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Grundlagen und Grenzen kultureller Vielfalt

vorgängevorgänge 3-200709/2007Seite 128-130

Heiner Bielefeldt plädiert für einen aufgeklärten Multikulturalismus

aus: vorgänge Heft 3/2007, S.128-130

Heiner Bielefeldt plädiert für einen aufgeklärten Multikulturalismus
Die gegenwärtige Bundesregierung missachtet bei ihrer Einwanderungspolitik menschenrechtliche Grundsätze und verstößt gegen von ihr unterschriebene völkerrechtliche Abkommen. Ihre rot grüne Vorgängerin machte es indes kaum besser, denn Otto Schily war bereits ein Hardliner in der Ausländerpolitik. Sein Nachfolger im Amt Wolfgang Schäuble gibt sich zwar nach außen bei der Integrationsthematik gerne verbal geschmeidig, manchmal fast liberal. Schaut man sich jedoch die konkrete Politik seines Hauses näher an, ist er in Wirklichkeit noch schlimmer als sein Vorgänger.

Heiner Bielefeldt Menschen in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus; transcript Verlag Bielefeld 2007; 216 S.; 22,80 Euro

Jüngste Belege für die Missachtung der Menschenrechte in der Einwanderungspolitik finden sich in der von Schäuble zu verantworteten Reform des Zuwanderungsgesetzes und im Prüfbericht des Innenministeriums zum Thema Menschen ohne Papiere.

Im neuen Zuwanderungsrecht lässt die Anhebung des Ehegattennachzugsalters erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel im Hinblick auf den in Art. 6 GG verbrieften Schutz von Ehe und Familie aufkommen und dürfte auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kaum vereinbar sein. Einen Verstoß gegen Menschenrechte bedeutet die vorgesehene Inhaftierung von Asylbewerbern für die Dauer der Prüfung, ob ein anderer EU-Staat aufnahmepflichtig ist – Verfahren, die mehrere Monate dauern können. Hier werden Menschen eingesperrt, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Pro Asyl und Interkultureller Rat bewerten das reformierte Zuwanderungsgesetz als „Katalog flüchtlings- und asylpolitischer Grausamkeiten“, türkische Verbände haben aus Protest gegen die Reform ihre Teilnahme am jüngsten Integrationsgipfel abgesagt.

Im Prüfbericht des BMI wird vorgeschlagen, die bereits bestehenden Meldepflichten öffentlicher Stellen bei den Ausländerbehörden noch zu verschärfen. Die elementaren Menschenrechte auf Bildung, körperliche Unversehrtheit und Gesundheitsversorgung, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche ,soziale und kulturelle Rechte verbrieft sind, können von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus wegen drohender Abschiebung de facto nicht wahrgenommen werden.

Vor diesem Hintergrund verdient das Buch „Menschen in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus“ von Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, besondere Aufmerksamkeit.

Die Botschaft, wonach in menschenrechtlicher Perspektive eine freiheitliche Integrationspolitik und die recht verstandene Anerkennung der multikulturellen Gesellschaft inhaltlich zusammengehören, wird in zehn Kapiteln, aufgeteilt in einen Teil I „Menschenrechtliche Grundlagen“ und einen Teil II „Exemplarische Streitfragen“, ausgebreitet. Bewusst unerörtert bleiben in dem Buch Fragen von Flucht und Asyl, Familiennachzug, Arbeitsmigration, irregulärer Migration und Menschenhandel.

Bielefeldt definiert in Teil I die Menschenrechte in ihrer Verbindung von drei Komponenten: des normativen Universalismus – getragen von der Idee der Menschenwürde ; einer emanzipatorischen Ausrichtung auf gleichberechtigte freie Selbstbestimmung und der politisch-rechtlichen Durchsetzungsintention. Er weist zu Recht darauf hin, dass der freiheitliche Anspruch der Menschenrechte nicht auf die bürgerlichen und politischen Rechte beschränkt ist, sondern auch für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gilt. Als drei staatliche Verpflichtungsebenen nennt er Achtung, Schutz und Gewährleistung der Menschenrechte. Der Gleichheitsanspruch der Menschenrechte finde seine historisch-konkrete Gestalt insbesondere im Diskriminierungsverbot. Damit wird übrigens auch die menschenrechtliche Dimension des politisch heftig umstritten gewesenen Antidiskriminierungsgesetzes, jetzt Gleichbehandlungsgesetz genannt, deutlich.

In einer gerafften ideengeschichtlichen Darstellung der Menschenrechte weist Bielefeldt auf die Gefahr einer „kulturgenetischen“ Vereinnahmung der Menschenrechtsidee hin, die fast zwangsläufig zu einem imperialistischen Verständnis der Menschenrechte führe. Er versteht demgegenüber Menschenrechte als Ergebnis von konflikthaft verlaufenden und unabgeschlossenen gesellschaftlichen Lernprozessen. Es gäbe keine Rechtfertigung dafür, die legitime Interpretation von Menschenrechten von vornherein auf die Religionen und Philosophien europäischen Ursprungs zu beschränken, weil nur sie angeblich zur Aufklärung fähig seien. Diese Klarstellung habe auch für den öffentlichen Diskurs über Integration und multikulturelle Gesellschaft Bedeutung. Die Menschenrechte würden nur dann eine integrative Wirkung in der Debatte um die Gestaltung multikultureller Koexistenz entfalten können, wenn ihr Geltungsanspruch nicht schlicht als Dominanzanspruch der Mehrheitskultur kommuniziert werde – eine Feststellung des Autors, die sich die Fürsprecher einer Leitkultur hinter die Ohren schreiben sollten.

Eingehend beschäftigt sich Bielefeldt unter der Überschrift „Grundzüge eines aufgeklärten Multikulturalismus“ mit dem Thema Multikulturalismus, seiner Mehrdeutigkeit, seinen Grenzen sowie seinen antiliberalen und liberalen Formen. Eine an den Menschenrechten orientierte Gesellschaft werde immer eine religiös, weltanschaulich und kulturell pluralistische Gesellschaft sein. In diesem Sinne gäbe es einen positiven Zusammenhang von Menschenrechten und Multikulturalität. Die Menschenrechte markierten jedoch auch Grenzen der Toleranz, vor allem im Blick auf kulturelle Traditionen wie z.B. Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat.

Zu Recht skeptisch äußert sich Bielefeldt zum Konzept einer verbindlichen Leitkultur. Wenn es dabei nur um die allgemein geteilten Erwartungen verfassungspolitischer Loyalität und deutscher Sprachkenntnisse gehe, wäre der auch semantisch unscharfe Begriff eigentlich überflüssig. Er signalisiere als Gegenbegriff zur multikulturellen Gesellschaft einen politischen Homogenitätsdruck auf Angehörige kultureller Minderheiten und stelle damit eine Hürde für die Integration dar. Mit Navid Kermani betont Bielefeldt, das Grundgesetz sei verbindlicher und präziser als jeder denkbare Begriff der Leitkultur.

Im lesenswerten Abschnitt über die religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats warnt der Autor vor den Gefahren „kulturgenetischer“ Vereinnahmungen des Säkularitätsprinzips und vor religionspolitischen Aufladungen des Kulturbegriffs wie sie von konservativer Seite mit dem Anspruch auf eine christlich geprägte Kultur immer wieder versucht wird. Ein Beispiel dafür biete die Kopftuchgesetzgebung mehrerer Bundesländer, die einen Sonderstatus für christliche Symbole reklamiere.

Der 2. Teil des Buches beschäftigt sich mit exemplarischen Konfliktfeldern in der Debatte um Integrationspolitik, bei denen es vor allem um den Umgang mit muslimischen Minderheiten geht. Bielefeldt skizziert unterschiedliche Konstellationen im Spannungsverhältnis von Grundgesetz und islamischer Scharia und zeigt auf, dass das Bekenntnis zur Scharia keineswegs in jedem Fall eine verfassungswidrige Haltung signalisiere. In einem weiteren Kapitel werden die Schwierigkeiten benannt, die bei der etwaigen Einführung des islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach mit Bekenntnischarakter bewältigt werden müssen. Schließlich wendet sich der Autor den Problemfeldern Kopftuch im öffentlichen Schuldienst, Zwangsverheiratung und Einbürgerungstests zu. Er spricht sich mit guten Argumenten gegen ein generelles Kopftuchverbot und für eine Einzelfalllösung aus. Beim Thema Zwangsheirat weist er auf die Verquickung zwischen Religion und patriarchalischen Traditionen sowie auf den Unterschied zu arrangierten Ehen hin.

Die Ausstiegschancen aus erzwungenen Ehen könnten durch ein unabhängiges Bleiberecht für betroffene Ehegatten und Kinder erheblich verbessert werden. Die Erhöhung des Nachzugsalters für Ehegatten und die Bindung des Nachzugs an den Nachweis von Deutschkenntnissen hält er zu Recht als bedenklich und als zur Verhinderung von Zwangs heiraten ungeeignet. Ebenfalls für rechtsstaatlich bedenklich hält er es schließlich, Einbürgerungen von anlassunabhängigen Tests der inneren Einstellung abhängig zu machen.

Heiner Bielefeldt hat ein wichtiges, auch für „migrationspolitische Laien“ interessantes Buch geschrieben, das nicht nur in seinem mehr wissenschaftlich-theoretisch angelegten ersten Teil gut lesbar ist, sondern in den im zweiten Teil sehr differenziert behandelten aktuellen politischen Streitfragen gute Argumentationshilfen liefert.

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