrechtseingriffs zu Gunsten des Gesetzgebers ausgehen werden.

Bei mir als Moderatorin dieses Panels hatte die mündliche Verhandlung einen tiefen Eindruck hinterlassen und mich davon überzeugt, dass es für die Beschwerdeführer in Karlsruhe gut ausgehen werde. Es war vor allem die Art und Weise, wie Johannes Masing die Befragung in der mündlichen Verhandlung gestaltete und wie seine Art des Herangehens an die Rügen der Beschwerdeführer zunehmend die ganze Richterbank erfasste. Masing ist eigentlich Richter im Ersten Senat, war aber wegen des Ausscheidens von Richter Müller (Anschein der Befangenheit) als achter Richter für dieses Verfahren dem Zweiten Senat zugelost worden. Das war ein Glücksfall. Masing als Böckenförde-Schüler und Inhaber des großen Grundrechtsdezernats im Ersten Senat teilt nicht die Ehrfurcht vor dem Strafgesetzgeber, wie sie im Zweiten Senat üblich ist. Er maß den Strafgesetzgeber ersichtlich am Maßstab der Grundrechte, wie jeden anderen Gesetzgeber auch. Danach kann der Gesetzgeber nicht einfach durch eine Mehrheitsentscheidung Verhalten unter Strafe stellen; auch oder gerade beim Strafen ist die grundrechtliche Freiheit zu beachten und zu wahren. Dieser Gestus von Masing, der eine Strafrechtsnorm genauso am Maßstab der Grundrechte prüft wie ein Versammlungsverbot, und der den Kern grundrechtlicher Freiheit in der individuellen autonomen Selbstbestimmung verankert, ist die naheliegendste Erklärung dafür, wieso diesmal der Zweite Senat tatsächlich ein Strafgesetz aufhob.

Das Urteil

Die Humanistische Union hatte sich gegen die Einführung von § 217 StGB mit einer Fülle von bürgerrechtlichen Stellungnahmen und Einzelaktionen gewandt (s. Editorial dieser Ausgabe). Auch als uns vom BVerfG gemäß § 27 BVerfGG Gelegenheit zur Stellungnahme im Verfahren gegen § 217 StGB gewährt wurde, haben wir vertreten und begründet, dass § 217 StGB verfassungswidrig ist (vgl. zu unserer Stellungnahme im Urteil Rn. 163-173). Jetzt, wo das Urteil unsere Kritik bestätigt hat, ist dennoch nicht der Zeitpunkt sich zurückzulehnen und zu denken, es sei geschafft! Bis zur Herstellung wirklicher Selbstbestimmung beim Sterben ist es noch ein weiter Weg. Bei der Analyse des Urteils muss es für uns als Menschenrechtsorganisation darum gehen, genau zu erfassen, wo wir mit in diesem Urteil tatsächlich angekommen sind. Bei unserem Fachgespräch am 9. März habe ich dies in die Eingangsfrage gekleidet: Was ist neu bzw. alt am Urteilsspruch?[2] Im Folgenden will ich deshalb kurz, wie es eine juristische Grundrechtsprüfung vorgibt, analysieren, wie das Urteil den Schutzbereich der Freiheit beim Sterben und den Eingriff durch § 217 StGB bestimmt und warum das Gericht diesen Eingriff als nicht gerechtfertigt und deshalb als verfassungswidrig ansieht.

Das Verfassungsgericht geht in seinem Urteil, wie auch schon das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zum tödlichen Medikament, davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Dieses Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu setzen, sei deshalb als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Diese Freiheit umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Diese Bestimmung des Grundrechtsschutzes für den Suizid ist nicht neu; nur eine Minderheit um D. Lorenz und Udo Di Fabio hat ihn immer wieder bestritten,[3] was aber die Bundesregierung nicht hinderte, sich auf Di Fabio als Gutachter in der Sache zu stützen. Das BVerfG beruft sich auch zu Recht darauf, dass schon der EGMR das so judiziert hat.[4]

Was bei seiner Schutzbereichsbestimmung aber hervorsticht, ist die sehr stark betonte Verbindung mit der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und die strikte Zurückweisung der Gegenmeinung: „Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt.“ (Rn. 211) Für den Suizidenten bedeutet Wahrung seiner Würde nach dem Urteil vielmehr, „dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird … Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ (Rn. 210). Indem dieses Würdeverständnis zum Ausgangspunkt der Schutzbereichsbestimmung für das Recht auf Suizid gemacht wurde, hat das BVerfG den Rubikon für das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben überschritten. Dieser Schritt wurde zwar vom BGH und auch vom BVerwG vorbereitet, aber in dieser Konsequenz bisher weder ausgesprochen noch judiziert. Darin besteht das neue Verfassungsrecht, dass mit dem Urteil begründet wurde. Demgegenüber scheint das Einbeziehen externer Hilfe beim selbstbestimmten Sterben in den Schutzbereich nicht von solchem Gewicht; sie ist aber für die praktische Tätigkeit der Sterbehilfevereine und der Ärzte von großer Bedeutung.

Bei der Eingriffsbestimmung geht das BVerfG von einem faktischen Eingriff aus, da § 217 Abs. 1 StGB es den Beschwerdeführern faktisch unmöglich machte, die von ihnen gewählte geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, weil die Anbieter ihre Tätigkeit nach Inkrafttreten von § 217 StGB einstellen mussten (Rn. 215ff.).

Im dritten Schritt der Grundrechtsprüfung wird festgestellt, ob der Eingriff gerechtfertigt oder verfassungswidrig ist. Dabei misst das BVerfG das Verbot am strikten Verhältnismäßigkeitsprinzip (Rn. 213ff.). Dazu muss es geeignet und erforderlich sein, um die von ihm verfolgten legitimen Zwecke zu erreichen, und die Einschränkungen des grundrechtlichen Freiheitsraums müssen angemessen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Regelungen der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Schutzaspekte bewegt: Der Schutz der autonomen Selbstbestimmung des Suizidenten und dessen Lebensschutz. Diesen Anforderungen genüge § 217 StGB nicht. Er diene zwar legitimen Gemeinwohlzwecken und sei auch geeignet, diese zu erreichen aber er sei nicht angemessen. „Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist …, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“ (Rn. 264). Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu stehe nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. § 217StGB verenge aber die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, sodass faktisch kein Raum zur Wahrnehmung dieser verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibe. „Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seine Grenze aber dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird“ (Rn. 274). Diese Abwägung folgt konsequent dem zu Grunde gelegten Verständnis der Menschenwürde. Die staatliche Schutzpflicht zugunsten des Lebens des Suizidenten tritt damit hinter den Schutz seiner autonomen Selbstbestimmung zurück. Sie erhält erst dort den Vorrang, wo die Selbstbestimmung über das eigene Leben nicht stattfinden kann.

Die Ausein­an­der­set­zung über Würde und Selbst­be­stim­mung beim Sterben

Das BVerfG kann den gesellschaftlichen Streit, der in einem Gesetzgebungsverfahren geführt wird (auch wenn er wie im Fall von § 217 StGB sehr tief geht), mit höchster Autorität unter Berufung auf die Normen des Grundgesetzes entscheiden – anders als der (einfache) Gesetzgeber. Darin besteht seine verfassungsschützende Funktion: Es kann und soll Mehrheitsentscheidungen aufheben, wenn sie die Grundrechte des Einzelnen oder grundlegende, den demokratischen Staat organisierende Regeln verletzen. Nur wenn dies passiert, wird die Bindung der gesetzgeberischen Mehrheit an die Verfassung auch durchsetzbar.

Die bundesdeutsche Gesellschaft hat grundsätzlich gelernt, dies zu akzeptieren. Gleichwohl geht nach jeder, zumal nach jeder so grundsätzlichen verfassungsgerichtlichen Entscheidung wie dieser, die strittige Diskussion weiter. Die Vertreter beider christlichen Kirchen haben das Urteil umgehend scharf kritisiert. In einer gemeinsamen Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Kardinal Reinhard Marx, und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, heißt es: „Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. … Die Würde und der Wert eines Menschen … sind Ausdruck davon, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn bejaht und dass der Mensch sein Leben vor Gott verantwortet.“[5] Deshalb dürfe die Beihilfe zum Suizid nicht straffrei sein. In ihrer Stellungnahme zum Verfahren hatten sie, wie auch der Zentralrat der Juden in Deutschland die Auffassung vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht kein absolutes Verfügungsrecht über das eigene Leben umfasse.

„Die Autonomie des Grundrechtsträgers finde ihre Grenze in der individuellen physischen Existenz des Menschen. Die zielgerichtete Vernichtung des eigenen Lebens sei deshalb kein Ausdruck möglicher Persönlichkeitsentfaltung und somit grundrechtlich nicht geschützt. Die Garantie der Menschenwürde scheide als rechtliches Fundament eines Rechts zur Selbsttötung von vornherein aus, da der Suizident sich durch die Tötung der vitalen Basis der Menschenwürde beraube. Der grundgesetzlich geschützte Gehalt der Menschenwürde dürfe ferner deshalb nicht auf absolute Autonomie des Einzelnen verkürzt werden … Dem durch Art. 1 Abs. 1 GG normativ gesetzten Menschenbild wohne als Grundlage einer humanen Verfassungsgemeinschaft ein Moment objektiver Menschenwürde inne, das nicht zur Disposition des Einzelnen stehe“ (Rn. 146).

Im Urteil ist dies ausdrücklich zurückgewiesen worden. „Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht.“ (Rn. 210) Man mag dies nur für eine Klarstellung bereits früherer vom Gericht entwickelten Positionen halten, für die Ausformung des Rechtes auf selbstbestimmtes Sterben hat diese Klarstellung den Charakter eines Meilensteines. Zudem ist für uns als Menschenrechtsorganisation das im Urteil vertretene Menschenbild und Grundrechtsverständnis auch über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben hinaus, maßgeblich und von grundsätzlicher Bedeutung.

Die Kirchen mit ihrer Kritik verweigern sich dem weiter. Sie unterstellen, dass die individuelle Entscheidung zu Krankheit und Tod nach eigenen Maßstäben das ethische Fundament unserer Gesellschaft untergrabe. Sie fordern vom Gericht die gesellschaftliche Durchsetzung eines christlichen Menschenbildes, das letztlich die freiverantwortliche Suizidentscheidung nicht anerkennt. Die Kritik der Kirchen belegt aber nur das Auseinanderdriften zwischen der von ihnen vertretenen Auffassung und der in der Gesellschaft herrschenden.

Wie wirkmächtig solche Ansichten dennoch sind, hat Peter Dabrock als Vorsitzender des deutschen Ethikrates sowohl in unserer Diskussion im 3. Panel (s.S. 57 ff. dieser Ausgabe) als auch in seiner Reaktion unmittelbar nach dem Urteil demonstriert.[6] Das Verfassungsgericht habe „ein Anspruchsrecht auf Verwirklichung“ des Suizid kreiert, was alles verkehre, „was das Gericht bislang über Menschenwürde gesagt hat. Es ist ein radikaler Bruch mit der bewährten Rechtskultur, die Selbstbestimmung achtet und schützt, aber immer auch lebensschutzfreundlich ausgelegt hat.“ Anders als der evangelische Theologe Dabrock propagiert, ist das Urteil kein radikaler Bruch mit der bisherigen Rechtskultur. Nach den dazu im Ethikrat geführten Diskussionen redet er auch wider besseres Wissen, ganz als theologisches Sprachrohr. Das Gericht hat nun sehr deutlich gemacht, dass die von den Kirchen vertretenen Positionen verfassungsrechtliche Minderheitspositionen sind.

Es kann auch nicht die Rede davon sein, dass der Lebensschutz, wie Peter Dabrock suggerieren will, im Urteil nichts zähle und die Aufhebung von § 217 zur Normalisierung des Suizides beitrage, weil sie aus dem Recht auf Selbsttötung ein Jedermannsrecht mache, das nicht mehr Abwehrrecht, sondern Anspruchsrecht sei. Abgesehen davon, dass Menschenrechte immer Jedermannsrechte sind, kreiert das Urteil keinen Anspruch auf Selbsttötung; vielmehr wird das Recht auf Selbsttötung durchgängig als individuelles Abwehrrecht beschrieben. Allerdings wird in der Lesart des Urteils durch den Theologen Dabrock sehr klar, wo die Differenzen zwischen einem christlichen Menschenbild und dem Menschenbild des Grundgesetzes liegen. Anders als dem christlichen Menschenbild liegt der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. Bei der Abwägung zwischen der staatlichen Lebensschutzpflicht gegenüber dem Sterbenden und dem Schutz seiner Autonomie findet der Lebensschutz im Urteil deshalb dort seine Grenze, wo die autonome Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird. Zugleich ist es völlig falsch, den Eindruck zu vermitteln, wonach die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben durch das Urteil dem Gesetzgeber versage, Suizidprävention zu betreiben. Diese ist gerade nicht darauf beschränkt, mit den Mitteln des Strafrechts Angriffe auf die Autonomie zu unterbinden. Im Gegenteil: Er unterliegt weiterhin, auch bei Suizidgefährdeten, „seinen sozialpolitischen Verpflichtungen“. Und gerade deshalb darf er sich diesen nicht dadurch entziehen, indem er autonomiegefährdenden Risiken (etwa in Form von „Defiziten der medizinischen Versorgung und der sozialpolitischen Infrastruktur“) „durch die vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung entgegenzuwirken sucht“. Denn, und das ist der tragende Leitgedanke: „Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet.“ (Rn. 277)

Nach dem Urteil ist vor dem nächsten Gesetz­ge­bungs­ver­fahren

Mit dem Urteil zur Aufhebung von § 217 StGB ist die Suizidassistenz nun wieder straflos. Dagegen ist die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB wie bisher weiter strafbar. Und auch Versuche, die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten einzuschränken oder zu beeinflussen, können wie bereits vor Einführung des § 217 StGB als Tötungsdelikte geahndet werden.

Gleichwohl stehen der Freiheit des Suizidenten und des Suizidassistenten nach wie vor beträchtliche Hindernisse entgegen, die es schon vor der Einführung von § 217 StGB gab. Das sind sowohl die berufsrechtlichen Verbote für Ärzte, Suizidassistenz zu leisten (s. Panel 2) als auch die Weigerung des Gesundheitsministers ein tödliches Medikament den Suizidenten zur Verfügung zu stellen (s. Panel 3). Zudem ist nach dem Urteil sofort die Diskussion um eine erneute Regelung zur Abwendung jener Gefahren entbrannt, die von den Sterbehilfevereinen angeblich ausgeht. Allerdings dürfte die Ankündigung der Bundesjustizministerin, noch in der laufenden Legislaturperiode eine Neuregelung zur organisierten Sterbehilfe anzustreben, nicht nur wegen der Corona Pandemie nicht realisierbar sein.

Um nicht wieder in die alten Fallen hinein zu tappen, muss vor allem das Wirken der in Deutschland tätigen Sterbehilfevereine („Sterbehilfe Deutschland“ und „Dignitas Deutschland“) analysiert und transparent gemacht werden. Nur wenn dies zum Ausgangspunkt gesetzgeberischer Überlegungen gemacht wird, kann ein Regelungskonzept entstehen, dass von den tatsächlichen Erfahrungen und nicht von willkürlich angenommenen Gefahren ausgeht. Die Verfassungsbeschwerden beider Vereine gegen § 217 StGB waren zwar erfolgreich; gleichwohl enthält das Urteil aber auch kritische Anmerkungen zu deren Tätigkeit, die es in einem neuen regulatorischen Konzept zu bedenken gilt. Neue strafrechtliche Regelungen sind zwar nicht ausgeschlossen (Rn. 268, 339), sollten aber nach den bisherigen Erfahrungen nicht präferiert werden.[7]  Darüber hinaus ergeben sich aus dem Urteil sowohl verfassungsrechtliche Regelungsgebote als auch -verbote, denen der Gesetzgeber bei einer Neuregelung nun folgen muss. Das Urteil stellt grundsätzlich fest, dass die Freiheit der Selbsttötung und der Suizidassistenz nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen und gebietet deshalb dem Gesetzgeber, dass jede Einschränkung der assistierten Selbsttötung auch faktisch hinreichend Raum für die Durchsetzung einer freien Entscheidung zur Selbsttötung mit Hilfe Dritter lassen muss. Zu erlauben ist dabei nur jene Hilfe Dritter, die die Freiverantwortlichkeit einer Selbsttötung nicht gefährdet.

Ausdrücklich verfassungsrechtlich verboten wird dem Gesetzgeber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen; sie also etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen (Rn. 340). Das Urteil beschränkt staatliche Interventionen vielmehr ganz auf den Schutz der Selbstbestimmung; diese kann durch medizinische und pharmakologische Qualitätssicherung und durch Missbrauchsschutz ergänzt und gesichert werden (Rn. 338). Weil das Urteil auch neue strafrechtliche Regelungen nicht ausschließt, wird erneut diskutiert werden, welche Formen von Suizidassistenz man strafrechtlich verbieten sollte. Die Diskussion dazu läuft in den Parteien und den zivilgesellschaftlichen Organisationen bereits an und droht sich schon wieder emotional aufzuladen, anstatt die Auseinandersetzung zu rationalisieren. Deshalb ist es mehr als angezeigt, wenn sich jetzt wenigstens die in Karlsruhe unterlegene gesetzgeberische Mehrheit die erforderliche Zeit lässt, um ihre Niederlage zu verarbeiten.

Prof. Dr. Rosemarie Will   war bis 2013 Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und war früher Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg. Sie ist Mitglied der SPD und dort als beratendes Mitglied der SPD-Grundwertekommission aktiv. Sie gehört dem Bundesvorstand der Humanistischen Union an, wo sie vor allem bioethische Themen und den Grundrechte-Report betreut.

Anmerkungen:

[1] BVerfG, Urteil v. 26.02.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a. Alle weiteren Rn.-Zitate ohne zusätzliche Quellenangaben beziehen sich auf diese Entscheidung.

[2] S. Dokumentation des Fachgesprächs vom 9. März 2020, abrufbar unter http://www.humanistische-union.de/themen/bioethik/sterbehilfe/.

[3] Die prominentesten und einflussreichsten Vertreter dieser Minderheit sind: D. Lorenz (HStRVI, § 128 Rn. 62): „Die zielgerichtete Vernichtung des als Substanz’ vor Eingriffen geschützten Lebens beseitigt die existentielle Grundlage menschlicher Persönlichkeit und kann deshalb nicht als deren individuelle Entfaltung – auch nicht als eine Art von (eigenmächtiger) Vollendung – verstanden werden“. Ähnlich restriktiv Di Fabio, in Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 2 Rn. 47: „Ein Recht auf Selbsttötung ist jedenfalls von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht umfasst, die öffentliche Gewalt darf jedem in den Arm fallen, der sich selbst zu töten anhebt. Grenzen werden nur dort sichtbar, wo die grundsätzlich zulässige aufgedrängte Lebenserhaltung den betroffenen Menschen zu einem bloßen Objekt herabwürdigt und ihn in seiner Subjektstellung als freiverantwortlich Handelnden missachtet. Hier sind Grenzfälle denkbar, wo die Gemeinschaft jedenfalls nicht mit Zwangsmitteln der Selbsttötung entgegentreten darf.“

[4] S. Rn. 304; vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, §§ 64 f.; EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, § 51. Dabei beginnt das BVerfG seine Übersicht zur europäischen Rechtslage bei Jacob, vorgänge Nr. 210/211, S. 79 (94 ff.), Rn. 26.

[5] Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelische Kirche in Deutschland zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 26.2. 2020, www.ekd.de.

[6] Vgl. das Interview von Matthias Drobinski mit Peter Dabrock, in: Su¨ ddeutsche Zeitung v. 28.2.2020.

[7] So auch Reinhard Merkel in unserem Fachgespräch am 9. März 2020 (s. Anm. 2).

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