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Was ist ein demokra­ti­sches Wahlrecht?

in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 187-190

100 Jahre, nachdem das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt wurde, herrscht beim passiven Wahlrecht immer noch keine Geschlechtergerechtigkeit. In den letzten Jahren war der Frauenanteil im Deutschen Bundestag rückläufig, derzeit sind nur 31 Prozent der 709 Abgeordneten Frauen.[1] In den Landesparlamenten liegt ihr Anteil aktuell zwischen 22 (Sachsen-Anhalt) und 44 Prozent (Hamburg).[2] Einen echten Fortschritt in Richtung echter Geschlechtergleichheit versprachen zwei Paritätsgesetze in Brandenburg und Thüringen, mit denen die Parteien zur Aufstellung geschlechtergerechter Wahllisten verpflichtet werden sollten. Rosemarie Will kommentiert die Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte, mit denen beide Gesetze als verfassungswidrig zurückgewiesen wurden. Sie zeigt auch, welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf künftige Bemühungen um mehr Geschlechtergerechtigkeit haben.

Brandenburg und Thüringen haben 2019 als erste Bundesländer die politischen Parteien gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Wahllisten paritätisch aufzustellen, also je hälftig mit Frauen und Männer zu besetzen. Über das Brandenburgische Paritégesetz und den dazu geführten verfassungsrechtlichen und politischen Streit haben wir in den vorgängen (Nr. 225/226, S. 183-192) ausführlich berichtet. Nach den Debatten war klar, dass dazu die jeweiligen Landesverfassungsgerichte angerufen werden würden. Aus der NPD und der AfD kamen dann auch schnell die Anträge, die Verfassungswidrigkeit der Gesetze festzustellen. Die CDU hielt beide Gesetze ebenfalls für verfassungswidrig. Sie überließ es aber den Rechtsaußen-Parteien, diesen Streit zu führen.

Das Verfassungsgericht Thüringen hat das Paritégesetz am 15.7.2020 (VerfG 2/20) mit sechs zu drei Stimmen aufgehoben. Es gab zwei Minderheitenvoten von drei Richter* innen, an denen die beiden an der Entscheidung mitwirkenden Frauen beteiligt waren. Am 23.10.2020 erklärte das Verfassungsgericht Brandenburg, dass mit fünf Männern und vier Frauen besetzt ist, das Landesparitätsgesetz einstimmig für verfassungswidrig (VfGBbg 9/19, VfGBbg 55/19).
Um weiter für ein paritätisches Wahlrecht zu streiten, ist die Auseinandersetzung mit beiden Urteilen nötig. Obwohl beide Urteile im Ergebnis die Nichtigkeit der Gesetze feststellten, ist ihre Differenz bedeutsam – gerade für den kommenden Kampf um Wahlrechtsparität.

Das Thüringer Urteil und der Wille des histo­ri­schen Verfas­sungs­ge­bers

Das Thüringer Urteil erging zu einem Normenkontrollantrag der AfD Fraktion. Es stellte eine Verletzung der Freiheit und Gleichheit der Wahl und eine Verletzung des Rechts der politischen Parteien aus Art. 21 GG fest. Die Verpflichtung zur Gleichstellung von Frauen und Männern nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf vermöge zwar grundsätzlich auch Beeinträchtigungen der Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit politischer Parteien zu rechtfertigen, weil sie auf derselben Rangstufe wie die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 46 Abs. 1 ThürVerf und Art. 21 Abs. 1 GG als Teil des Landesverfassungsrechts stehe. Für den Fall einer paritätischen Frauenquote im Wahlrecht habe dies der historische Verfassungsgeber aber ausgeschlossen. Das Urteil stützt sich dabei auf die Entstehungsgeschichte des Gleichstellungsgebotes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf. Weil im Entstehungsprozess konkretere Vorschläge zur Zulässigkeit von Paritätsregelungen erfolglos geblieben seien, „zwing[e]“ die Entstehungsgeschichte zu der Folgerung, dass die verfassungsgebende Gewalt mit dem Gleichstellungsgebot „nicht die Möglichkeit“ habe eröffnen wollen, „paritätische Quotierungen einzuführen“ (vgl. Urteilsumdruck, S. 42-44; Zitat: S. 44).

Bezüglich des Ausschlusses von Paritätsregeln im Wahlrecht durch den historischen Verfassungsgeber widerspricht Richterin Heßelmann in ihrem Sondervotum. Die Debatte der Experten im Verfassungsausschuss sei zu wenig systematisch gewesen, um gegen den eindeutigen Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf eine Listenparität innerhalb eines personalisierten Verhältniswahlrechts ausschließen zu können. In der Tat können die vom Verfassungsgerichtshof im Urteil mitgeteilten entstehungsgeschichtlichen Indizien nicht überzeugend darlegen, dass „quotierende Paritätsregelungen“ vom Verfassungsgeber Thüringens generell ausgeschlossen worden wären. Im zweiten Sondervotum der Richterin Licht und des Richters Pertermann wird dieser Art der statisch-historischen Auslegung auch aus methodischen Gründen widersprochen.

In diese Richtung geht auch die Kritik in der rechtswissenschaftlichen Literatur: Sich auf eine historische Auslegung einer Norm, gegen ihren Wortlaut zu berufen, widerspreche gültigen Auslegungsstandards. In der Tat: Ein Verfassungsgericht, dass einen Diskussionsstand von 1993 zur Frauenquote, heute noch für maßgeblich und streitentscheidend hält, ist bald 30 Jahre zu spät.

Das Branden­burger Urteil und das „ganze“ Volk als Demos

Das Brandenburger Urteil beschied das Organstreitverfahren der NPD (VfGbg 9/19) und die Verfassungsbeschwerde von vier AfD-Mitgliedern (VfGBbg 55/19) positiv. Den Antrag des Landesverbandes der AfD im Organstreitverfahren hielt es für unzulässig.

Anders als der Thüringische Verfassungsgerichtshof sah das Brandenburger Verfassungsgericht aber nicht einfach nur die Freiheit der Parteien und die Freiheit und Gleichheit der Wahlen als verletzt an, sondern ging in seiner Entscheidung weiter. Die vom Paritätsgesetz bewirkten Einschränkungen der Parteienfreiheit sowie der Wahl-Freiheit und -Gleichheit seien eine Modifikation des Demokratieprinzips, die dem Demokratieprinzip der Brandenburger Verfassung und der des Grundgesetzes widersprächen. Aus diesem Grund sei eine Regelung zur Parität im Wahlrecht dem einfachen Gesetzgeber entzogen. Nur der Verfassungsgeber selbst könne diese Regeln ändern. Nur er könne in der Verfassung, bei der Regelung der Wahlgrundsätze, die Möglichkeit des paritätischen Wahlrechts zulassen, weil „das Demokratieprinzip in seiner aus der derzeitigen Landesverfassung zum Ausdruck kommenden Form eine Paritätsvorgabe für die Wahl zum Landtag nicht erlaubt.“ (VfGBbg 55/19, Rdnr. 176).

Damit ging es nicht mehr wie beim Thüringer Verfassungsgerichtshof nur darum, die Durchsetzung des Gleichstellungsauftrags der Verfassung im Wahlrecht zu verhindern. Mit der Brandenburger Entscheidung ging es darüber hinaus auch darum, eine Demokratieauffassung abzuwehren und zu diskreditieren, die mehr als formale Rechtsgleichheit will, die auf die Herstellung faktischer Freiheit und Gleichheit zwischen den Geschlechtern zielt. Eine solche Rechtsauffassung widerspräche dem Grundgesetz und damit auch der Landesverfassung. Warum? Das ganze Volk müsse die Macht ausüben, nicht eine Gruppe der Männer und eine Gruppe der Frauen, so das Brandenburger Verfassungsgericht. Aber warum sind beide Gruppen, die der Männer und der Frauen, zusammen nicht das ganze Volk, sondern im Verständnis des Gerichtes etwas anderes? Im Übrigen steht in der Regelung des Art. 20 Abs. I GG nur: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Das heißt nur: vom Volk, von niemand anderem als dem Volk. Wer das Volk ist, steht nicht in Art. 20 Abs. I GG, es wird den Regelungen des Gesetzgebers überlassen, dies zu bestimmen. Es steht im Art. 20 Abs. I GG auch nichts vom „ganzen Volk“, wie es das Brandenburger Verfassungsgericht feststellt.

So wenig wie die Verfassung vorgibt, wer das Volk sein soll, und seine Bestimmung dem Gesetzgeber überlässt, sowenig legt sich der Verfassungsgeber darin fest, wen er für das „ganze Volk“ hält. Das „Ganze“ soll der Abgeordnete nach Art. 38 GG vertreten. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sagt von den gewählten Abgeordneten: „Sie sind die Vertreter des ganzen Volkes.“ Daran würde sich aber nichts ändern, wenn die Abgeordneten auf paritätischen Wahllisten zur Wahl gestellt werden. Es ist deshalb zutreffend festgestellt worden, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG keine Vorgaben für das Wahlrecht macht. Obwohl auch das Brandenburger Verfassungsgericht davon ausgeht, dass die Landesverfassung den Begriff der demokratischen Repräsentation des Volkes im Landtag nicht definiert, unterstellt es trotzdem „ein Modell der Gesamtrepräsentation des Volkes im LT“(VfGBbg 55/19, Rdnr. 183), dem „die Idee, dass sich in der Zusammensetzung des Parlaments auch diejenigen der (wahlberechtigten) Bevölkerung … widerspiegeln soll“, widerspreche (VfGBbg 55/19, Rdnr. 186). Konnte man den BayVerfGH in seiner Entscheidung von 26. März 2018 noch so verstehen, dass sich aus dem Demokratieprinzip kein Anspruch einer Bevölkerungsgruppe ableitet, entsprechend ihrem (Wahl-)Bevölkerungsanteil proportional im Parlament vertreten zu sein, so wird jetzt daraus in der Brandenburger Entscheidung ein verfassungsrechtliches Verbot, das Wahlrecht so zu gestalten, dass es auf die Herstellung differenzierender Repräsentation abzielt. Damit wird nicht nur wie in Thüringen das verfassungsrechtliche Gleichstellungsgebot für Frauen im Bereich der politischen Repräsentation ausgehebelt, sondern es wird ein Demokratiemodell konserviert, das der Besitzstandswahrung der Männer dient.

PROF. DR. ROSEMARIE WILL   Jahrgang 1949, hatte bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie derzeit für bioethische Fragen zuständig ist. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.

Anmerkungen:

1 S. https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenanteil_im_Deutschen_Bundestag_seit_1949.

2 S. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/741909/umfrage/frauenanteil-in-den-landesparlamenten-in-deutschland/.

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