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Einleitung

31. Oktober 2008

Seit dem Jahr 2003 veranstaltet die Humanistische Union die Berliner Gespräche zum Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung. Mit der von Dr. Jürgen Kühling, Bundesverfassungsrichter a. D., initiierten Reihe will sie Impulse für die religionspolitische Diskussion in Deutschland geben.

Die zweiten Berliner Gespräche hatten 2005 das Selbstverständnis der Religionen und Weltanschauungen, ihr internes Verhältnis zum modernen Verfassungsstaat zum Thema. Daran anknüpfend behandelten die hier dokumentierten dritten Berliner Gespräche, die am 13. April 2007 in Potsdam stattfanden, das äußere Verhältnis der Religionen und Weltanschauungen zu den verfassungsrechtlichen Werten, wie sie sich in den Grund- und Menschenrechten niedergelegt finden.

Die Frage nach den Voraussetzungen der Menschenrechte wurde in der Aufklärung im ausgehenden 17. Jahrhundert von Pierre Bayle (1647-1706) formuliert. Bayle unterschied bei seiner Antwort Religion und Moral voneinander und bestritt erstmals die noch in der Naturrechtslehre geltende Annahme, dass moralisches Handeln notwendig von religiöser Bindung abhänge. Er behauptete stattdessen, dass sich Sittlichkeit individuell, d. h. auch säkular und atheistisch begründen ließe.

Die Diskussion um die religiösen oder weltlichen Ursprünge des sittlichen Handelns sind seitdem nicht verstummt. Die gegenwärtige deutsche Diskussion bezieht sich dabei vor allem auf das so genannte Böckenförde-Diktum. Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte im Oktober 1964 jenen Satz, der heute nach ihm benannt ist: Demnach lebe der freiheitliche, säkularisierte Staat „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das sei das Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen sei.“ [1]Böckenförde hatte seinerzeit die Frage nach den integrativen Ursprüngen der westlichen, demokratisch verfassten Gesellschaften aufgeworfen: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, [homogenitätsverbürgende] Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?“ [2]

Nach Böckenfördes Vorstellung wird der integrative Wertehorizont vorsäkularer Gesellschaften durch die Religion gebildet. Deren homogenisierende Kräfte verlieren mit der Vollendung der Säkularisation an Bedeutung, erkennbar etwa an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Revolution. Die Menschen sind nun auf sich selbst und ihre Freiheit gestellt. Die emanzipierten Einzelnen müssten zu einer neuen Gemeinsamkeit und Homogenität zusammenfinden, soll der Staat nicht der inneren Auflösung anheim fallen. So stelle sich die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und in ihrem eigentlichen Kern.

Böckenfördes Antwort von 1964 auf die Frage nach den bindenden Kräften im freiheitlichen, die Menschenrechte garantierenden Verfassungsstaat, weist der Religion nicht nur eine zentrale Funktion innerhalb säkularer Gesellschaften zu, sondern verortet sie zugleich in einer übergeordneten Position. So lebe auch der freiheitliche, säkularisierte weltliche Staat letztlich von jenen inneren Antrieben und Bindungskräften, die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittelt. Die Behauptung vorausgehender, religiöser Werte verleitet zugleich zu der Annahme, dass diese Werte dem gesellschaftlichen Wandel entzogen seien.

Angesichts der Gefährdungen des säkularen Staates durch religiöse oder politische Fundamentalismen hat Wolfgang Böckenförde 2006 seine Antwort neu formuliert. [3] Mit Blick auf den Islam widmete er sich nun dem Umfang und den Grenzen des Entfaltungsraums religiöser Freiheit im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung. Er geht dabei besonders auf die Leistungen der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein und beschreibt an ihr beispielhaft das notwendige Verhältnis von Religion und Menschenrechten. Am 7. Dezember 1965 hatte das Zweite Vatikanische Konzil die bis dahin kontrovers diskutierte Anerkennung der Religionsfreiheit beschlossen. Böckenförde würdigt dies als epochalen Schritt, dessen Umsetzung freilich noch einige Zeit gebraucht habe. Die katholische Kirche sei aber keineswegs bei der Anerkennung der Religionsfreiheit als einer Konzession stehen geblieben. Sie habe vielmehr das äußere Recht auf religiöse Freiheit, als in der Freiheitsnatur und der Würde der menschlichen Person liegend, positiv begründet. Was sich hier ereignet habe, schreibt Böckenförde, „ist nicht mehr und nicht weniger als das Ergebnis des notwendigen, zuweilen beschwerlichen Dialogs zwischen Glaube und Vernunft, der hier zu einer Reinigung des Glaubens durch die Vernunft der Aufklärung geführt hat.“ [4]

Das, was bei Böckenförde als Dialog und Reinigung der katholischen Kirche mit der Vernunft der Aufklärung beschrieben wird, verweist auf ein komplexes Verhältnis zwischen religiösen und weltlichen Werteordnungen. Der Wandel des katholischen Verhältnisses zur Religionsfreiheit und die sich daraus ergebenden Änderungen im katholischen Selbstverständnis machen deutlich, dass Religion nicht einfach als eine dem Staat vorausgehende, innere Antriebs- und Bindungskraft begriffen werden kann, die frei von weltlichen Einflüssen wäre. Seit dem Einsetzen der Säkularisierung müssen sich Religionen und Weltanschauungen vielmehr selbst mit den aus der Geltung der Menschenrechte erwachsenden Ansprüchen auseinander setzen. Dass dies nicht ohne Auswirkungen auf ihr eigenes Menschenbild geschehen kann, ist kaum verwunderlich.

Die dritten Berliner Gespräche greifen dieses Verhältnis weltlicher und religiöser Werte auf verschiedenen Ebenen auf: In ihren drei Referaten setzen sie neben eine rechtsphilosophisch-historische Betrachtung (Prof. Dr. Hasso Hofmann) eine religionssoziologische (Prof. Dr. Rolf Schieder) und eine verfassungsrechtliche Perspektive (Prof. Dr. Bernhard Schlink). Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion über aktuelle politische Fragen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland.

Die zahlreichen Verbindungen zwischen religiösen und Verfassungswerten zeigte einleitend Hasso Hofmann mit einem breit angelegten Rundgang durch die Entstehungsgeschichte der individuellen Freiheit, dem Recht auf Schutz des menschlichen Lebens und der Idee der Menschenwürde auf. Hofmann gelang es dabei, der rechtsphilosophischen Begriffsgeschichte höchst aktuelle Bezüge zu entlocken. So setzte sich Hofmann mit der Frage auseinander, inwiefern der im Grundgesetz verankerte Begriff der menschlichen Würde ein „Derivat des Christentums“ (Isensee) sei. Gegen derlei Ansprüche verwies er auf den antiken Ursprung der dignitas hominis bei Cicero, der damit die Anteilnahme des Menschen an der umfassenden, den ganzen Kosmos erfüllenden Weltvernunft beschrieb. In der christlichen Tradition wurde aus dieser teilhabenden Menschenwürde eine Ähnlichkeitsbeziehung des Menschen mit seinem Schöpfer, die Gottesebenbildlichkeit. Die für die Neuzeit charakteristische Frage der Stellung des Menschen im Gemeinwesen und gegenüber der Obrigkeit, wie sie sich aus der Würde als sittlicher Qualität ergibt, ging dabei verloren. Die Kirche habe, trotz ihrer Lehre von der gleichen Gottesebenbildlichkeit aller, die Menschen über Jahrhunderte durchaus folgenreich nach Christen, Herätikern und Nichtchristen sowie nach Männern und Frauen unterschiedenen.

Auch die Sklaverei, vom dunklen Kapitel inquisitorischer Folter ganz zu schweigen, haben die Päpste erst im 19. Jahrhundert definitiv verworfen. Es seien Laien gewesen, die die imago-dei-Lehre (die Lehre vom Bild Gottes im Menschen) unbefangen – gegen die Kirche – auf die soziale Sphäre bezogen. Diese Laienbewegungen hätten sich dabei auch gegen eine protestantische Tradition gewandt, der zufolge der Mensch seine Würde vor Gott durch den Sündenfall verloren habe. Die neuzeitliche Entwicklung der Idee menschlicher Würde habe folglich außerhalb der christlichen Theologie – „teilweise sehr entschiedenen gegen sie“ – im Humanismus der frühen Neuzeit und der neuzeitlichen Philosophie stattgefunden. Erst der kantianische Begriff der Menschenwürde, die als sittliches Grundverhältnis jeder Person zukomme und deren wechselseitige moralische Anerkennung sichere, bringe rechtsphilosophische und theologische Traditionen wieder einander näher.

Warum es nützlich ist, sich einmal mit der Entstehungsgeschichte unserer Verfassungswerte zu beschäftigen, wurde in der Diskussion zu Hofmanns Vortrag deutlich. Die religionspolitische Konfrontation verleitet zuweilen zu einem schematischen Dualismus zwischen religiösem Glauben und aufklärerisch-fortschrittlichen Denken, der nur die Differenzen und gegenseitigen Kritiken sieht, vorhandene Überschneidungen und Kontinuitäten aber ausblendet. Der historische Blick kann hier zu einer „Entzauberung“ aufklärerischer wie religiöser Selbstgewissheiten beitragen. Bei näherem Hinsehen treten christlich-religiöse Wurzeln von Menschenrechten hervor wie sich andererseits nichtreligiöse Grundlagen moderner Verfassungswerte zeigen. Der Begriff der Menschenwürde sei, so Hasso Hofmann, ein hervorragendes Beispiel für einen Verfassungswert, der Anknüpfungspunkte für verschiedene religiös-weltanschauliche Werteordnungen biete.

Diese Anschlussfähigkeit erlaube die Bildung eines gesellschaftlichen Konsens. „Dieser Befund bedeutet keine Schwäche der Verfassungswerte.

Im Gegenteil: In der pluralistischen Gesellschaft muss die Verfassung für das Leben nach unterschiedlichen Moralen Verbindlichkeit beanspruchen. Und das kann sie umso erfolgreicher, je mehr Motive der Folgebereitschaft sie anspricht, je mehr Raum sie verschiedenen Grundüberzeugungen lässt. Verfassungswerte in einer lehrhaft strengen Weise auf bestimmte einzelne Traditionselemente festzulegen, stärkt die Verfassung daher nicht, sondern schwächt sie.“

Der zweite Vortrag über „Religionen in der pluralistischen Gesellschaft“ des evangelischen Theologen Rolf Schieder polarisierte die Teilnehmer der dritten Berliner Gespräche. Seine These, wonach sich Religion und Politik gegenseitig bedürfen, stieß auf ein geteiltes Echo. Zunächst wollte er Missverständnisse über den Rückgang des Religiösen ausräumen. Dazu verwies er auf den Umstand, dass es sich bei der von Soziologen beschriebenen Säkularisierung um einen „europäischen Ausnahmefall“ handle. Der von vielen als Folge westlicher Modernisierungsprozesse prognostizierte Niedergang der Religionen könne so nicht festgestellt werden. Zudem handele es sich bei allen politischen wie religiös-weltanschaulichen Überzeugungen um sinnstiftende, zielwahlorientierende Gewissheiten. Religiöser Glaube könne deshalb auch nicht im Gegensatz zu wissenschaftlichen Formen des Wissens gesehen werden.

In Anlehnung an das Böckenförde-Diktum betonte Schieder: „Religionen in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen leben von Vorraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können. Die elementarste Vorraussetzung des Religiösen in einem Gemeinwesen ist die Religions- und Gewissensfreiheit. … Ohne Religionsfreiheit – zugespitzt formuliert – gäbe es keine Religion. Wenn das aber so ist, dann  müssen alle Religionsgemeinschaften ein Interesse daran haben, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit aller – eben auch der Konkurrenten – geschützt und gewährleistet wird. Wie wir wissen, hatten die Kirchen daran nicht immer ein Interesse.“

Mit Blick auf die Diskussion um Religions-, Ethik- und Lebenskunde-Unterricht warnte Schieder davor, den berechtigten Anspruch nach einem religiösen-weltanschaulichen Pluralismus durch ein religionskundliches Fach erfüllen zu wollen (wie dies die Humanistische Union mehrfach gefordert hat). Werde die Positionalität des Religionsunterrichts gegen die Vielfalt eines LER- oder Ethik-Unterrichts ausgespielt, würde dies den Pluralismus entleeren. Religion an sich lasse sich so wenig lehren wie man nur „Äpfel, Birnen und Bananen essen [kann], und nicht Früchte überhaupt.“

Bernhard Schlink gab mit seinem Referat einen Überblick über den status quo des deutschen Staatskirchen- bzw. Staatsreligionenrechts. Angesichts zahlreicher neuer religiöser Gruppen und Bewegungen sah er zwei Gefahren: Zum einen werde das Staatskirchenrecht den Besonderheiten der neuen religiösen Bewegungen und den nicht-christlichen Weltreligionen nicht gerecht. Vor seinem traditionellen Hintergrund stelle es Anforderungen an die Organisation und Verfasstheit der religiösen Gemeinschaften, mit denen sich diese neuen Glaubensgemeinschaften nicht erfassen lassen. Die andere Gefahr sah Schlink darin, dass wir allen Glaubensrichtungen gerecht werden wollen und so das Staatskirchenrecht an die Beliebigkeit preisgeben. Wenn alles, was sich als religiös bezeichnet, als Religion bzw. Religionsgesellschaft anerkannt werde, gebe der Staat sein hoheitliches Kirchenrecht selbst preis. Deshalb beharrte Schlink darauf, dass die Unterscheidung zwischen weltlichem und religiösem Bereich eine staatliche Entscheidung, und im Zweifel eine gerichtliche Entscheidung bleibe. Was eine Religionsgemeinschaft im Sinne der Verfassung sei und was nicht, müsse von Seiten des Staates bzw. der Gerichte entschieden werden.

Anschließend skizzierte Schlink die Grenzen der positiven wie der negativen Religionsfreiheit. Er wandte sich strikt dagegen, einen „wall of separation“ in der Gesellschaft zu errichten. Anstelle einer Verbannung religiöser Symbole und Bekundungen aus dem öffentlichen Raum warb er für ein pluralistisches Nebeneinander. Angesichts der Debatten um die Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften oder den Bau von Moscheen erinnerte Schlink in der Diskussion an die alltäglichen „Religionskämpfe“ zwischen Katholiken und Protestanten, die noch in der Nachkriegszeit das Bild der Bundesrepublik prägten. Den anwesenden Vertretern islamischer Verbände empfahl er deshalb, noch etwas Geduld zu haben, bis sich die Menschen in Deutschland an den Anblick von Minaretten gewöhnt haben.

Die dritten Berliner Gespräche schlossen mit einer Podiumsdiskussion ab, an der Vertreter der großen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie des humanistischen Spektrums teilnahmen. Dr. Till Müller-Heidelberg stellte den Teilnehmern die Frage, welche Bedeutung speziell die von ihnen vertretenen religiösen bzw. humanistischen Werte und Anschauungen für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft haben. In der Frage klang der Zweifel gegen das Böckenförde-Diktum an, ob unsere Gesellschaft auf (religiösen) Werten aufbauen müsse oder ob nicht der zivilgesellschaftliche common sense unseres Grundgesetzes für das Zusammenleben ausreiche.

Die Antworten der religiös-weltanschaulichen Vertreter konnten diese Zweifel nicht recht zerstreuen. Zwar wurde der zivilisatorische Beitrag der je eigenen Religion betont, jedoch benannte keiner der anwesenden Vertreter konkrete Wertvorstellungen, die das zivilgesellschaftliche Fundament des Grundgesetzes erweitern könnten. Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung verwies dagegen auf ein weiteres Fundament westlicher Gesellschaften, das in der Wertediskussion oft übersehen werde: der Wahrheitsanspruch eines aufklärerisch-wissenschaftlichen Denkens. „Auf diesen gesicherten Prinzipien des Denkens beruht unsere Gesellschaft in mindestens genauso starkem Maße wie auf den normativen Werten …“

[1]  Erstveröffentlichung in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag, S. 75-94; wieder abgedruckt in: E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 2006, S. 92-114; im Folgenden zitiert aus: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen Bd. 86, München 2007.

[2] Böckenförde 2007, S. 69.

[3] Siehe Böckenförde 2007.

[4] Böckenförde 2007, S. 23.

[5]  BVerfGE 88, 203 [1993].

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