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Links, jenseits der Realität

vorgängevorgänge 3-200709/2007Seite 120-127

Wolfgang Abendroths Hoffen auf ein Fortwirken Walter Ulbrichts*

aus : vorgänge Heft 3/2007, S.120-127

Vetera­nen­streit, Regiments­ge­schichten zur Aufstellung der 68er gestern und heute sind unfrucht­bar. Dies zeigt der Streit über die echt-fal­schen NS-Mit­glied­s­chaften von Grass, Wasser, Lenz, Hilde­brandt. Gegenstand dieser Notizen sind das breite, positive Urteil über Wolfgang Abendroth, Geschichten über sein erstaun­li­ches Anregungs­po­ten­zial im Bezugsfeld Demokratie, Arbei­ter­be­we­gung und Klassen­spal­tung und eine Briefkarte. Eigentlich stehen ein Bericht(1) über die Karte und die schroffe Zurück­wei­sung(2) am Anfang. Diese Töne wecken das Bemühen um Verstehen (nicht um Verständnis). Unver­meid­lich kommt es dabei zum Rückblick auf Intel­lek­tu­elle um 1968 sowie auf unter­las­sene Trauer­a­r­beit (Altmeyer 2007).

Abendroths Kondolenzkarte und Ulbrichts historische Größe

Dem „lieben Genossen Norden“ schreibt Abendroth eine zweiseitige, handschriftliche, private Karte aus Anlass des Todes von Walter Ulbricht. Am 2. B. 1973, ein Tag nach dem Tod, „drängt“ es Abendroth mitzuteilen, er „und viele alte und junge Genossen, keineswegs nur die Mitglieder von DKP, SDAJ und MSB (Spartakus)“ empfinden und denken das Gleiche wie Albert Norden, der Leiter der Westableitung im ZK der SED ist und seit 1958 dem Politbüro angehört. Vereinnahmt wird der 1967 verstorbene (1928 aus der KPD hinausgeworfene) Heinrich Brandler, dieser habe Ulbricht genauso geschätzt und dies „wenige Tage vor seinem Tode“ „versichert.“ Ulbricht (30.6.1893 – 1.8.1973) wird angesprochen als „einer der Größten aus der Tradition der Arbeiterbewegung“ und ist „gleichzeitig einer der Größten der Geschichte des deutschen Volkes.“ Abendroth erwähnt auch Gegensätze zu Ulbricht, aber dessen ungeheurer historischer Leistung verdanke nicht nur die DDR „so viel“, sondern „auf lange Sicht auch die westdeutsche Arbeiterbewegung und der internationale Sozialismus.“ Der Nachfolgegeneration, der Abendroth (2.5.1906 – 15.9.1985) angehört, „und erst recht den Jungen“ sei Ulbricht „stets ein Vorbild an Treue zu Humanität und Sozialismus und an wissenschaftlicher Konsequenz in der Anwendung des Marxismus“ gewesen, was so bleiben wird. Dieses Fortwirken bekräftigt der Schluss, der dies mit der SED, der DDR, der westdeutschen Arbeiterbewegung und jungen Intelligenz sowie der Internationale verbindet.

Dies musste Abendroth nicht schreiben. Selbst wenn (warum?) „Opportunität“ und „Loyalität“ eine Rolle gespielt haben, fällt die Kondolenz überschwänglich aus. 1973 gibt es den „Antifaschistischen Schutzwall“ seit 12 Jahren, den Schießbefehl bei „Grenzdurchbrüchen“ ebenfalls, sogar auf Frauen und Kinder; 1962 verblutet Peter Fechter, 1966 werden zwei 10 und 13 Jahre alte Kinder erschossen, viele bekommen die Kugel zu spüren (so Hoffinann, der DDR-Verteidigungsminister, was Krenz nicht wissen will); 1968 wird der Prager Frühling militärisch erstickt, Vorsitzender des DDR-Verteidigungsrates ist Ulbricht, seit 1953 Generalsekretär der SED, von 1960 bis 1973 Vorsitzender des DDR-Staatsrats. All dies wusste Abendroth.

Sicher, dies ist die private Karte einer öffentlichen Person. Sie wirft ein Problem auf: Respekt gebietet der Widerstand gegen den Faschismus (Moneta: Balzer/Bock/Schöler 2001: 210 f.), jedoch können politische Aussagen aus dem Widerstand nicht unkritisch akzeptiert werden. Widerstand einerseits, Rezepte und Analysen andererseits bedingen Respekt und Kritik. Hinzukommt die wissenschaftliche Geltung.

Abendroth versteht sich als Geschichtsschreiber der deutschen Arbeiterbewegung und als politischer Soziologe, der praktisch beratend, initiativ, analytisch und deutend tätig ist (Abendroth 1967: 11 f.). Sind schon Respekt vor dem Widerstandskämpfer und Kritik gegenüber den Aussagen zur antagonistischen Gesellschaft und politischen Demokratie kompliziert abzuwägen, so wird dies persönlich zusätzlich erschwert.

Wie verträgt sich die Hymne auf Ulbricht mit dem verbreiteten Urteil(3) über Abendroth, den seine Universität Marburg u. a. neben Heidegger, Savigny und Troeltsch als einen ihrer prägenden Wissenschaftler vorstellt? Ein paar Stimmen aus dem breiten Kanon seien aufgeführt: Abendroth ist moralische Instanz und ein Oppositionspolitiker, der für die breite Interventionsbefugnis des sozialen Rechtsstaats gegenüber der Wirtschaft eintritt, was ihn „zum Hermann Heller der Bundesrepublik“ werden lässt. Abendroth gilt als unangepasster Marxist im Kalten Krieg oder als intervenierender sozialistischer Intellektueller oder, oft zitiert, als der Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Nie linientreu sei er, ein in der Arbeiterbewegung verwurzelter Intellektueller. Diese positiven Stimmen intoniert ein Reigen von deliberativen Anerkennungskämpfern, Antiautoritären, traditionellen Altlinken, sozialdemokratischen Verteilungspolitikern und Gewerkschaftern bis zu professoralen Autoritäten, für die jede Untat von links immer noch ein „Fehler der besseren Seite“ ist, denn „die Linke hat nach links keine Grenze“ (Fülberth).

Wie den Widerstand gegen die Notstandsgesetze 1966/68, so teilt das Urteil über Abendroth ein breiter demokratisch-linker Bogen. Dieser bricht 1968 bzw. mit der Auflösung des SDS 1969/70 und öffnet tiefe Gräben. Im Lichte der jetzt bekannt gewordenen Karte an Norden war es hellsichtig, was auf der IG Metall-Tagung zum 100. Geburtstag Abendroths 2006 ein Redner ausführte: „Es war lange ruhig, zu ruhig um Wolfgang Abendroth. Es scheint so, dass jenseits früherer innerlinker Blockaden und Kontroversen nun eine Zeit beginnen könnte, in der in seinem Werk das politisch wie wissenschaftlich Bleibende vom tagespolitisch wie taktisch-politisch geprägten Überholten getrennt werden kann und muss…“ (Schöler: Urban/Buckmiller/Deppe 2006: 79).

Allgemein: Kann man sich irren?

Ja, leicht, schnell! Es sei denn, man ist langweilig und zuverlässig, festgelegt, dann merkt man seine Irrtümer nicht, ist auf Kritik außerhalb des Bezugssystems angewiesen, darf sich nicht in seiner Schule eingraben. Verknüpfen wir Freud mit Luhmann, ist das Leben „zu schwer für uns“ und bedarf der Vereinfachung. Linderung verspricht u. a. Wissenschaft, sie reduziert Komplexität. Sie scheidet Neben- und Hauptwidersprüche, hält an Zielen fest, findet Zweck in der Geschichte, ordnet Details dem Prinzip unter. Es entstehen allerlei Rationalität und Konstruktionen. Problematisch wird dies, wenn offene Fragen und neue Erfahrungen verstellt werden. Abstrakt beschreibt dies Abendroth (1967: 11 f.), indem er das Primat der Praxis beleuchtet.

Max Weber sieht im. „Opfer des Intellekts“ die Kosten, wenn man Offenheit nicht aushält. Mit seinem Traditionalismus, der Dominanz der Praxis gegenüber theoretischen und methodischen Fragen, der Bindung an den geschichtlichen Gang zum (demokratischen) Sozialismus, der Unterordnung des Einzelnen unter die Arbeiterbewegung(4) (kritisch gegenüber ultralinken Hasardeuren) bezahlt Abendroth diese Kosten. Die Kondolenz bezeichnet den Tiefpunkt. Sein Weg dorthin dauert vier Jahre, von 1968 bis 1971, die Festgaben zum 60. und 65. Geburtstag markieren ihn (Maus 1968; BRD-DDR 1971). Die akademische Festschrift zum 60. Geburtstag ist fachübergreifend und pluralistisch, sie enthält Beiträge u.a. von Adorno, Augstein, Bloch, Bracher, Brenner, Flechtheim, Habermas, Herz, Maus, Mayer, Ridder, Scheibert, R. Schmid, Schramm und W. Weber. 1971 dagegen schenken ihm seine Schüler ein politisches Pamphlet. Die DDR bewege sich zur „sozialistischen Demokratie“, wogegen die Bundesrepublik „sich selbst von den Normen bürgerlicher Demokratie immer mehr entfernt` ; die DDR dokumentiere „die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber der kapitalistischen Klassengesellschaft“ (BRD-DDR 1971: bes. 35 ff., 248 ff., 402 ff.). Abendroths eigener Vergleich (1971) wird zugespitzt.

1968 ist Abendroth – neben u. a. Offe und Reiche – an der Antwort auf Habermas‘ Kritik an „Linksfaschismus“ und „Scheinrevolution“ beteiligt. 1968 ist ein kurzer Sommer der Revolte. Es ist ein höchst turbulente und ereignisreiche Zeit, man kann glauben, Studenten und Arbeiter seien Bundesgenossen beim Strukturwandel der Bundesrepublik (Abendroth: Die Linke antwortet Habermas 1968: 134).

1968 ist das Jahr einer bewegten Erde, es sind die antiautoritären Studenten, die sich als Motor begreifen. Ab 1969/70 erfolgt die Trennung von Traditionalisten, Antiautoritären und Militanten. Dies bekommt beiden Seiten nicht gut, Realitätsverluste werden größer, wechselseitige Korrekturen unterbleiben.

Abendroth ist vom Winter 1950 bis zum Sommer 1972 Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg – zuerst allein. 1960 wird das Fach als Promotionsfach anerkannt. Erst 1961 kommt mit Erich Matthias, einem Historiker der Weimarer Arbeiterbewegung und Parteien, eine zweite Professur hinzu. 1967 bis 1971 besetzt Ernst Otto Czempiel diese Stelle; 1970/71 erfolgt mit den Überleitungen vormaliger Assistenten (auf sog. „Hessenprofessuren“) eine Ausweitung des Instituts, die „Marburger Schule“ entsteht (Hüttig/Lutz 1999: 304 ff.; Bock 2007). Vormalige Schwerpunkte werden kanonisiert, Akzente bzw. Denkrichtungen werden verbindlich. Mit der Nachfolge, einer Hausberufung, mit der Besetzungs- und Überleitungspolitik in Marburg, mit der Habilitation von Reinhard Kühnl (1969-71) und mit der zeitgleichen Gründung der DKP und deren Einzug in die Marburger Stadtverordnetenversammlung (1972) brechen innerlinke Konflikte in schroffer Form auf. Als extremer Gegenpol mag Fritz Vilmars Kampagne (1975) zur Schließung des Marburger Fachbereich als DKP-„Parteihochschule“ angesehen werden (Bock: Balzer/Bock/Schöler 2001: 235, 240, 242 £, 247 ff., 260 ff.).

Es gibt ab 1969/70 keine Brücken mehr. Abendroth ist/wird isoliert. Dies ist in seinem Votum für die Arbeiterbewegung angelegt, es ergibt sich aus der Loyalität zu seinen Schülern. Er reduziert Komplexität zu Gunsten der DDR und der (im September 1968 gegründeten) DKP und vor allem des MSB Spartakus, der seit 1971 bestehenden Studentenorganisation der DKP. Vor allem jüngere Kader sind wichtig, hier sieht Abendroth den Nukleus künftigen Klassenbewusstseins. Es kommt politisch wie politikwissenschaftlich zu „Realitätsausblendungen“ (Bock ebda: 263), zu Reduktionen auf arbeiterbewegte, politökonomische und optimistisch-demokratische Akzente. (Im Falle der antiautoritären Bewegung wird Politik auf den Gegensatz von Staat und Gegengewalt und auf wechselweise sich aufschaukelnde Zirkel von Protest und „vorbeugendem Machtkampf“ [Krahl 1971: 244] reduziert.)

Dies beginnt vor der Karte von 1973. 1971 wird die Bundesrepublik mit der DDR verglichen und schneidet schlecht ab. Die „stalinistische Entwicklungsphase“ von SBZ und DDR wirke zwar „immer noch nach“, aber die Gesellschaft entwickele sich sozialistisch. Seit 1961 entfalle das Wegengagieren von Spitzenkräften, eine „industrielle Gesellschaft sozialistischen Charakters“ entstehe der sozialistische Rechtsstaat schirme individuelle Freiheitsrechte besser ab, „quasi-stalinistische Herrschaftsformen“ würden „immer eindeutiger“ zurücktreten. Dies wirke auf die Bundesrepublik ein, die „antikommunistische Mentalität“ löse sich auf. Dies schrieb Abendroth (1971: 25 ff.) bereits vor seiner Kondolenzkarte.

Ein politischer wie methodischer Traditionalismus sowie die Zurückdrängung theoretischer Fragen etwa nach der Geltung utopischer Energien, der Erosion sozialmoralischer Milieus und der Ausdifferenzierung von Kapitalverhältnissen und der Sozialisation (ver)führen Abendroth zu einer Überbewertung der DDR und ihrer Wirkung auf die westdeutsche Intelligenz und Arbeiterbewegung. Der Traditionalismus durchzog zuvor die Bestimmung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats (1954)(5) und die Anti-Notstandskampagne (1966/68). Beides prägt Abendroths positive‘ Rolle als politischer Jurist im Protestbogen.

1968 zerreißt das Band, das zunächst die politischen Perspektiven der Traditionalisten und der Antiautoritären verband. Traditionalisten und Antiautoritäre bzw. Marburg und Frankfurt verstehen sich nicht mehr und finden jeweils neue Sprach- und Politikformen. Vergleicht man z.B. die politische Sozialisation von Abendroth (Diers 2006; Buckmiller/Perels/Schöler 2006) und Krahl (1971: 19 ff.) werden diese Unverständnisse offensichtlich. Abendroths praktisch angeleitete Theorie bleibt Adorno fremd und suspekt, sein Votum für die Arbeiterbewegung bringt Gegensätze zu Marcuse, Habermas und Offe hervor. (Hier ist noch viel zu klären: vgl. Demirovic: Urban/Buckmiller/Deppe 2006: 31 ff.; Bock: Balzer/Bock/Schöler 2001: 237 f., 243 ff., 247 ff.; Bock 2007).

Hans Manfred Bock (ebda: 260 f.) unterstreicht diesen Übergang. Abendroth identifiziere sich nicht kritiklos mit der DDR, meine aber, die mittleren und jüngeren Funktionäre von DKP und MSB ebenso wie die Entwicklung der DDR könnten die Verkrustungen der Bundesrepublik demokratisch zum Tanzen zu bringen. So begegnen sich junge Intellektuelle und Arbeiterbewegung. Änderungen der Politikformen, unkonventionelle Aktivitäten ebenso wie Erschlaffungen im Kontext eines entwickelten integralen Etatismus (Horkheimer), erschließen sich Abendroth nicht. Pluralismus bzw. „Klassengleichgewicht“ interpretiert er positiv als sozial-demokratischen Handlungsauftrag. Die Erschöpfung von Politik in der Demokratie, was heute resignativ als nach-demokratischer Verdruss diskutiert wird (Arzheimer 2002; Crouch 2004), ist für ihn kein Thema. Die Handlungsperspektiven öffnen gute Beziehungen zu den Gewerkschaften und zur Bildungsarbeit. Hieraus ergibt sich für Teile der Enkelgeneration und die Linke heute eine erneute Aktualität Abendroths (Urban/Buckmiller/Deppe 2006).

(Ir)Realismus?(6)

Abendroths Kondolenzkarte erscheint unverständlich, bleibt persönlich unfassbar. Dennoch passt sie in die 1960er Jahre und zum damals durchaus verbreiteten „Zeitgeist.“ Die Linken, die Studentenbewegung, eine alte Linke, wenige sympathisierende Hochschullehrer, hatten aus heutiger Sicht ein angemessenes Maß für politische Realität verloren. Wie scharf auch die damaligen Konflikte untereinander waren, von heute aus betrachtet lesen sie sich „alle“ überspannt und besserwisserisch. Die Ausgrenzung im „CDU-Staat“, ihre Hassliebe zur SPD lässt viele Intellektuelle einen politischen Ort fern in Vietnam und in den USA/SA-SS finden. Davor bewahrt Abendroth sein Traditionalismus. Auch Abendroth teilt jedoch die moralische Selbstgerechtigkeit gegenüber einer halb nach- und halb präfaschistischen Bundesrepublik (Die Linke antwortet Habermas 1968: 138), auch er leidet unter dem Fehlen eines Korrektivs, dem Fehlen einer analytischen, realistisch-demokratischen Sozialwissenschaft und Öffentlichkeit. Der verbale Radikalismus jener Jahre ist im Nachhinein schwer zu begreifen. Gewalt (gegen Sachen sowieso) und Guerilla werden verharmlost, Abendroths Spielart ist das hohe Lied auf Ulbricht und die DDR.

„Totalizing theory“ und Toleranz

1973 habe ich bei Wolfgang Abendroth promoviert mit einer Arbeit zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Industrie. Die Arbeit ist in Frankfurt im Kreis um Iring Fetscher und seine Mitarbeiter Dieter Senghaas, Gert Schäfer, Walter Euchner und Gisela Kress entstanden. Es sind persönliche Fragen der Betreuung die dazu führen, dass mehrere Dissertationen aus diesem Umfeld nicht in Frankfurt abgeschlossen werden bzw. überhaupt kein Ende finden. Besser als Fetscher fragte Abendroth direkt nach (,Bist Du eigentlich schon promoviert?‘) und übernahm Fürsorge für angehende junge, linke Intellektuelle. Ich kannte Abendroth – und Jürgen Seifert – aus der Anti-Notstandsarbeit am Rande der SPD und der Gewerkschaften (Hennig 2005). Aufgrund seiner Frage lag es nahe, mein Promotionsverfahren bei ihm (und Heinz Maus) abzuschließen.

Es bedurfte eines Besuchs in Marburg. Abendroth lag schräg im Stuhl, rauchte permanent, verbrannte sich mit der Zigarette den Finger, fragte mich noch beim Eintreten, was ich vom MSB halte (,Nichts!‘ -,Anders als in Frankfurt ist er in Marburg gut‘). Dann sagte er die Begutachtung zu. Mit Betreuung vor dem Gutachten könne ich nicht rechnen. Das war ich gewohnt. Am 27. August 1973 – kurz nach der Karte – liegt Abendroths vierseitiges handschriftliches Hauptgutachten vor. Darin wird eine unnötige Kapitulation vor anderen Forschungsansätzen als dem Marxismus als Ursache von Fehlern angesprochen. Man lande bei „Eklektizismus, Fehlresultaten und falscher Problemstellung.“ Der kritische Rationalismus solle nicht mit dem historischen Materialismus „vermengt“ werden. Dadurch werde der Widerstand gegenüber „allen Theoremen des ,staatsmonopolistischen Kapitalismus“ verständlich. Dennoch wird die Dissertation („wenn auch mit Einschränkungen“) gut bewertet. Heinz Maus urteilt anders, hebt positiv die Kritik an der Arbeiterbewegung hervor. Der dritte Gutachter moniert die „etwas obskure Verwendung“ des Begriffs Sowjetmarxismus, offensichtlich sei das von Fetscher entlehnt. Differenzen werden deutlich, haben aber keinen Einfluss auf die Note. Ich kann nicht klagen, es ist müßig zu spekulieren, welchen Abschluss ich ohne Wolfgang Abendroths dringliche Anfangsfrage und ohne seine Ermutigung hätte.

Abendroths Karte zu Ulbrichts Tod ist eine Seite, eine andere ist seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Wenn unzweideutig feststand, dass es sich um eine akademische Angelegenheit, eine Prüfung, handelt, dass daraus kein Anspruch in Marburg oder einem sonst wichtigen Ort (wie der gewerkschaftlichen Bundesjugendschule in Oberursel und der Akademie der Arbeit in Frankfurt) folgt, dann war Abendroth jenseits seiner Positionen und Begriffe hilfsbereit, fürsorglich und tolerant.

Ein Theoretiker in dem Sinne, wie dies in Frankfurt, nicht nur im Umfeld Adornos, gefordert wurde und nicht nur, aber auch zu den Exerzitien der „German Ableitungsdiscussion“ führte, ist Abendroth nie gewesen. Seine Arbeiten waren handfest, bedacht auf Gebrauchswerte und Interessen (weniger als Verdinglichungen und Entfremdungen) bei Gewerkschaften und Parteien, auf eine kritische Sicht des Sozialstaates.

Gegenüber dem Verlust politischer Maßstäbe hätte Abendroth, der 1973 67 Jahre alt war und eine bewegte, an Unterdrückung reiche Biographie hatte, korrigierend wirken können. Das Votum für die Verbindung von Jugend, Intelligenz und Arbeiterbewegung mit Blick auf einen demokratisch bestimmten Sozialstaat war sein Angebot. Korrigiert hat er damit nur solche sozial bewegte Antiautoritäre, die arbeiter- und (arbeiter) jugendbewegt ansprechbar waren. Dies galt für ein Generationsfragment um 1930 (Klönne, Schumann), ansonsten erreichte Abendroth nach 1968 nur einen kleineren Teil des studentischen Protests. Bock (Balzer/Bock/Schöler 2001: 282 f., 285) deutet an, Abendroth sei es gelungen, die traditionelle Rekrutierung von Doktoranden zugunsten der Mittelschichten zu durchbrechen, Kinder von Verfolgten des NS-Regimes schienen häufiger vertreten zu sein, ebenso hätten Marburger Doktoranden ein Plus an außerakademischen und ein Minus an ausländischen Erfahrungen aufgewiesen.

Solche lokal- bzw. universitätsspezifischen Sozialisations- und Organisationsbedingen der Studentenbewegung und vor allem ihres Zerfalls in diverse Kleingruppen sind auffällig. Warum unterschieden sich z.B. Frankfurt, Köln, Marburg, München, Berlin, Hannover? Marburg blieb – anders als Frankfurt – freier von Spontis und RAF. War dies dem besonderen Flair der Marburger Schule geschuldet? Nach Abendroths Emeritierung (1972) erfolgte die „Verschulung“, sowohl politisch-publizistisch als auch in der Lehre. Andererseits gab es persönliche Toleranz. Dieser Widerspruch bestimmte Abendroth (mehr als die Marburger Schule).

Abendroth sah 1966 im Grundrechtssystem die Voraussetzung für Demokratie und für die „Demokratisierung der Sozialordnung.“ Demokratische Kräfte, so Abendroth (1966: 68, 73, 75), hätten „die Pflicht“, das Grundgesetz zu schützen. Zwischen diesen Positionen zum Grundgesetz und dem Sozialstaat einerseits und der Trauerkarte und der Interpretation der DDR andererseits tut sich eine inakzeptable Differenz auf. Sie markiert den Regress der traditionellen Linken. In der Bundesrepublik hatten sie niemanden (außer Teile der Gewerkschaften), der zuhörte oder kooperierte, da wanden sie sich der DDR hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“ zu. Diese Linke hatte Spontis und Kommunarden nichts zu bieten. Aber auch Antiautoritäre verabschiedeten sich von der Bundesrepublik, sie suchten den Sommer der Anarchie, waren mental in China, Vietnam, in der Karibik und bei der südamerikanischen Stadtguerilla. Theoretisch wurde über Entfremdung, die Logik der Kapitalanalyse und die Ableitung des Staates nächtelang nachgedacht.

Vom „Kampf um Verfassungspositionen“ konnte auf den bewaffneten Kampf gegen den „Schweinestaat“ kein Einfluss genommen werden. Jedoch auch antiautoritäre Gruppen konnten diese Wende der frühen 1970er Jahre kaum mehr unterbinden (zumal sie Feierabends teilweise selbst in den Terror drifteten). Es ist gut möglich, dass Abendroth wegen dieser ultralinken Unübersichtlichkeit den Hauptwiderspruch und den etatistischen Ordo -Sozialismus schätzte. Das Lob der DDR und der Organisation ist die eine Überzeichnung, das Lob der Militanz, der Informalität und Spontaneität die andere.

Sartre, nahezu gleich alt wie Abendroth, zeichnete sich durch Fehlurteile über politische Gewalt aus. Wie kam es zu solchem Irrealismus? Bei der Beerdigung am 20. 9. 1985 singen zwei Gewerkschaftschöre in der Frankfurter Friedhofshalle die „Internationale“, dafür kann Wolfgang Abendroth nichts. Oder?

* Dieter Hoffmann und Rudolph Walter danke ich für Kritik. Dies ändert nichts an meiner Verantwortung.

(1) Nagel 2007; www.bundesarchiv.de/aktuelles/aus_dem_archiv/galerie/00176/index.html mit den Dokumenten.

(2) Fülberth 2007, einen Tag nach Nagel 2007: „Von Stasi kein Wort… nur noch ,Verbindungen zur politischen Führung der DDR‘ – dokumentiert durch ein Beileidsschreiben.“ Zum Inhalt nichts! Nagel ist die „arme Anne“: „Sie wird Professorin werden.“ Vgl. Fülberth („Eine Lüge über Wolfgang Abendroth“) in www.linksnet.de/linkslog/index.php?itemid=486. Im selben Ton www.pawek.de/01-06-07.html.

(3) Auf Einzelnachweise wird verzichtet. Vgl. Balzer/Bock/Schöler 2001; Urban/Buckmiller/Deppe 2006.

(4) Thalheimer, so Abendroth, hat sein Leben „in den Dienst der bewussten Entwicklung von Klassenbewusstsein“ gestellt.

(5) Die Sozialstaatsinterpretation stellt die Sozial- und Wirtschaftsordnung zur Disposition der Gesellschaft, „die sich im demokratischen Staat selbst bestimmt“ (Abendroth 1967: 116).

(6) Um Fragen des Realismus kreist die Debatte mit Habermas (Die Linke antwortet Habermas 1968: 15, 173 ff.).

Literatur

Abendroth, Wolfgang 1966: Das Grundgesetz, Pfullingen

Abendroth, Wolfgang 1967: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied u. Berlin

Abendroth, Wolfgang 1971: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, in: Steffen, Hans (Hg.): Die Gesellschaft in der Bundesrepublik. Analysen. Zweiter Teil, Göttingen, 105-129

Altmeyer, Martin 2007: Komplexitätsreduktion mit Waffe, in: Kommune, Juni/Juli, 6-9

Arzheimer, Kai 2002: Politikverdrossenheit, Wiesbaden

Balzer, Friedrich-Martin Bock, Hans Manfred/Schöler, Uli (Hg.) 2001: Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker, Opladen

Bock, Hans Manfred 2007: „Frankfurter Schule“ und Marburger Schule“, unveröffentl. MS, 41 S.

Buckmiller, Michael/Perels, Joachim/Schöler, Uli (Hg.) 2006: Wolfgang Abendroth. Gesammelte Schriften, Bd 1 (1926-1948), Hannover (vorges. sind 8 Bde)

BRD DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme 1971, Köln

Crouch, Colin 20004: Post-Democracy, Cambridge/Malden

Diers, Andreas 2006: Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth. Leben und Werk 1906 – 1948, Hamburg

Fülberth, Georg 2006: Zu Wolfgang Abendroths angeblichen DDR-Kontakten, in: Sozial.Geschichte, Heft 3,78-83

Fülberth, Georg 22. 5. 2006: Annahme verweigert, in: www.linksnet.de/linkslog/index.php?itemid=425

Fülberth, Georg 24. 11. 2206: Eine Lüge über Wolfgang Abendroth, in: www.linksnet.de/linkslog/index.php?itemid=486

Fülberth, Georg 26. 5. 2007: Reisekostenabrechnung des Tages, in: Junge Welt, 8

Hennig, Eike 2005: Jürgen Seiferts linke Rechtstheorie, in: Vorgänge, H. 3-4, 166- 174

Horkheimer, Max 1942: Autoritärer Staat, abgedr. In: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons (Hg.) 1981: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt, 55 – 79

Hüttig, Christoph/Raphael, Luth 1999: Die „Marburger Schule(n)“ im Umfeld der westdeutschen Politikwissenschaft 1951 – 1975, in: Bleek, Wilhelm/Lietzmann, Hans J. (Hg.): Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen, 293 -318

Krahl, Hans-Jürgen 1971: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt

Maus, Heinz (Hg.) 1968: Gesellschaft, Recht und Politik, Neuwied u. Berlin

Nagel, Anne Christine 25. 5. 2007: Ehrt eure größten Männer, in: FAZ, 35

Urban, Hans-Jürgen/Buckmiller, Michael/Deppe, Frank (Hg.) 2006: „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“, Hamburg

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