Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 231/232: Zwei Jahre Datenschutz-Grundverordnung

Das "Recht auf Verges­sen­werden" und seine Entwicklung im Lichte aktueller Recht­spre­chung

Das Recht auf Vergessenwerden hat in der öffentlichen Diskussion hohe Wellen geschlagen. Ausgangspunkt war eine 2014 ergangene Entscheidung des EuGH. Jan Weimantel stellt davon ausgehend kurz dar, welchen Niederschlag das Recht auf Vergessenwerden in der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gefunden hat. Daran schließt seine Darstellung der aktuellen Entwicklungslinien in der Rechtsprechung an. Er geht auf die verfassungsrechtliche Verankerung, die Konkretisierung und Erweiterung der Abwägungskriterien, den Umfang der Prüfpflichten von Suchmaschinenbetreibern, die territoriale Reichweite des Löschanspruchs und die Löschpflichten gegenüber Betreibern von Online-Archiven ein. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Recht auf Vergessenwerden als notwendiges Schutzkonzept etabliert hat, zentrale Antworten aber noch ausstehen.

1. Digitale Dateni­so­la­tion als persön­lich­keits­recht­li­ches Schutz­kon­zept

Wie kaum ein anderer juristischer Begriff hat das „Recht auf Vergessenwerden“ in den letzten Jahren auch im öffentlichen und rechtspolitischen Diskurs hohe Wellen geschlagen. Verwunderlich ist dies nicht, denn das Schlagwort trifft einen Nerv: Bildhaft beschreibt es das immer drängendere und allseits spürbare Bedürfnis, angesichts überbordender personenbezogener Datenverarbeitung und dem einhergehenden Kontrollverlust über die eigene Außendarstellung ein wirkungsvolles Gegengewicht zu schaffen. Um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gegenüber der ubiquitären und zeitlich unbegrenzten Verfügbarkeit von Informationen wehrhaft zu machen, sollen Inhalte der digitalen Öffentlichkeit mit zunehmendem Zeitablauf und abnehmendem gesellschaftlichen Interesse wieder entzogen und insoweit „vergessen“ werden.

Liegt die Notwendigkeit effektiver Schutzinstrumente somit auf der Hand, ist die Umsetzung eines solchen Ansatzes aber seit jeher problembehaftet. So wird zum einen schlicht die technische Machbarkeit bezweifelt. Zum anderen schützt die Löschung bzw. Beschränkung von Inhalten nicht nur einseitig die Privatheit, sondern kollidiert gleich mit einer Mehrzahl an gegenläufigen, grundrechtlich verbürgten Interessen. Dem Persönlichkeitsrecht stehen insbesondere mit Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit zentrale demokratische Grundwerte gegenüber.

Das „Recht auf Vergessenwerden“ wirft somit zwangsläufig komplexe Fragen der technischen und rechtlichen Ausgestaltung auf, denen sich Rechtsprechung und Gesetzgebung seit einigen Jahren angenommen und die auch die Entwicklung der DSGVO begleitet haben. Nachdem sich die Debatte zunächst wenig ergiebig darauf konzentriert hatte, wie digitale Inhalte nach ihrer Veröffentlichung wieder getilgt, unbrauchbar gemacht oder mit programmierten Verfallsdaten versehen werden könneni, verlagert sich die juristische Auseinandersetzung seit einigen Jahren schwerpunktmäßig auf die Rolle von Suchmaschinenbetreibern. An dieser Achillesverse des Internets wird der sonst kaum greifbare digitale Datenbestand gebündelt, organisiert und für die Nutzer aufbereitet. So erwächst durch die Möglichkeit einer zielgenauen, namensbezogenen Abfrage personenbezogener Daten zwar einerseits eine besondere persönlichkeitsrechtliche Gefährdungslage. Andererseits jedoch können durch die Ausblendung kompromittierender Suchergebnisse bestimmte Inhalte der öffentlichen Wahrnehmung auch effektiv entzogen werden. Ziel ist mithin nicht die Löschung, sondern die digitale Isolation unveränderter, aber zeitlich und modal überkommener Beiträge.

Anstoß hierfür hatte im Jahr 2014 der EuGH gegeben, der einen Anspruch auf Löschung von Suchmaschinenergebnissen bejaht und damit erstmals eine Ausprägung des „Rechts auf Vergessenwerden“ richterrechtlich anerkannt hatte.ii Seitdem ist ein dynamischer Prozess im Gang, der dem Rechtsinstitut immer schärfere Konturen verleiht.

2. Das „Google-­Ur­teil“ des EuGH

Ausgangspunkt dieser langjährigen Entwicklung war eine Beschwerde des Spaniers Costeja González bei der nationalen Datenschutzbehörde. Ein bei Eingabe seines Vor- und Nachnamens aufgeführtes Suchresultat hatte auf einen aus dem Jahre 1998 datierenden Zeitungsartikel verwiesen, in dem die Zwangsversteigerung seines Hauses bekannt gegeben worden war. Nachdem die Behörde einen Anspruch auf Löschung des hierauf verweisenden Suchergebnisses gegenüber Google anerkannt und das Unternehmen hiergegen Klage erhoben hatte, äußerte sich der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens.

Der Gerichtshof hob zunächst die besonders grundrechtssensible Tätigkeit von Suchmaschinen hervor, die maßgeblich zur Auffindbarkeit personenbezogener Daten beitragen und durch einen strukturierten, potentiell profilbildenden Überblick die Außendarstellung der Betroffenen prägen würden.iii Ausgehend davon bejahte er grundsätzlich einen Anspruch auf Löschung von Links aus der Suchergebnisanzeige und stützte sich hierbei auf Art. 7 und 8 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh), die das Recht auf Privatsphäre und auf Datenschutz garantieren. Diese seien den Wirtschaftsinteressen des Suchmaschinenbetreibers und dem öffentlichen Informationsinteresse im Rahmen einer Einzelfallabwägung gegenüberzustellen, die aufgrund der besonderen Belastungswirkung aber grundsätzlich hinter dem Persönlichkeitsrecht zurückstehen müssten.iv Stets gesondert zu beurteilen sei der verlinkte Inhalt, so dass ein Löschungsanspruch gegen den Suchmaschinenbetreiber trotz Rechtmäßigkeit des Beitrags bestehen kann.v Ein Anspruch auf Löschung bzw. Ausblendung von Suchergebnissen kann somit gerade auch dann anzunehmen sein, wenn diese auf zulässige und wahrheitsgemäße Beiträge verweisen, an deren Auffindbarkeit aber kein berechtigtes Interesse mehr besteht. Durch bloßen Relevanz mindernden Zeitablauf, der vom EuGH im Rahmen der Interessenabwägung schwerpunktmäßig mitberücksichtigt wird, kann sich somit ein „Recht auf Vergessenwerden“ ergeben. Dieser Anspruch ist gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber geltend zu machen, der aufgrund seiner besonderen Pflichtenstellung mittelbar als Grundrechtsadressat herangezogen wird und selbst über die Begründetheit von Löschgesuchen urteilen muss.vi

Mit seiner Entscheidung löste der EuGH ein bis dato ungeklärtes Spannungsverhältnis von Informationsfreiheit, Persönlichkeitsrecht und Wirtschaftsinteressen im Internet zwar punktuell auf. Er stieß bei Beobachtern und Betroffenen aber auch eine lebhafte Debatte an, die seither weit über die juristische Bewertung hinaus zahlreiche praktische und rechtspolitische Fragen aufwirft. Neben dem Gewicht der informationellen Selbstbestimmung im Internet und der Entwicklung tauglicher Abwägungskriterien werden etwa die tatsächliche Umsetzbarkeit, der territoriale Geltungsanspruch und die Frage diskutiert, ob die Stärkung des digitalen Persönlichkeitsrechts nicht zugleich eine bedenkliche Beschränkung von Meinungsfreiheit und freier Informationsgesellschaft nach sich zieht.

3. Das „Recht auf Verges­sen­werden“ in der DSGVO

Zwar fiel das „Google-Urteil“ unmittelbar in die Entstehungszeit der DSGVO. Die berechtigte Hoffnung, dass der Verordnungsgeber die Gelegenheit nutzen und den Löschungsansprüchen im digitalen Raum mehr Kontur verleihen, jedenfalls aber mit Blick auf Abwägungs- und verfahrensrechtliche Fragen die Vorgaben des EuGH weiterentwickeln würde, blieb jedoch unerfüllt.

Art. 17 DSGVO nimmt in seiner Überschrift das „Recht auf Vergessenwerden“ explizit auf. Inhaltlich schlägt sich dies aber kaum in der Regelung nieder. Die Norm gewährt ein umfassendes Recht auf Löschung personenbezogener Daten durch die verantwortlichen Stellen. Es besteht gem. Art. 17 Abs. 1 DSGVO insbesondere dann, wenn dem Verarbeitungszweck nicht mehr entsprochen, eine Einwilligung widerrufen wird oder die Datenverarbeitung rechtswidrig erfolgte. Mit Blick auf Internetsachverhalte kann der Anspruch nicht nur unmittelbar gegen die Publizisten gerichtet werden. Vom Begriff des „Löschens“ erfasst ist auch das richterrechtlich anerkannte Recht auf Tilgung von Suchergebnissen als eigenständige Datenverarbeitung.vii Der Anspruch besteht selbstverständlich nicht schrankenlos, sondern findet seine Grenzen gemäß 17 Abs. 3 DSGVO etwa dann, wenn die angegriffene Datenverarbeitung zu Ausübung des Rechts auf Meinungs- und Informationsfreiheit erforderlich ist. Beschrieben wird damit das grundsätzliche Abwägungserfordernis, das einzelfallabhängig dem Daten- bzw. Persönlichkeitsschutz oder den Kommunikationsfreiheiten den Vorrang gewährt.

Die eigentliche vom Gesetzgeber als „Recht auf Vergessenwerden“ verstandene Innovation und ein gezielter Versuch der digitalen Datenverarbeitung Herr zu werden, findet sich in Art. 17 Abs. 2 DSGVO. Er beschreibt eine Informationspflicht, die neben den Löschungsanspruch tritt und vom betroffenen Adressaten verlangt, bei öffentlich gemachter Datenverarbeitung weitere (Dritt-)Verarbeiter über das Löschungsgesuch in Kenntnis zu setzen, um so ggf. weitere Löschpflichten auszulösen. Neben der punktuellen Abwehr persönlichkeitsrechtlicher Eingriffe soll somit gerade im Internet die Streuung der Information bzw. die gesellschaftliche Wahrnehmung, die vielfach die eigentliche Belastungswirkung entfaltet, verhindert werden. Gewissermaßen durch Rückverfolgung der Verarbeitungschronologie soll der Datenfluss so beherrschbarer werden.

Trotz dieses Ansatzes ist festzustellen, dass ein „Recht auf Vergessenwerden“ gegenüber Suchmaschinenbetreibern, wie es vom EuGH aus den europäischen Grundrechten abgeleitet worden war, von der DSGVO zwar miterfasst, aber nicht entscheidend weiterentwickelt wird. In der langwierigen Entstehungsgeschichte fand das Google-Urteil durchaus Beachtung, die Klärung der vielen offenen Umsetzungsfragen überließ der Verordnungsgeber aber bewusst der Rechtsprechung.viii Zutreffend wurde Art. 17 DSGVO daher attestiert, im Kern lediglich eine gesetzliche Ausdifferenzierung der bisherigen Rechtslage zu sein.ix Angesichts der grundrechtssensiblen Abwägungsentscheidungen wären eine gesetzliche Maßstabssetzung und ein verfahrensrechtlicher Rahmen im Sinne einer einheitlichen und transparenten Entscheidungsfindung durchaus wünschenswert gewesen. Zuzugeben ist allerdings auch, dass ein naturgemäß abstrakt formuliertes Gesetz, welches sich zudem ausdrücklich als technologieneutral verstehtx, zur Klärung vielfach spezifischer Einzelfragen nur begrenzt in der Lage ist.

4. Aktuelle Entwick­lungs­li­nien in der Recht­spre­chung

Während die betroffenen Grundrechtsträger also weiterhin mit einer eher fragmentarischen Rechtslage umgehen müssen, rückt seither vor allem die Rechtsprechung in den Fokus von Wissenschaft und Praxis. Ihrem klaren Auftrag, das „Recht auf Vergessenwerden“ inhaltlich auszugestalten, kommt sie in den letzten Jahren immer differenzierter nach. Neben den Fachgerichten haben sich in jüngster Vergangenheit nun auch das BVerfG und der BGH ausführlich positioniert, nicht aber ohne gleichzeitig neue Fragen aufzuwerfen, welche die künftige Debatte prägen werden.

4.1. Verfas­sungs­recht­liche Verankerung des „Rechts auf Verges­sen­werden“

Das BVerfG hatte sowohl über den Löschungsanspruch gegenüber Suchmaschinenbetreibern als auch unmittelbar gegenüber dem Anbieter eines Online-Archives zu urteilen (dazu unten Ziffer 4.5). Seine beiden als „Recht auf Vergessen I und II“xi veröffentlichten Beschlüsse gelten bereits jetzt als Meilensteine in der Rechtsprechungshistorie. Dies zunächst deshalb, weil das Gericht grundrechtsdogmatisch zentrale Aussagen trifft und sich im Verbund der europäischen Verfassungsgerichte neu positioniert.xii Nicht minder bedeutsam sind jedoch die Feststellungen zur Reichweite und Gewichtung des Persönlichkeitsrechts im Kontext digitaler Datenverarbeitung.

Wie der BGH teilt auch das BVerfG die Auffassung des EuGH und erkennt unter Berücksichtigung der besonderen Schutzwürdigkeit des Persönlichkeitsrechts im digitalen Raum das Bedürfnis eines „Rechts auf Vergessenwerden“ an. Die Rechtsordnung müsse davor schützen, dass einer Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt öffentlich vorgehalten werden. Die Möglichkeit des Vergessens gehöre zur Zeitlichkeit der Freiheit.xiii

Soweit die auf europäisches (Datenschutz-)Recht zu stützende Ausblendung personenbezogener Suchergebnisse verlangt wird, greifen auf Seiten der Betroffenen daher Art. 7 und 8 GRCh, die die selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung gegenüber der Datenverarbeitung Dritter schützen.xiv Der Suchmaschinenbetreiber kann dem sein Recht auf unternehmerische Freiheit nach Art.  16 GRCh entgegenhalten. Auch die in Art. 11 GRCh verbürgte Meinungsfreiheit des Publizisten ist zu berücksichtigen, dem im Verbot gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber, bestimmte Suchergebnisse anzuzeigen, in Teilen ein wichtiges Medium für die Verbreitung seiner Berichte genommen werde.xv Ebenfalls in die Abwägung einzustellen ist die Informationsfreiheit potentieller Internetznutzer als allgemeines zu berücksichtigendes „Prinzip“xvi.

Das BVerfG hebt auch hervor, dass ein Vorgehen gegen den Suchmaschinenbetreiber gegenüber der Inanspruchnahme des Seitenbetreibers nicht subsidiär zu behandeln ist, sondern zwei unabhängige Datenverarbeitungen vorliegen, die eine unterschiedliche Bewertung erfordern. Die ursprüngliche Rechtmäßigkeit der Bereitstellung des Berichts im Internet besage nicht, dass der Suchmaschinenbetreiber diese auch fortdauernd auf jede Art von Suchabfrage nachweisen darf.xvii

Während das BVerfG insoweit auf einer Linie mit dem EuGH urteilt, nimmt es in der besonders abwägungsrelevanten Frage der generellen Grundrechtsgewichtung einen abweichenden Standpunkt ein. Wie eingangs angedeutet, hatte der EuGH dem Persönlichkeitsrecht aufgrund der potentiell profilbildenden und ubiquitären Zusammenstellung personenbezogener Daten grundsätzlich ein höheres Gewicht beigemessen als den gegenläufigen Rechtsinteressen. Nur in Ausnahmefällen bei besonderem Öffentlichkeitsinteresse könne die Abwägungsentscheidung zu Lasten des Betroffenen ausfallen. Nach Ansicht des BVerfG besteht ein solcher grundsätzlicher Vorrang des Persönlichkeitsrechts trotz der speziellen Gefährdungslage im Internet ausdrücklich nicht.xviii Mit dieser Feststellung relativiert es die verfassungsrechtliche Wirkmacht des „Rechts auf Vergessenwerden“ erheblich, unterstellt seine Auffassung im Grunde aber auch dem EuGH: Dieser habe die Vorrangvermutung lediglich aufgrund der „spezifischen Konstellation“ der Fälle formuliert, die er zu beurteilen hatte. So sei in der Google-Entscheidung die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter nicht zu berücksichtigen gewesen, da hier eine behördliche Verlautbarung in Rede stand, in einem weiteren Urteil sei die Haltung des EuGH darauf zurückzuführen, dass über besonders sensible Gesundheitsdaten berichtet worden war.xix

In der Tat ist die Haltung des EuGH in ihrer Pauschalität bedenklich und auch in der Literatur nicht unwidersprochen geblieben.xx Die insoweit vorgebrachten Argumente überzeugen indes nur bedingt. Zwar ist es richtig, dass eine solche Vorrangvermutung der Verfassungslehre bislang fremd ist.xxi Dies ändert aber nichts daran, dass der EuGH in seiner Funktion als europäisches Grundrechtsgericht eine entsprechende Auslegung der Art. 7 und 8 GRCh sehr deutlich vorgenommen hat.xxii Dass sich der „Regel-Ausnahme- Mechanismus“ weder in Art. 17 DSGVO noch in den gesetzlichen Erwägungsgründen wiederfindet und vom Verordnungsgeber offensichtlich nicht beabsichtigt warxxiii, ist ebenfalls kein tauglicher Einwand, da eine einfachgesetzliche Vorschrift die primär- bzw. grundrechtliche Deutung durch den EuGH nicht infrage stellen kann. Auch die Erklärung des BVerfG bleibt angesichts des klaren Wortlauts der Luxemburger Richter, der auf ein Grundsatzverständnis hindeutet, zweifelhaft. Ob das Persönlichkeitsrecht im Zusammenhang mit Suchmaschinen wirklich eine grundsätzliche Sonderstellung genießt, wird der EuGH im Rahmen weiterer Vorlageentscheidungen beantworten bzw. bestätigen müssen.xxiv

4.2. Konkre­ti­sie­rung und Erweiterung der Abwägungs­kri­te­rien

Neben der übergeordneten verfassungsrechtlichen Grundgewichtung beschäftigt Betroffene zudem die praxisrelevante Frage konkreter Abwägungsmaßstäbe. Da der EuGH außer der besonderen Betonung des Zeitablaufs kaum Aussagen zu potentiellen Entscheidungskriterien getroffen hat, war vornehmlich Google als Adressat des Löschungsanspruchs gezwungen, auf Grundlage vieler tausend Anträge eigene Vorgaben zu entwickeln. Einen wesentlichen Beitrag leistete zudem die sog. Artikel-29-Datenschutzgruppexxv, die einen relativ differenzierten Beurteilungskatalog vorlegte. Bestätigt, aber auch weiter ausdifferenziert werden die maßgeblichen Belange inzwischen zusätzlich durch die zahlreich mit abgelehnten Löschgesuchen konfrontierte Gerichtsbarkeit. In den vergangenen Jahren hat sich so ein breites Spektrum an abwägungsrelevanten Gesichtspunkten herausgebildet. Welche der Kriterien mit welchem Gewicht in die Abwägung einzustellen sind, bestimmt sich aber stets nach den Besonderheiten des Einzelfalls, so dass sich ein schematisches Vorgehen nach einhelliger Auffassung verbietet. Zur Veranschaulichung der wesentlichen entscheidungsleitenden Aspekte lassen sich die bestehenden Kriterien dennoch in nachstehenden Kategorien skizzieren.xxvi

Grundsätzlich von Bedeutung ist zunächst, inwieweit der Betroffene eine Rolle im öffentlichen Leben ausfüllt, d.h. welche gesellschaftliche Relevanz seiner Person zukommt. Angesprochen sind hier nicht nur Prominente, sondern auch solche Menschen, die eine gesellschaftliche oder berufliche Schlüsselfunktion innehaben. Vor allem auch Personen, die strafrechtlich in Erscheinung treten, begründen ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit, das umso schwerer wiegt, je mehr sich die Tat von gewöhnlicher Kriminalität abhebt.xxvii

Unabhängig davon ist der Öffentlichkeitsbezug der beanstandeten Information zu untersuchen, der die generelle gesellschaftliche Relevanz häufig relativieren wird. Inhalte, die sensible Lebensbereiche betreffen, genießen weniger Schutz als öffentliche Verhaltensweisen. Wie nun auch das BVerfG klargestellt hat, wiegt das Persönlichkeitsrecht etwa dort geringer, wo mediale Präsenz und damit ein Öffentlichkeitsinteresse bewusst herausgefordert wird.xxviii Bemerkenswert ist zudem die Feststellung der Verfassungsrichter, dass angesichts der Auffindbarkeit und Zusammenführung von Informationen durch namensbezogene Suchanfragen kaum mehr zu unterscheiden sei, ob schon die Privat- oder nur die Sozialsphäre betroffen ist.xxix Im Zweifel ist also von einem stärkeren Grundrechtseingriff mit erhöhtem Rechtfertigungsbedarf auszugehen.

Wesentliche Abwägungsfaktoren sind weiterhin Inhalt und Aufbereitung der beanstandeten Information. Während unzutreffende Tatsachenbehauptungen stets eine Löschung nach sich ziehen, müssen bei wahrheitsgemäßen Äußerungen weitere Umstände hinzutreten, die eine Auslistung des betreffenden Suchergebnisses rechtfertigen. Gleiches gilt bei der Beanstandung von Werturteilen, die dem Schutz der Meinungsfreiheit unterstellt und grundsätzlich, auch bei deutlich negativer Konnotation, hinzunehmen sind. Zu berücksichtigen ist zudem der Grad der Vervielfältigung und die Art der Aufbereitung des betreffenden Beitrags.

Besondere Bedeutung im Abwägungsprozess kommt schließlich dem Relevanz mindernden Zeitablauf zwischen dem in Rede stehenden Ereignis und dem Löschbegehren zu. Dieses vom EuGH herausgearbeitete Kernelement des „Rechts auf Vergessenwerden“ hat nun auch das BVerfG ausdrücklich anerkannt. So könne die belastende Wirkung kritischer Beiträge für die Betroffenen im Laufe der Zeit erheblich wachsen und immer weniger gerechtfertigt sein.xxx Ebenso wie die anderen Abwägungskriterien beansprucht der zeitliche Faktor aber keine absolute Geltung, sondern ist unter Berücksichtigung des fallspezifischen Kontexts zu bestimmen. Dennoch lassen sich aus den hierzu mittlerweile zahlreich ergangenen Urteilen, v.a. mit Blick auf Berichterstattungen über Straftaten, gewisse Anhaltspunkte entnehmen. So rechtfertigt ein Zeitraum von weniger als zehn Jahren in der Regel keine Löschung.xxxi Ein Überwiegen des Resozialisierungsinteresses wurde zumindest nach Ablauf von mehreren Jahrzehnten bejaht.xxxii

4.3. Umfang der Prüfpflicht von Suchma­schi­nen­be­trei­bern

Da den Suchmaschinenbetreibern die nicht unumstrittene Rolle des Entscheidungsträgers zukommt, hängt die Durchsetzung des „Rechts auf Vergessenwerden“ in besonderem Maße vom Umfang ihrer Prüfpflichten ab. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen der Löschungsanspruch von der häufig schwer zu beurteilenden Frage abhängt, ob der beanstandete Link auf wahrheitsgemäße oder unzutreffende Inhalte verweist. In einer Grundsatzentscheidung, die noch vor Inkrafttreten der jetzt allein maßgeblichen DSGVO nach nationalem Recht erging, hatte der BGH Suchmaschinenbetreiber insoweit einem sehr großzügigen Haftungsregime unterstellt. Unter Verweis auf ihre essentielle Bedeutung für die Nutzbarmachung des Internets und ihrer lediglich informationsvermittelnden Rolle lehnte er eine vertiefte Prüfpflicht von Löschanfragen ab. Da eine umfassende Rechtmäßigkeitsprüfung die Funktionsfähigkeit der Suchmaschinen generell in Frage stellen würde, sollten diese erst dann „spezifische Verhaltenspflichten“, also weitergehende Untersuchungs- und Löschpflichten treffen, wenn sie durch einen konkreten Hinweis Kenntnis von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung erlangt hätten.xxxiii

Damit löste der BGH einerseits die praktische Frage, wie Suchmaschinenbetreiber angesichts der großen Zahl an Löschgesuchen ihrer Aufgabe als Quasi-Judikativ-Organ seriös nachkommen sollen. Andererseits wirkte er dem Fehlanreiz des sog. „Overblockings“ entgegen, also der erwartbaren Neigung, im Zweifelsfall zur Vermeidung weiterer Auseinandersetzungen das beanstandete Suchergebnis ungeprüft aus der Ergebnisliste zu entfernen.

Das Urteil konterkarierte aber auch die Sinnhaftigkeit des Anspruchs. Schließlich sind vielfach auch solche Fälle zu beurteilen, die sich gerade nicht durch eine offensichtliche Rechtsverletzung auszeichnen, bei denen das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen im Ergebnis aber dennoch überwiegt. Die Prüfpflicht in diffizilen Fällen faktisch aufzuheben, stieß daher auf ein geteiltes Echo.xxxiv Soweit ersichtlich spiegelt eine nur fragmentarische Sachverhaltsaufklärung auch nicht die Löschpraxis von Google wider, das sich ausweislich seines Transparenzberichtsxxxv nicht auf die Löschung in evidenten Fällen beschränkt, sondern ggf. zusätzliche Informationen einholt und in komplexen Angelegenheiten eigens Juristen beschäftigt.

Während einige Fachgerichte die Rechtsprechung auf den Löschungsanspruch aus Art. 17 DSGVO übertragen hattenxxxvi, meldete das OLG Karlsruhe hieran unlängst Zweifel an und wies zutreffend darauf hin, dass die Interessenabwägung nach der DSGVO von der im nationalen Recht zu unterscheiden und von verschiedenen Maßstäben geprägt sei.xxxvii Seit seiner jüngsten Entscheidung zum „Recht auf Vergessenwerden“ teilt nun auch der BGH diese Auffassung.xxxviii Angesichts des sich aus Art. 17 DSGVO ergebenden Gebots einer gleichberechtigten Grundrechtsabwägung spricht er den Suchmaschinenbetreibern das Haftungsprivileg unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ab. Google & Co. müssen also im Falle eines Löschungsantrags das beanstandete Suchergebnis künftig stets umfassend daraufhin prüfen, ob es auf Inhalte verweist, an deren unbeschränkter Auffindbarkeit kein schützenswertes Interesse mehr besteht. Auf eine vermeintlich unklare Rechtslage kann sich der Suchmaschinenbetreiber als Ablehnungsgrund nicht mehr berufen. Mit dieser wegweisenden Neupositionierung stärkt der BGH das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Antragsteller erheblich. Gerade für kleinere Suchmaschinen dürfte das Urteil hingegen einen deutlichen Mehraufwand bei der Bearbeitung von Löschgesuchen zur Folge haben. Die erhöhten Prüfungsanforderungen sind dennoch zu begrüßen, denn andernfalls liefe das „Recht auf Vergessenwerden“ angesichts der häufig vielschichtigen und komplexen Fallgestaltungen allzu oft leer.

4.4. Terri­to­riale Reichweite des Löschungs­an­spruchs

Lange ungeklärt blieb im Nachgang des Google-Urteils, welche territoriale Reichweite das Löschungsrecht gegenüber Suchmaschinenbetreibern beanspruchen würde. Ob und inwieweit beanstandete Suchergebnisse auch Internetnutzern außerhalb der Europäischen Union verborgen bleiben müssen, hatte der EuGH nicht beantwortet. Aus völkerrechtlicher Perspektive erscheint ein globaler Geltungsanspruch zunächst problematisch, da die Reichweite des Persönlichkeits- und Datenschutzrechts Drittstaaten nicht ohne weiteres vorgegeben werden kann und Souveränitätskonflikte provozieren würde. Andererseits soll das Persönlichkeitsrecht ein subjektives Empfinden der Selbstbestimmung bewahren, das zwar rechtlich, nicht aber tatsächlich territorial zu begrenzen und entweder umfassend oder gar nicht gewährleistet ist. Angesichts des ubiquitären Charakters des Internets mit weltweit nunmehr über 4 Milliarden Nutzern ist eine lokale Ausblendung nur innerhalb der EU daher wenig zielführend.xxxix

Im Rahmen eines weiteren Vorabentscheidungsverfahren bestätigte der EuGH jedoch die von Google praktizierte eingeschränkte Auslegung und entschied sich hinsichtlich der räumlichen Anwendbarkeit somit für ein „Recht auf Vergessenwerden light“. Zwar hegt der EuGH große Sympathien für eine globale Löschpflicht. So gelinge eine umfängliche Durchsetzung des Rechts im ubiquitären Internet nur, wenn Einträge dem Zugriff sämtlicher Nutzer entzogen seien.xl Mit Blick auf die Grenzen des geltenden Rechts übt sich EuGH jedoch in Zurückhaltung: Zum einen habe der Gesetzgeber sich nicht für eine Erstreckung des zugrundeliegenden Datenschutzrechts über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinaus entschieden, zum anderen verfolgten Drittstaaten hier außerdem häufig einen anderen rechtlichen Ansatz.xli

Diese Beschränkung auf den Raum der europäischen Union führt aber nicht nur zur Erreichbarkeit der Sucheinträge in Drittstaaten. Auch europäische Nutzer können sich grundsätzlich über die dortigen Suchportale informieren. Um die effektive Rechtsdurchsetzung zumindest innerhalb der EU zu gewährleisten, verpflichtet der EuGH die Suchmaschinenbetreiber deshalb zu „hinreichend wirksamen Maßnahmen“.xlii Mit anderen Worten sind sie gehalten, durch Standortbestimmung und sog. Geoblocking die streitigen Ergebnisanzeigen im Suchmaschinenangebot der Drittstaaten für Nutzer innerhalb der EU zu sperren. Google setzt dies derzeit jedoch nur in jeweils dem Staat um, aus dem der betroffene Antragsteller stammt.xliii Auch unabhängig davon darf die Wirksamkeit solcher Maßnahmen bezweifelt werden. Denn geografische Filter stellen für geübte Internetnutzer längst kein Hindernis mehr da. Wer lückenlose Ergebnislisten sicherstellen will, kann sich mittels entsprechender Software seiner Standortbestimmung entziehen und auf Suchdomains in Drittstaaten mit wenig Mühe zugreifen. Die Vergesslichkeit des Internets endet also an den Grenzen Europas, mit ein paar technischen Kniffen aber eben auch schon davor.

4.5. Lösch­pflichten gegenüber Betreibern von Online-A­r­chiven

Anstatt die Auffindbarkeit fortbestehender Inhalte zu erschweren, kann dem Schutz des Persönlichkeitsrechts grundsätzlich auch durch unmittelbares Vorgehen gegen die Betreiber der betreffenden Internetseiten Rechnung getragen werden. Mit Blick auf die starke Belastungswirkung durch das Vorhalten lange zurückliegender, unveränderter Inhalte einerseits und dem Interesse, historische Geschehnisse erinnern bzw. recherchieren zu können andererseits, haben sich insoweit v.a. Online-Archive als streitbare und praxisrelevante Fallgestaltung erwiesen. Auch im Rahmen dieses Spannungsverhältnisses hat sich das BVerfG nun mit bemerkenswerten Feststellungen positioniert.

Während Online-Archive aufgrund ihres Beitrags zur Informations- und Willensbildung von der Rechtsprechung bislang unter besonderen Schutz gestellt wurden, sieht das Gericht sich veranlasst, die Rechtmäßigkeitsanforderungen angesichts der modernen Informationsverbreitung durch das Internet und der neuen rechtlichen Dimension des Faktors Zeit grundlegend zu modifizieren. Anders als im analogen Zeitalter entfalteten Informationen ihre Wirkung nicht nur durch das flüchtige Erinnern im öffentlichen Diskurs, sondern blieben unmittelbar und dauerhaft für alle abrufbar.xliv Vor dem Hintergrund einer zusätzlich drohenden Dekontextualisierung und profilbildenden Kombinierbarkeit mit weiteren Daten ändere sich die Bedeutung personenbezogener Berichterstattung für die Betroffenen erheblich. Der Freiheit und Chance willen, eigene Verhaltensweisen fortzuentwickeln und Fehler hinter sich zu lassen, erkennt das BVerfG auch insoweit ein „Recht auf Vergessenwerden“ an, das mit dem Öffentlichkeitsrechtinteresse sowie v.a. der Meinungs- und Pressefreiheit in Einklang zu bringen ist, die grundsätzlich auch das Recht umfasst, unveränderte Berichte als Spiegel der Zeitgeschichte zu archivieren.

Zentrale Aussage des BVerfG in Abkehr zur bisherigen Auffassung des BGH ist insoweit, dass die ursprüngliche Rechtmäßigkeit der archivierten Berichterstattung zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr ausreichend sei, sondern dass sich ihre Verbreitung bzw. Zugänglichkeit fortwährend rechtfertigen lassen muss.xlv Die Zulässigkeit von digitalen Archivinhalten ist somit anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt eines Löschungsverlangens grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen.

Neben dem zeitlichen Abstand zu den betreffenden Ereignissen kommt es im Wesentlichen auf die bereits skizzierten Abwägungsgesichtspunkte an. Zu berücksichtigen sind Inhalt und (wiederauflebende) gesellschaftliche Relevanz der Berichterstattung, zwischenzeitliches Verhalten des Betroffenen, aber auch das Ausmaß der Verbreitung, insbesondere durch Erfassung mittels Suchmaschinen. Die Archivbetreiber trifft dabei allerdings keine proaktive Prüfpflicht; erst auf Veranlassung des Betroffenen hin müssen sie den beanstandeten Beitrag auf dessen (fortbestehende) Rechtmäßigkeit hin untersuchen.

Im Sinne eines schonenden Interessenausgleichs darf die Abwägung nach Möglichkeit aber nicht in die vollständige Löschung oder Fortsetzung der uneingeschränkten Abrufbarkeit münden. Unter besonderer Betonung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verlangt das BVerfG die Auseinandersetzung mit abgestuften Schutzmöglichkeiten in Form technischer „Zwischenlösungen“. So schlägt es als anspruchsvollen, wenn auch grundsätzlich realisierbaren Mittelweg u.a. vor, die Anzeige des betreffenden Beitrags in Suchmaschinen bei namensbezogener Suchanfrage durch entsprechende Vorkehrungen des Seitenbetreibers zu verhindern, den Beitrag bei anderen ihn kennzeichnenden Suchbegriffen aber auffindbar zu machen und dann auch vollständig mit Klarnamen des Betroffenen anzeigen zu lassen.xlvi Der unveränderte Artikel würde somit nur von denjenigen wahrgenommen, die sich gezielt für die zugrunde liegenden Ereignisse, nicht aber für die Person des Betroffenen interessieren. Inwieweit sich derartige Vorkehrungen als praktikabel und wirtschaftlich vertretbar erweisen werden, bleibt abzuwarten. Die Abhängigkeit des Rechts von technischen Gestaltungsmöglichkeiten hat das BVerfG jedenfalls eindrücklich bestätigt.

5. Fazit

In der Gesamtschau der Entwicklungen seit Inkrafttreten der DSGVO bleibt festzuhalten, dass sich das „Recht auf Vergessenwerden“ auch ohne Unterstützung des europäischen Gesetzgebers als notwendiges Schutzkonzept gegenüber der unkontrollierten Informationsverbreitung im digitalen Umfeld weiter etabliert und ausdifferenziert hat. Trotz seiner Einordnung und Aufwertung durch die Rechtsprechung ist jedoch nach wie vor ein offener Prozess im Gange. Zentrale Antworten zu rechtlichen wie auch praktischen Abwägungs- und Umsetzungsfragen stehen noch aus. Die teils eindringlich geäußerte Befürchtung, dass die Ausblendung von Suchergebnissen den gesellschaftsrelevanten Informationsaustausch unterdrücken werde, dürfte aber in Anbetracht sowohl des praktischen Umgangs mit Löschungsanträgen als auch der sehr ausgewogenen und auf den Einzelfall abstellenden Rechtsprechung entkräftet sein. Trotz weiterhin bestehender Transparenzdefizite zeigt sich, dass Google als Quasi-Monopolist unter den Suchmaschinenbetreibern seine Abwägungsverantwortung offenbar sehr ernst nimmt. Bislang wurden mit rund 1,5 Millionen Links etwas weniger als die Hälfte aller geprüften URLs aus den Suchergebnissen entfernt, wobei gerade Verweise auf sensible Inhalte, etwa über politisches und berufliches (Fehl-)Verhalten nur sehr zurückhaltend gelöscht werden.xlvii Die nicht unproblematische Übertragung der Abwägungsverantwortung auf ein privates Wirtschaftsunternehmen wird nun zudem durch die höchstrichterlich verschärfte Prüfdichte weiter relativiert. Auch die differenzierte und Kompromisslösungen anstrebende Rechtsprechung des BVerfG zeigt, dass die Stärkung des Persönlichkeitsrechts im Internet zwar als dringend notwendig befunden, aber auch mit Augenmaß verfolgt wird und gegenläufige Rechtspositionen nicht über Gebühr in den Hintergrund treten. Das „Recht auf Vergessenwerden“ ist daher nach wie vor nicht als Angriff auf die Meinungsfreiheit zu verstehenxlviii, sondern als notwendiges Korrektiv in einer allwissenden und teils realitätsverzerrenden Informationsgesellschaft.

Jan Weismantel Jahrgang 1989, Dr. iur., Europajurist (Univ. Würzburg), ist Rechtsanwalt in München. Zum Thema dieses Beitrags forschte er bereits in seiner 2017 erschienenen Dissertation „Das ‚Recht auf Vergessenwerden‘ im Internet nach dem ‚Google-Urteil‘ des EuGH – Begleitung eines offenen Prozesses“, Duncker & Humblot, Berlin.

Anmerkungen:

iVgl. überblicksartig Weismantel, Das „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet nach dem „Google-Urteil“ des EuGH, Berlin 2017, S. 241 ff.

iiEuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317.

iiiEuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317, Rn. 37, 80.

ivEuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317, Rn. 97.

vEuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317, Rn. 82 ff.

viEuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317, Rn. 77.

viiVgl. OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 06.09.2018 – 16 U 193/17, GRUR 2018, 1283, Rn. 46.

viiiVgl. Weismantel (Anm. 1), S. 293 f.

ixTrentmann, CR 2017, 26 (35).

xVgl. den Erwägungsgrund 15 zur DSGVO.

xiDiese verkürzte Formulierung eines „Rechts auf Vergessen“ ist missverständlich, richtet sie sich doch genaugenommen an den Vergessenden selbst und beschreibt nicht den eigentlichen Rechtsgehalt, nämlich von Dritten vergessen zu werden.

xiiAusführungen hierzu würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Vgl. hierzu, statt vieler, Sachs, JuS 2020, 284 ff.

xiiiBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, Recht auf Vergessen I, Rn. 105.

xivBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 101 ff.

xvBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 108.

xviBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 110.

xviiBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 117.

xviiiBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 141.

xixBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 141 mit Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 13.05.2014, C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317 sowie EuGH, Urt. v. 24.09.2019, C-136/17, ECLI:EU:C:2019:773.

xxVgl. etwa Singer/Beck, JURA 2019, 125 (132) m.w..N.

xxiSo die Argumentation des BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 141.

xxiiSo sah es das OLG Köln, Urt. v. 31.05.2016 – 15 U 197/15, ZD 2017, 280 (284), Rn. 46, als „durchaus erwägenswert“ an, der Entscheidung des EuGH zu Gunsten des Betroffenen ein abweichendes Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Prüfung eines Eingriffs in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu entnehmen.

xxiiiVgl. Trentmann, CR 2017, 26 (31).

xxivSo auch Peifer, GRUR 2020, 34 (37).

xxvHierbei handelte es sich um ein unabhängiges Gremium der Europäischen Kommission gem. Art. 29 der früheren Datenschutz-Richtlinie; inzwischen ist die DSG 29 vom Europäischen Datenschutzausschuss abgelöst worden (s. dazu auch den Beitrag von Caspar in diesem Heft).

xxviVgl. zu den hier nur stark überblicksartig dargestellten Abwägungskriterien Weismantel (Anm. 1), S. 216 ff.

xxviiSo OLG Celle, Urt. v. 01.06.2017 – 13 U 178/16, NJOZ 2018, 539, Rn. 24.

xxviiiBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 129.

xxixBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 128.

xxxBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, Recht auf Vergessen II, Rn. 133.

xxxiBei jeweils bestehendem öffentlichen Interesse wurde ein Löschungsanspruch aufgrund fehlenden hinreichenden Zeitablaufs nach vier (LG Wiesbaden, Urt. v. 09.08.2016 – 4 O 7/15), sechs (OLG Köln, Urt. v. 31.05.2016 – 15 U 197/15), sieben (OLG Celle, Urt. v. 29.12.2016 – 13 U 85/16) bzw. acht Jahren (OLG Köln, Urt. v. 10.08.2017 – 15 U 188/16) abgelehnt.

xxxiiLG Frankfurt a.M., Urt. v. 28.06.2019 – 2-03 O 315/17, ZD 2019, 410.

xxxiiiBGH, Urt. v. 27.02.2018 – VI ZR 489/16, NJW 2018, 2324, Rn. 36.

xxxivAblehnend etwa Mohr/Buchner, MedR 2019, 390 (392).

xxxvVgl. die entsprechenden Erläuterungen zum Prüfungsverfahren von Google, abrufbar unter https://support.google.com/transparencyreport/answer/7347822.

xxxviEtwa OLG Dresden, Beschl. v. 07.01.2019 – 4 W 1149/18, NJW-RR 2019, 676, Rn. 17; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 06.09.2018 – 16 U 193/17, GRUR 2018, 1283, Rn. 76.

xxxviiOLG Karlsruhe, Urt. v. 10.06.2020 – 6 U 129/18, GRUR-RS 2020, 12143, Rn. 59.

xxxviiiBGH, Urt. v. 27.07.2020 – VI ZR 405/18; zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Beitrags waren die Entscheidungsgründe des Urteils noch nicht veröffentlicht.

xxxixNach Auffassung der ehemaligen Bundesjustizministerin und Mitglied von Googles sog. „Löschbeirat“ Leutheusser-Schnarrenberger, zitiert nach Demuth, DriZ 2015, 202 (203) sei ein lokal beschränkter Ansatz „fast nichts wert“.

xlEuGH, Urt. v. 24.09.2019 – C 507/17, ECLI:EU:C:2019:772, Rn. 55 ff.

xliEuGH, Urt. v. 24.09.2019 – C 507/17, ECLI:EU:C:2019:772, Rn. 59.

xliiEuGH, Urt. v. 24.09.2019 – C 507/17, ECLI:EU:C:2019:772, Rn. 70.

xliiiDie etwas komplizierte Vorgehensweise erläutert Google so: „Angenommen, eine URL wird aufgrund eines Ersuchens von Max Mustermann aus Deutschland aus den Suchergebnissen entfernt. Nutzern in Deutschland wird die URL dann für Suchanfragen, die [max mustermann] beinhalten, in keiner Domain der Google-Suche in den Ergebnissen angezeigt, einschließlich google.com. Nutzer außerhalb Deutschlands können die URL in den Suchergebnissen sehen, wenn sie in einer nichteuropäischen Domain der Google-Suche nach [max mustermann] suchen“, vgl. https://support.google.com/transparencyreport/answer/7347822.

xlivBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, Recht auf Vergessen I, Rn. 102 f.

xlvBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, Recht auf Vergessen I, Rn. 109.

xlviBVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, Recht auf Vergessen I, Rn. 135.

xlviiiSo auch Singer/Beck, JURA 2019, 125 (134).

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