Corona wirkt wie ein Brennglas. Teilhabe und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen in der Pandemie
in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 205-212
Dass die Corona-Pandemie genauso wie die dagegen ergriffenen Hilfsmaßnahmen nicht auf die Lebensverhältnisse aller Menschen gleichermaßen, sondern sozial selektiv wirken und bestehende Ungleichheiten verstärken, ist inzwischen von vielen erkannt und diskutiert worden. Für eine Gruppe stellt diese Pandemie jedoch eine besondere, weil existenzielle Herausforderung dar: für Menschen mit Behinderungen. Ihr Lebensrecht wird nicht nur angesichts aktueller Triage-Kriterien in Frage gestellt, auch der plötzliche Wegfall bestehender Assistenz- und Unterstützungssysteme stellt ihre gesellschaftliche Teilhabe und damit ihre soziale Existenz grundsätzlich in Frage. Der folgende Beitrag von Florian Grams schildert die Auswirkungen der Corona-Pandemie für diese Gruppe und verweist zugleich auf die lange Tradition jener Haltung, die diesem Umgang mit Behinderten zugrunde liegt. Es handelt sich dabei um die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor am 3. Dezember 2020 im Rahmen der Online-Vortragsreihe „Behinderung in Zeiten von Corona“ vom Transfernetzwerk Soziale Innovation (s_inn), der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, des Bochumer Zentrums für Disability Studies (BODYS) und des Sozial-Wissenschaftsladens hielt.
Es ist März 2020, das neue Virus war bereits präsent und doch nicht recht fassbar. In den Geschäften wurden Toilettenpapier und Desinfektionsmittel knapp. Ich saß in einem Café und wartete auf den Beginn einer Sitzung, als mich der Anruf eines Kollegen erreicht: Ich solle bis auf weiteres im Homeoffice arbeiten, bis die Ansteckungsgefahr nicht mehr so groß sei. In den folgenden Wochen gehen fürchterliche Bilder um die Welt. Aus Italien und den USA erhält man den Eindruck, als zöge ein „[…] verlarvter Henker, […] mit einer unsichtbaren Guillotine ambulante […]“[1] durchs Land. Berichte aus Kliniken in Italien und den USA zeigen: Ärzt*innen und Pfleger*innen waren „[…] zunächst machtlos gegen die unbekannte Krankheit, ja, da sie am meisten damit zu tun hatten, starben sie auch am ehesten selbst […].“[2] Doch anders als die Choleraepidemie in Paris 1832 oder die athenische Seuche des Jahres 430 v.u.Z., die wir nur noch aus literarischen Texten und historischen Quellen kennen und die hier beiläufig zitiert wurden, hat diese Pandemie ganz konkrete Auswirkungen auf das eigene Leben.
Schon ein flüchtiger Blick auf meine eigenen Diagnosen macht mir klar, dass mein Risiko eines schweren, gar tödlichen Verlaufs von COVID-19 nach einer Infektion nicht gering wäre. Rückzug und der Verzicht auf soziale Kontakte waren und sind die logische Folge. An der Stelle von Büroalltag, Sitzungsterminen, Vortragsreisen und Veranstaltungen stehen nun Telefonate, Videokonferenzen und Livestreams. Dabei fehlen jedoch die direkten zwischenmenschlichen Kontakte und die Möglichkeiten des informellen Austauschs – eine Onlinekonferenz ist nicht der Ort für Smalltalk. Vor allem aber fehlt die Möglichkeit, unbeschwert Menschen zu treffen, gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen und Spaß zu haben. Diese Wahrnehmung ist jedoch eine recht privilegierte Sicht und damit zumindest unvollständig. Zur Wirklichkeit gehört auch, dass Menschen in stationären Wohneinrichtungen über Wochen gleichsam eingesperrt waren und keine Gelegenheit hatten, Kontakte zu pflegen, dass Beschäftigten der Werkstätten der ohnehin schon schmale Lohn gekürzt wurde und dass Schüler* innen mit Beeinträchtigungen notwendige Assistenzen fehlen.[3]
Der jüngst erschienene Bericht des COVID-19 Disability Rights Monitor verzeichnet eine Vielzahl von Verstößen gegen die Rechte von Menschen mit Behinderungen während der Pandemie. Für Europa verzeichnet der Report vor allem einen Mangel an Kommunikation über die Maßnahmen und hält fest, dass viele Menschen in Einrichtungen gedacht hätten, sie seien verlassen und dem Sterben überlassen worden.[4] Für andere Teile der Welt wird sogar konstatiert, dass die Hälfte der mit Corona in Verbindung stehenden Todesfälle in Wohneinrichtungen gelebt haben und dass in vielen Ländern vor allem Menschen mit Behinderungen in der Pandemie vom Zugang zu medizinischer Versorgung abgeschnitten sind.[5]
Angesichts dieser Befunde ist man geneigt, mit Karl Marx festzustellen, dass „die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei […] unverschleiert vor unseren Augen [liegen], sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen.“[6] Doch selbst für Großbritannien verzeichnet der Report die faktische Durchführung eines eugenischen Programms, da vielen älteren Menschen mit Lernschwierigkeiten die Reanimation vorenthalten worden sei.[7] Auf den ersten Blick mag man diese Befunde noch als fürchterliche Nebeneffekte der schnellen Reaktionen auf die für alle Beteiligten neue Situation einer globalen Pandemie verstehen. Doch bei genauerer Betrachtung der Diskussionen um den Umgang mit Menschen mit Behinderungen unter Corona zeigt sich, dass sich in diesen Debatten ein Menschenbild widerspiegelt, das von Pragmatismus und Utilitarismus geprägt ist und eine lange Traditionslinie besitzt. Diese Traditionslinie gilt es auszuloten, um einige der aktuellen Einlassungen zur drohenden Triagierung in Krankenhäusern und zur Abwägung der notwendigen Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie in ihrer Tiefe ermessen zu können.
Bevor man Krankheiten, Epidemien und Behinderungen als solche erkennen und behandeln konnte, bedurfte es der Einsicht in die Bedingungen ihrer Entstehung und damit auch des Abschieds von der Vorstellung, sie seien Werk oder Strafe Gottes. Insofern beginnt mit der Aufklärung eine neue Form des Blicks auf Krankheit und Behinderung, und es eröffnet sich die Möglichkeit, ihre Folgen medizinisch und politisch zu bearbeiten.[8] Auf diese Weise war der Weg geöffnet, Krankheiten als Folge von gesellschaftlichen Bedingungen zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Zugleich war damit aber auch die Möglichkeit geschaffen, Maßnahmen zur Bekämpfung von Krankheit und Behinderung mit den Mitteln der Kontrolle und der Repression umzusetzen.[9] Angesichts der Tatsache, dass die sich zeitgleich vollziehende Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse „[…] die buntscheckigen Feudalbande […] unbarmherzig zerrissen und kein Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen [hat] als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung'“[10], verwundert es nicht, dass sich sehr bald eine Verbindung zwischen medizinischen Erkenntnissen und wirtschaftlichen Interessen ergeben hat.
Idealtypisch für diesen Zusammenhang stehen die Positionen des Arztes Wilhelm Schallmeyer. In seiner Schrift „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“ stellte er die These auf, dass die Forschungsergebnisse Darwins die Gesellschaft insgesamt vor die Aufgabe stellte, die sittlichen Anschauungen auf den Prüfstand zu stellen.[11] Er ging davon aus, dass sich politische Macht vor allem über die Herstellung guter Vererbungsmöglichkeiten in der Bevölkerung sichern ließe.[12] Um dieses Ziel zu erreichen, formulierte er eine Vielzahl von Forderungen an die Wehrverfassung ebenso wie an die Erziehung der Jugend oder an die Ökonomie des Landes. Vor allem aber auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik vertrat Schallmeyer deutliche Positionen. Er konstatierte, beim vermeintlichen Kampf der Völker um das Dasein käme es „[…] nicht blos auf die Zahl, sondern auch auf die Qualität der Bevölkerung an und deshalb ist auch eine qualitative oder auslesende Bevölkerungspolitik geboten.“[13] Diese Auslese – hielt Schallmeyer fest – „[…] hätte sich beim Menschen selbstverständlich nicht der Vernichtung von Individuen zu bedienen […], sondern würde in ihrer bloßen Fernhaltung von der Fortpflanzung zu bestehen haben.“[14]
Mit dieser Arbeit gewann Schallmeyer im Jahre 1900 den ersten Preis eines von Alfred Krupp ausgelobten Preisausschreibens zur Fragestellung „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innenpolitische Entwicklung und Gesetzgebung des Staates?“ Es ging darum zu erörtern, welche Konsequenzen aus der Evolutionstheorie für das menschliche Zusammenleben zu ziehen wären.[15] Die von Schallmeyer vorgetragenen Positionen waren dabei durchgängig von einem tief verankerten Biologismus getragen und stets der Steigerung des wirtschaftlichen und machtpolitischen Einflusses des Deutschen Reiches verpflichtet.[16] Seine Aussagen entsprachen damit in Gänze dem, was Friedrich Engels in Bezug auf die Arbeiten von Charles Darwin als „[…] Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz […] aus der Gesellschaft in die belebte Natur“[17] identifizierte. Mit seiner Interpretation schuf Schallmeyer eine der theoretischen Grundlagen für die Legitimation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem der Aufrechnung menschlichen Lebens gegen die ökonomische Effizienz.[18] Es kann von daher kaum verwundern, dass seine Ausführungen das besondere Interesse des Industriellen Alfred Krupp fanden. Doch auch unabhängig von der Person Krupps waren und blieben seine Positionen in der Welt und behielten ihre Wirksamkeit, waren und sind sie doch den herrschenden Produktionsverhältnissen eingeschrieben.
Gut zwei Jahrzehnte später – nach einem Weltkrieg und einer steckengebliebenen Revolution[19] – legten der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding ein Werk mit dem unmissverständlichen Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form“ vor. In dem 1920 erschienen Buch radikalisierten die Autoren Schallmeyers Ansätze und votierten offen für die Tötung von Menschen, die sie als blödsinnig – mithin „geistig tot“ – deklarierten, da ihr Tod „[…] für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung […] nicht den kleinsten Nutzen stiftet.“[20] Schon diese Formulierung lässt keinen Zweifel zu, dass es beim Nutzen hier um eine ökonomisch quantifizierbare Größe geht. Noch deutlicher wird dies, wenn ausgeführt wird, dass der Aufwand für „Ballastexistenzen“ in einer Krisensituation „[…] bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtelskräfte.“[21] Zu Recht gilt dieses Werk als Wegbereiter des faschistischen Behindertenmordes. Die Aussagen von Binding und Hoche folgten jedoch vollständig der Logik der Steigerung der ökonomschen Effizienz. Der deutsche Faschismus hat diese Logik entsprechend der Formel „Behinderung = Arbeitsunfähigkeit = Vernichtung“[22] weiter radikalisiert. Auch in dieser Hinsicht zeigte sich die Herrschaft in Deutschland zwischen 1933 und 1945 als ein Bündnis zwischen der faschistischen Partei und den Spitzen der kapitalistischen Wirtschaft, die sich nicht nur in diesem menschenfeindlichen Interesse trafen.[23]
Mit der Befreiung vom Faschismus endeten die Behindertenmorde. Der Blick, der Menschen trifft und ihnen das Lebensrecht abspricht, blieb jedoch wirksam – nicht zuletzt, weil viele Mediziner, Juristen und politisch Verantwortliche in der Bundesrepublik weiter Karriere machen konnten.[24] Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi beschrieb diesen Blick eindrucksvoll als von einem Verstand geleitet, der das Gegenüber mit der folgenden Feststellung taxieren kann: „Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist.“[25] Nach wie vor wurden Menschen mit Behinderungen nach ihrer Leistungsfähigkeit bewertet, wie sich spätestens mit der Veröffentlichung des Buches „Praktische Ethik“ des australischen Bioethikers Peter Singer im Jahre 1979 zeigte. Singer distanzierte sich eindeutig von faschistischen Mordaktionen, bestand jedoch darauf, dass die Auffassung von der Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens überholt und angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen durch eine rationale Ethik zu ersetzen sei. Im Rahmen dieser Ethik sei es notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten.[26] In „Praktische Ethik“ stellte Singer Überlegungen an, wie die Tötung von Menschen mit Behinderungen auch emotional zu legitimieren sei und argumentierte mit der Summe des Glücks. Zwar gab er zu, dass sich Glück vermindert, wenn ein Leben beendet wird, doch gebe der Tod eines behinderten Menschen einem gesunden Kind die Chance, anstelle des toten Kindes in die Familie geboren zu werden. Da Behinderung immer mit Leid und also Unglück konnotiert sei, sei die Summe des Glücks bei der Geburt des zweiten – gesunden – Babys aber insgesamt größer als hätte das behinderte Kind überlebt.[27] Auf diese Weise werden in dieser Ethik sogar Gefühle zu Zahlen, die gegeneinander aufgerechnet werden können.
Franz Christoph – ein Aktivist der Krüppelbewegung – hielt dem Australier entgegen, sein Leben sei nicht leidvoller als das Leben anderer Menschen, er lebe vielmehr sehr intensiv. Leid entstünde ihm umso mehr bei der Vorstellung, dass Menschen Menschen aufgrund von Behinderungen umbringen wollten, anstatt Barrieren abzubauen und das Leben von Menschen mit Handicap zu erleichtern.[28] In der Diskussion um die so genannte Bioethik Peter Singers formulierte die Krüppelbewegung den Grundsatz „Unser Lebensrecht ist nicht diskutierbar!“ und forderte Lebensqualität statt Qualitätskontrolle behinderten Lebens.[29] Die Behindertenbewegung insistierte darauf, dass Behinderungen stets Ausdruck eines sozialen Verhältnisses seien, das Menschen die Entfaltung ihres höchstmöglichen Entwicklungsstandes ermöglicht oder sie an dieser Entwicklung hindert.[30]
Im Kampf der Behindertenbewegung gegen die Infragestellung des Lebensrechts, für Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe sind etliche Erfolge errungen worden – so die Aufnahme des Diskriminierungsverbotes aufgrund von Behinderung ins Grundgesetz und die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. In ihr ist endlich verbrieft, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte genießen wie alle Menschen – auch ein undiskutierbares Recht auf Leben.[31] Zugleich fand das Schlagwort von der Inklusion Eingang in die Leitbilder sämtlicher Behinderteneinrichtungen – freilich nur als Ideal von dem man zugibt, dass es zu keiner Zeit und an keinem Ort wirklich sein wird; das in der Zukunft liegt und zugleich im Nirgendwo.[32] Auf diese Weise wird die Idee von der Inklusion umstandslos in das bestehende Aussonderungssystem integriert und ihr so auch die rebellische Spitze genommen.[33]
Die aktuelle Corona-Pandemie wirft ein grelles Licht auf die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen. Zwar wird die Notwendigkeit ihres Schutzes allenthalben postuliert, allein es fehlt an Schutzkonzepten, die auch ihre gesellschaftliche Teilhabe sichern würden. Vielmehr erlebten die Betroffenen – neben dem Einschluss in ihre Wohnungen und Wohneinrichtungen, dem Zusammenbruch vieler Assistenzsysteme und mangelnder Kommunikation[34] – auch eine gesellschaftliche Diskussion, in der wieder die Frage nach ihrem Lebensrecht aufgeworfen wurde. Wenn etwa ein ehemaliger Investmentbanker im Handelsblatt fragt, ob es gerechtfertigt sei, dass zehn Prozent der Bevölkerung geschont, „[…] 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden […]“,[35] dann meint man dahinter die Stimmen von Binding und Hoche zu hören, die geschrieben hatten, in Krisensituationen sei die Fürsorge für die Schwachen nicht statthaft.[36] Die Abwägung von Menschenleben gegen ökonomische Kennziffern feierte in der Pandemie fröhliche Urständ.
Versteckter und doch vergleichbar verlief die Diskussion über die Frage, welchen Patient*innen – im Falle erschöpfter intensivmedizinischer Ressourcen – die Behandlung vorzuenthalten sei. Im Frühjahr legten acht medizinische Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen für die Zuteilung der intensivmedizinischen Ressourcen vor. Darin hielt man fest, dass ein Behandlungsabbruch nicht aufgrund einer vorliegenden Behinderung oder des kalendarischen Alters vorgenommen werden dürfe.[37] Zugleich wurde jedoch empfohlen, den Allgemeinzustand der Patient*innen anhand ihrer Gebrechlichkeit zu bewerten.[38] In der klinischen Praxis wird mit diesem Instrument aus der Altenmedizin erhoben, wie viel Unterstützung Patient*innen im Alltag benötigen.[39] Legt man diesen Maßstab nun für die Entscheidung über die Gewährung lebensrettender Behandlungen an, führt dies dazu, dass Menschen mit Behinderungen, Einschränkungen und Assistenzbedarf automatisch schlechtere Aussichten auf eine Behandlung haben als Menschen ohne Einschränkungen. Über den Umweg einer vermeintlich objektiven Skala brach auch in diese Debatte die Kategorie einer unterschiedlichen Wertigkeit menschlichen Lebens ein. Menschen laufen damit Gefahr, aussortiert zu werden, weil sie nicht fit genug sind.[40]
Mit Catalina Devandas – der ehemaligen UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen – ist festzuhalten, dass die Corona-Pandemie eine Bedrohung für Menschen mit Behinderungen darstellt, die sie hart trifft und sowohl historische als auch strukturelle Diskriminierungen nährt und vertieft.[41] Die Erfahrungen der vergangenen Monate haben Menschen mit Behinderungen erneut vor Augen geführt, wie dünn der Firnis ihrer Teilhabemöglichkeiten ist und wie schnell auch ihr Lebensrecht wieder in Frage gestellt wird, sobald Ressourcen knapp werden. Es wurde einmal mehr sichtbar, dass Abwertung und Ausgrenzung nach wie vor wirksam sind. Neben und hinter den schönen Worten von Inklusion und Teilhabe stehen noch immer die eiskalten Ideologien und Praxen des Utilitarismus und des Aufrechnens – weil sie eine Widerspiegelung der vorherrschenden ökonomischen Verhältnisse sind. Die hier wirkenden Widersprüche hat die Pandemie wie ein Brennglas gebündelt.
Gegen die benannten Gefahren bedarf es des entschiedenen Eintretens für die volle gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen und auch für die Absicherung der notwendigen Assistenz- und Unterstützungsangebote. Es gilt, allen Menschen gute Lebensqualität zu garantieren, statt Menschen auszusortieren. Dazu gehört zum einen die Abwehr konkreter Bedrohungen – wie sie aktuell in der anhängigen Verfassungsbeschwerde gegen die Regelungen zur Zuteilung der intensivmedizinischen Ressourcen stattfindet – zum anderen aber auch das Beharren auf der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer nicht ausgrenzenden und solidarischen Gesellschaft. In dieser Auseinandersetzung kann unter anderem auf die Erfahrungen der Krüppelbewegung zurückgegriffen werden, die zu Recht darauf bestanden hat, dass ein Leben mit Behinderung ein wertvolles und schönes Leben ist.[42]
FLORIAN GRAMS Jahrgang 1974, ist Historiker, Publizist und Aktivist. Er studierte in Hannover. Langjähriger Lehrbeauftragter an der Hochschule Hannover in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen; mehrere Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen. Er engagiert sich in der selbstbestimmten Behindertenbewegung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Bildungsgeschichte.
Anmerkungen:
1 Heine, Heinrich: Französische Zustände. In: Ders., Werke Band 3 – Schriften über Frankreich. Frankfurt/M. 1968, S. 135.
2 Thuk 2,48 – Thukydides war griechischer Geschichtsschreiber (geboren um 460 v.u.Z.).
3 Vgl. Röhling, Lisa-Maria: Schulassistenzen müssen um ihre Existenz fürchten. In Weser-Kurier vom 14.04.2020, https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-schulassistenzen-muessen-um-ihre-existenz-fuerchten-_arid,1907994.html (Letzter Zugriff: 30.12.2020)
4 Vgl. Coordinating Group of the COVID-19 DRM (Hg.): Disability rights during the pandemic – A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. o.O. 2020, S. 26.
5 Vgl. ebenda, S. 41.
6 Marx, Karl: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien. In: MEW Bd. 9. Berlin 1972, S. 225.
7 Vgl. Coordinating Group of the COVID-19 DRM (Hg.): Disability rights during the pandemic – A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. o.O. 2020, S. 42.
8 Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik – Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/M. 2016, S. 11.
9 Vgl. ebenda, S. 42.
10 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4. Berlin 1959, S. 464.
11 Vgl. Schallmeyer, Wilhelm: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker – Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie. Jena 1903, S. X.
12 Vgl. ebenda, S. 381.
13 Ebenda, S. 336.
14 Ebenda, S. 337.
15 Vgl. Weiss, Sheila Faith: Race hygiene and national Effciency – The eugenics of Wilhelm Schallmeyer. Berkeley 1987, S. 74.
16 Vgl. ebenda, S. 85.
17 Engels, Friedrich: Schreiben an Pjotr Lawrowitsch Lawrow vom 12.-17. November 1875. In: MEW Bd. 34. Berlin 1973, S. 170. (Übersetzung des lateinischen Satzes: „Krieg Aller gegen Alle“.)
18 Vgl. Weiss, Sheila Faith: Race hygiene and national Effciency – The eugenics of Wilhelm Schallmeyer. Berkeley 1987, S. 88.
19 Zum Begriff der „steckengebliebenen Revolution“ vgl. Kolb, Eberhard: 1918/19: Die steckengebliebene Revolution. In: Stern, Carola; Winkler, August (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990. Frankfurt/M. 2001, S. 123.
20 Binding, Karl; Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1922, S. 28.
21 Ebenda, S. 55.
22 Jantzen, Wolfgang: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens. München 1982, S. 156.
23 Vgl. Kühnl, Reinhard: Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus – Faschismus. Reinbek 1971, S. 138.
24 Vgl. Klee, Ernst: Was sie taten – was sie wurden: Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. Frankfurt/M. 1986, S. 14.
25 Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Frankfurt/M. 1961, S. 111.
26 Vgl. Klees, Bernd: Der gläserne Mensch im Betrieb – Genetische Analyse bei ArbeitnehmerInnen und ihre Folgen. Berlin 1990, S. 70.
27 Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1994, S. 238.
28 Vgl. Christoph, Franz: Krüppelschläge – Gegen die Gewalt der Menschlichkeit. Reinbek 1983, S. 35.
29 Vgl. Siebert Annerose: Wahn der Vollkommenheit? Bioethikkonvention, Euthanasie und Menschenbild. Münster 1999, S. 59.
30 Vgl. Degener, Theresia; Köbsell, Swantje: „Hauptsache es ist gesund“? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle. Hamburg 1992, S. 93.
31 Vgl. Art. 4 des Abkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention).
32 Vgl. Hacks, Peter: Lyrik bis Mitterwurzer. In: Ders., Die Maßgaben der Kunst I (Hacks-Werke Bd.
13). Berlin 2003, S. 235.
33 Vgl. Sierck, Udo: Budenzauber Inklusion. Neu-Ulm 2013, S. 41.
34 Vgl. Coordinating Group of the COVID-19 DRM (Hg.): Disability rights during the pandemic – A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. o.O. 2020, S. 28.
35 Tuma, Thomas: Investor Dibelius: „Shutdown der Wirtschaft macht mir mehr Angst als das Virus“. Handelsblatt vom 23.03.2020, https://www.handelsblatt.com/finanzen/anlagestrategie/trends/interview-investor-dibelius-shutdown-der-wirtschaft-macht-mir-mehr-angst-als-das-virus/25671192.html?ticket=ST-20723275-9JPYapb7Pfj0q1AfxGiX-ap1 (Letzter Zugriff: 30.12.2020).
36 Vgl. Binding, Karl; Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1922, S. 55.
37 Vgl. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Hg.): Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen (2. Fassung vom 17.04.2020). o.O. 2020, S. 5.
38 Vgl. ebenda, S. 7.
39 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (Hg.) Clinical Frailty Scale, https://www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A4_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf (Letzter Zugriff: 30.12.2020)
40 Vgl. Tolmein, Oliver: Triage oder inklusive Intensivmedizin?, Blog-Beitrag v. 13.4.2020, https://www.tolmein.de/bioethik/details/artikel/triage-oder-inklusive-intensivmedizin-1373.html (Letzter Zugriff: 30.12.2020).
41 Vgl. Coordinating Group of the COVID-19 DRM (Hg.): Disability rights during the pandemic – A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. o.O. 2020, S. 46.
42 Vgl. Steiner, Gusti: Entwurf eines neuen Selbstbewußtsein. Von einem Behinderten geschrieben. In: Klee, Ernst: Behindertsein ist schön. Unterlagen zur Arbeit mit Behinderten. Düsseldorf 1974, S. 125.