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Religion in der plura­lis­ti­schen Gesell­schaft

31. Oktober 2008

Als ein junges Mädchen aus Ost-Berlin kurz nach dem Fall der Mauer gefragt wurde, ob sie denn religiös sei, antwortete sie: „Nö, ich bin eigentlich völlig normal.“ Diese kleine Episode ist der Auftakt des ersten Teils meines Vortrages.

Ich möchte nämlich hier auf Missverständnisse im Umgang mit dem Phänomen Religion aufmerksam machen. Im zweiten Teil werde ich die gegenwärtige religiöse Lage in Deutschland beschreiben, wie sie sich aus einer religionssoziologischen Sicht darstellt. Im dritten Teil geht es schließlich darum, wie denn die allzeit gefährdeten religionspluralistischen Verhältnisse im Lande erhalten werden können.

I.

Das Ost-Berliner Mädchen wuchs offensichtlich mit der kulturellen Selbstverständlichkeit auf, nicht religiös zu sein sei die Norm, und religiös zu sein sei die Ausnahme. Das maßgebliche kulturelle Konzept von Religion in der DDR lautete: Religion ist ein sozialer Sachverhalt, der mit geschichtsphilosophischer Notwendigkeit im Zuge des sozialistischen Fortschrittes untergehen wird. Das hat nicht nur Honecker so formuliert, sondern das war auch gängige Theorie der Soziologie. Dieses Verständnis von Religion ist von der Geschichte selbst falsifiziert worden. Aber nicht nur im Osten dachte man so, auch im Westen war die Mehrheit der Sozialwissenschaftler bis vor kurzem davon überzeugt, dass die politische, soziale und ökonomische Modernisierung den Niedergang der Religion zur Folge hätte. Das Schlagwort, mit dem das beschrieben wurde, lautete Säkularisierung. Je mehr sich jedoch der Blick in die Welt hinaus weitete, umso mehr wuchs die Einsicht, dass nirgendwo sonst auf diesem Globus Modernisierungsprozesse mit einem Niedergang der Religion einhergingen; lediglich in Europa konnte man das beobachten, so dass mittlerweile die Soziologen der Meinung sind, Säkularisierung ist ein europäischer Ausnahmefall.

Aber selbst diese Sicht der Dinge gerät immer mehr unter Druck, denn der Einfluss des Papstes beispielsweise auf die Umwälzungen in den 80er Jahren ist nicht zu bestreiten. Die Orthodoxie in Osteuropa wächst und wächst und auch der Katholizismus ist ein paar Kilometer weiter östlich lebendig wie eh und je. Zugunsten einer spezifisch europäischen Säkularisierung machen die Sozialwissenschaftler gerne auf die gravierenden Unterschiede zwischen den USA und Deutschland aufmerksam. Immer weist man darauf hin, dass der Gottesdienstbesuch in Deutschland doch ein erschreckend niedriges Niveau hätte. Das ist so. Knapp 10% der Deutschen gehen noch zur Kirche. Das sind zwar immer noch mehr Menschen, als jene die ins Stadion gehen, aber im Vergleich zu den Amerikanern ist das doch eine gravierend niedrige Zahl. Bei den Amerikanern liegen die Zahlen des Gottesdienstbesuchs zwischen 60 und 70%. Zumindest geben das die Amerikaner an. Nun gab es einige findige Soziologen in den USA, die einmal gegen gerechnet haben, ob denn wirklich so viele Amerikaner in der Kirche sind, wie sie es zu tun behaupten. Und siehe da, das Ergebnis lautete: Bei weitem nicht.

Wie soll man sich diesen Sachverhalt erklären? Offensichtlich ist der Kirchgang in den USA ein positiv besetztes Sozialverhalten. Das Ich-Ideal der Befragten erzeugt sozusagen die Erwartung an sich selbst, öfter in die Kirche zu gehen, als man es tatsächlich tut. Kirche-Gehen ist in Amerika ein positives kulturelles und soziales Konzept. In Deutschland hingegen fühlt sich kein Befragter genötigt, irgendjemandem irgendetwas vorzumachen. Denn jeder in Deutschland weiß: Wer seinen Kummer in der Kneipe im Alkohol ertränkt, genießt mindestens so viel Anerkennung wie jemand, der Gott in der Kirche sein Leid klagt. Kirche-Gehen hat mit Sozialprestige nichts zu tun. Es gibt in Deutschland eine kulturelle Selbstverständlichkeit, die man vielleicht so formulieren könnte: Religiös sind immer die Anderen. Noch hat sich die Einsicht nicht durchgesetzt, dass religiös zu sein eine ebenso rationale Wahl darstellt wie die Wahl, an den Fortschritt, an die Demokratie oder an die Natur zu glauben. Sozialismus, Darwinismus, Nihilismus, Buddhismus, Judentum, Islam und Christentum haben dieses eine gemeinsam: „Es handelt sich jedes Mal“ – ich leihe hier eine Formulierung meines Tübinger Kollegen Eilert Herms – „um zielwahlorientierende Gewissheiten vom Ursprung, von der Verfassung und von der Bestimmung unseres Daseins, ohne die kein Mensch handlungsfähig wäre.“

Religionen und Weltanschauungen stimmen in dieser Hinsicht vollkommen überein. Man könnte es so formulieren: Religionen sind Weltanschauungen, die den Gedanken Gottes in ihre Daseinsgewissheiten integriert haben. Die Formulierung „Daseinsgewissheit“ ist mit Bedacht gewählt. Sicherheit gibt es nämlich, wenn es ums Ganze geht, nicht. Gewissheiten sind also nur Annahmen hinreichender Evidenz, die aber notwendig sind, um überhaupt in unserem Leben handlungsfähig zu werden. Wir nennen das Orientierung. Religionen sprechen vom Glauben. Dieser Glauben ist selbstverständlich kein Gegensatz zum Wissen oder zur Wissenschaft, denn die Bedingung aller Wissenschaft ist die Gewissheit von der Überholbarkeit allen unseres Wissens und die selbstkritische Bereitschaft, zwischen unseren Modellen von Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst zu unterscheiden. Seit Kant ist uns, wenn man so will, der unmittelbare Zugang zur Wirklichkeit verschlossen. Jedoch ist es ganz unvermeidlich, dass sich jeder von uns einen Reim auf seine Welt machen muss. Ganz offensichtlich ist es auch so, dass es eine Vielzahl von Daseinsgewissheiten, also konkurrierenden Daseinsverständnissen gibt, sofern man dem Menschen nur die Freiheit dazu einräumt.

Die Anerkennung von Pluralismus ist daher in einer Gesellschaft kein Ausdruck billigen Relativismus oder billiger Subjektivität, vielmehr nimmt sich das erkennende Subjekt in seiner Endlichkeit und in seiner Erkenntnisleistung ganz ernst. Papst Benedikt XVI. richtete den Vorwurf des Relativismus und des Subjektivismus – übrigens schon lange vor seiner Wahl zum Papst – gerne an die Adresse der Protestanten. Ich selbst bin protestantischer Theologe und kann deshalb auch von innerchristlicher Pluralität durchaus einiges erzählen. In der Aufregung über die Regensburger Rede des Papstes ging geflissentlich unter, dass sein Hauptgegner gar nicht die Muslime, sondern die Reformation und die aus ihr hervorgegangene westliche Welt waren. Diese hätte nämlich mit ihrer Betonung des individuellen Glaubens und der Freiheit des einzelnen Christenmenschen dafür gesorgt, dass die ewigen universalen Wahrheiten des Christentums und der Antike der Beliebigkeit und einem gefährlichen Dezessionismus ausgeliefert worden seien. Es haben aber zu viele protestantische Christen ihr Leben für die Freiheit ihres Glaubens lassen müssen, als dass ich es erlauben würde, dass man so die Geschichte der Neuzeit erzählt. Es ist eine persönliche Entscheidung, die man trifft und es ist eben gerade nicht Beliebigkeit und Relativismus, wenn man zu seinem eigenen Glauben individuell steht. Ich habe deshalb als Reaktion auf die Rede des Papstes einen Artikel verfasst mit dem Titel „Wann protestieren eigentlich die Protestanten?“ gegen diese Erzählung der Geschichte der Neuzeit.

Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen protestantischem und katholischem Christentum weist auf ein weiteres Missverständnis im Umgang mit Religion hin: Religion gibt es nämlich nur im Plural. Die religiöse Welt ist so plural wie beispielsweise die philosophische. Der bloße Gattungsbegriff Religion ist also nichtssagend, genauso nichtssagend wie der Gattungsbegriff Philosophie, wenn man nicht dazu sagt, was für eine Philosophie es denn nun ist, auf die man Bezug nimmt. Gattungsbegriffe helfen uns einerseits, unsere Welt zu ordnen, sie können aber auch die Wirklichkeit verzerren. Man kann nur Äpfel, Birnen und Bananen essen und nicht Früchte überhaupt. Analog kann man eben nur in einer ganz bestimmten Weise religiös sein und nicht religiös überhaupt. Diesen Sachverhalt kann man sich auch  anhand der Sprache verdeutlichen: Man kann nicht Sprache überhaupt lernen, sondern eben nur eine ganz bestimmte, und diese auch nur dann, wenn man mit einer ganz bestimmten Sprache beginnt. Das war für mich immer das Argument für religiöse Erziehung unter einer bestimmten Perspektive und ein Gegenargument gegen eine allgemeine Religionskunde. Dieses Allgemeine gibt es nicht. Es wird immer eine bestimmte Perspektive eingenommen. Religion ohne bestimmte Perspektivierung kann es nicht geben.

Der heute übliche Religionsbegriff, der als Gattungsbegriff für eine Vielzahl von Konfessionen verwendet wird, ist eigentlich ein politischer Begriff. Er entstand im Zeitalter der Konfessionskriege, als die entstehenden Nationalstaaten mit dem Faktum umgehen mussten, dass sich auf ihrem Territorium eine Pluralität von Konfessionen befand. Aus Gründen der Gleichbehandlung benötigte der Staat diesen Gattungsbegriff. Bis dahin war religio Ausdruck der Intensität einer Frömmigkeit. Nun aber wurde religio Ausdruck für eine Vielzahl von Konfessionen. Aber wie wir wissen und erfahren, unterläuft die Realität unsere Gattungsbegriffe immer wieder. Der Streit um Scientology zeigt dies z. B. ganz deutlich, aber auch in der Frühen Neuzeit hatten die Gesetzgeber durchaus Probleme bei der Frage, wie sie zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionen unterscheiden sollten. Wir wissen, wie viele Menschen ins Exil in die Vereinigten Staaten gezwungen worden sind.
Ernst-Wolfgang Böckenförde ist es nicht erlaubt worden, seinen 1964 veröffentlichten Satz, dass der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, wieder zu vergessen. Zumal Kirchenführer zitieren ihn wieder und wieder.

Unausgesprochen verbinden sie damit die Hoffnung, dass die Rolle der Religion für das Politische mehr Anerkennung findet. Vielleicht wirkt dieser Satz aber auch nur deshalb so plausibel, weil er von einer schlicht unüberbietbaren Allgemeinheit ist. Vor allem ist er auch vielfach variierbar. Auch die Ökonomie lebt selbstverständlich von Voraussetzungen, die sie nicht selbst garantieren kann. Kein System kann das, und ganz selbstverständlich kann man diesen Satz auch auf die Religion anwenden. Er würde dann lauten: „Religionen in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können“.

Die elementarste Voraussetzung des religiösen Lebens in einem Gemeinwesen ist die Religions- und Gewissensfreiheit. Ohne diese staatliche Garantie gäbe es auch kein blühendes religiöses Leben im Lande. Ohne Religionsfreiheit, zugespitzt formuliert, gäbe es keine Religion. Wenn das aber so ist, dann müssen alle Religionsgemeinschaften ein Interesse daran haben, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit aller, eben auch die der Konkurrenten, geschützt und gewährleistet wird. Die Kirchen hatten daran nicht immer ein Interesse, und wir wissen auch, dass in anderen Kulturkreisen mit der Religionsfreiheit des Individuums durchaus anders umgegangen wird. Das kann aber eigentlich nur ein umso größerer Grund für uns sein, dieses Fundament unseres geistigen Lebens gemeinsam zu schützen und zu verteidigen.
Die Religionsfreiheit ist freilich nicht nur durch Religionen bedroht, die fundamentalistische Absolutheitsansprüche erheben, und die nicht erkennen, dass sie aus dieser Freiheit leben. Sie ist auch bedroht, wenn der Begriff der Pluralität faktisch entleert wird.

Die Debatten im Bildungsbereich legen davon manchmal Zeugnis ab. So gibt es die These, dass angesichts der zunehmenden religiösen Pluralität die öffentlichen Schulen nicht mehr auf diese Vielfalt Rücksicht nehmen können. Besser sei es, wenn nicht die konkreten vielen, sondern irgendwie alle Religionen für alle in den Blick genommen würden. Aber dann wird Pluralität zu einem vollkommen leeren Begriff. Denn ohne eine Vielzahl von real existierenden Positionen ist der Pluralismusbegriff sinnlos. Es gibt Pluralismus nur, sofern es verschiedene Positionen gibt. Also muss jeder, der für Pluralität eintritt, gleichzeitig dafür eintreten, dass es eine Vielzahl von wirklich erfahrbaren unterschiedlichen Positionen gibt. Ein Kampf gegen Positionalität im Namen von Pluralität ist ein Widerspruch in sich. Ich weise auch darauf hin, dass jemand, der eine eigene Position vertritt, noch lange kein Fundamentalist ist.

Ich komme nun zu einem letzten Punkt, der meinen ersten Teil abschließen soll. In den letzten Jahren ist es bei uns zu einer Überdehnung des Religionsbegriffes gekommen. Ich möchte das an folgendem Beispiele erläutern: Noch vor zehn Jahren bezeichneten wir die Migranten nach ihrem Herkunftsland. Wir hatten also Türken, Bosnier, Iraner in Deutschland. Heute sprechen wir ganz selbstverständlich von 3,3 Millionen Muslimen in Deutschland, obwohl wir über keinerlei valide Daten zur Religiosität dieser Menschen verfügen. Im Gegensatz zu den Christen, die man über die Kirchensteuerstatistik zählen kann, wissen wir nämlich nicht, wie viele Muslime es in Deutschland gibt. Gleichwohl nennen wir sie Muslime, obwohl wir gar nicht wissen, ob der Türke, der aus Istanbul oder Ankara nach Deutschland gezogen ist, wirklich als Moslem angesprochen werden möchte. Der Wechsel von einem ethnischen in ein religiöses Kategoriensystem hat überhaupt nichts mit einer gewachsenen Frömmigkeit im Lande zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Zuschreibungspraxis der Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Ehrlicherweise muss man natürlich dazu sagen, dass es nicht wenige Migranten gibt, die ihrerseits mithilfe des Religionsbegriffes Identitätspolitik betreiben, so dass es manchen ganz recht ist, dass sie nun als Muslime bezeichnet werden. Aber trotzdem müssen wir uns genau überlegen, wann wir den Religionsbegriff einsetzen wollen und wann nicht.

II.

Ich komme nun zu meinem zweiten Teil. Was lässt sich über die gegenwärtige religiöse Lage in unserem Land sagen? Ist Religion eigentlich zur Privatsache geworden? Die Aussage „Religion ist Privatsache“ findet sich im Erfurter Programm der SPD aus dem Jahre 1891. Sie beschrieb damals keinen realen Sachverhalt, sondern zielte darauf, den Einfluss der Kirchen auf die Politik zurückzudrängen. Und auch heute muss man sich fragen, ob der Satz „Religion ist Privatsache“ nicht eher eine Parole und ein Programm als Realität ist. Ich möchte an einen ganz schlichten Sachverhalt erinnern: Es gibt weltweit 1,1 Milliarden römisch-katholische Christen. Ihr Oberhaupt ist der Papst, er hat das Petrusamt inne. Dieses Amt ist ein eigenständiges, unabhängiges Völkerrechtssubjekt. Es trägt im diplomatischen Sprachgebrauch den Namen „Heiliger Stuhl“. Der Heilige Stuhl ist ordentliches, auf eigenen Wunsch beobachtendes Mitglied der Vereinten Nationen. Er hat Rederecht in den Vollversammlungen. 174 von 192 in der UN vertretenen Staaten unterhalten diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl. Der Apostolische Nuntius in Deutschland ist der Doyen des Diplomatischen Corps. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder haben eine Reihe von Konkordaten, also völkerrechtlich verbindliche Staatsverträge, mit dem Heiligen Stuhl.

Kann man da ernsthaft noch von „Religion ist Privatsache“ sprechen? Auch ein Blick in die öffentlichen Räumen zeigt, wie wenig plausibel die Aussage von der Privatheit der Religion ist: Kirchen bestimmen nach wie vor das Stadtbild an stadtplanerisch signifikanten Orten. Die Dresdner Frauenkirche zieht Millionen von Besuchern an. Sie ist Gottesdienstraum der sächsischen Protestanten, aber gleichzeitig sind Dresden und das Land stolz darauf, dass sie ein öffentliches Symbol für Versöhnungsbereitschaft und den Friedenswillen in Deutschland und Europa ist. Bei öffentlichen Katastrophen und Gedenktagen versammeln sich Politiker aller Glaubensrichtungen, Konfessionslose eingeschlossen, im Berliner Dom, der mittlerweile so etwas wie das zivilreligiöse Heiligtum der Berliner Republik geworden ist.

Richtig an der Aussage „Religion ist Privatsache“ bleibt freilich, dass niemand mehr zu einem öffentlichen Bekenntnis gezwungen werden darf. Dieses Recht nehmen unsere Abgeordneten in Anspruch: Mittlerweile behalten 192 von 614 Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihre Konfessionszugehörigkeit für sich, was freilich nicht heißt, dass sie konfessionslos sind. Nur 28 bekennen sich zur Konfessionslosigkeit, einer ist erklärter Atheist, darüber hinaus gibt es vier muslimische, 180 katholische und 209 protestantische Abgeordnete. Interessant ist hierbei, dass sich konfessionslose Protestanten und Katholiken in allen Parteien des Bundestages finden. Aber wie gesagt, „Religion ist Privatsache“ – da muss man sehr genau erklären, was man damit meint, will man diesen Satz aufrechterhalten.

War Deutschland früher religiös-weltanschaulich homogener als heute? Das wird häufig unterstellt. Wir haben eine schwer ausrottbare Vorstellung davon, dass in den guten alten Zeiten irgendwie alle frömmer waren – was aber nicht stimmt. Deutschland hat nämlich allein in den letzten 100 Jahren unter religiös-weltanschaulichen Konflikten weitaus mehr gelitten als heute. Bis 1989 war das Land weltanschaulich-religiös zerklüftet. Vor 100 Jahren lieferte sich die Regierung im protestantisch geprägten Preußen einen Kulturkampf mit der katholischen Kirche. Wie bei allen Kulturkämpfen gewann die Religion und der Staat verlor. Die SPD und das Zentrum haben in der Weimarer Republik scharfe Weltanschauungskämpfe miteinander geführt. Die Weimarer Republik zerbrach daran. Die politische Religion des Nationalsozialismus bekämpfte die Sozialisten und die Christen und rottete das Judentum nahezu aus.

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland trat im Westen eine Befriedung der religiös-weltanschaulichen Lage ein. Sowohl der Katholizismus als auch der Sozialismus verabschiedete sich von einer weltanschaulichen Politik. In der Weimarer Republik verteilte die SPD in den Arbeitervierteln noch Kirchenaustrittsformulare. Das hat sich spätestens mit dem Godesberger Programm geändert. Die SPD wurde zur Volkspartei, genauso wie auch die CDU sich von ihrer weltanschaulichen Prägung verabschiedet hat. Insofern leben wir in religiös weitaus befriedeteren Verhältnissen als beispielsweise im 19. Jahrhundert. Bis 1989 gab es ein Weltanschauungsregime im Osten. Der Blick zurück macht deutlich, dass der religiöse Friede noch nie höher war als heute. Insofern warne ich auch davor, im Hinblick auf die Muslime apokalyptische Bilder zu malen. Unser Gemeinwesen ist religionspolitisch gesehen weitaus stabiler als das in der Vergangenheit der Fall war.

Wie plural ist die religiöse Landschaft in Deutschland wirklich? Der Marburger Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst (REMID) liefert in regelmäßigen Abständen Mitgliederzahlen der religiösen Gemeinschaften in Deutschland. Für das Jahr 2006 verzeichnete REMID etwa 130 religiöse Gruppierungen in Deutschland. Die Liste reicht von der Römisch-katholischen Kirche mit 25 Millionen Mitgliedern über die Evangelische Kirche in Deutschland mit ebenfalls 25 Millionen Mitgliedern bis hin zur germanischen Glaubensgemeinschaft wesensmäßiger Lebensgestaltung mit 140 und dem Dachverband für traditionelle Naturreligionen mit 120 Mitgliedern. Sieht man einmal von allen Splittergruppen ab und zählt lediglich die religiösen Gemeinschaften, die mehr als 50 000 Mitglieder zählen, dann ist die religiöse Pluralität in Deutschland durchaus ausgeprägt, aber auch nicht überbordend groß. Im protestantischen Milieu haben wir noch die Neuapostolische Kirche, die Baptisten, die Zeugen Jehovas, die Methodisten und die Mennoniten. Die weltweit wachsenden Pfingstgemeinden übrigens kommen in Deutschland nur auf einen Mitgliederbestand von 40 000 Mitgliedern.

Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Pfingstgemeinden vor allem in den Ländern wachsen, wo die sozialen Verhältnisse weitaus unsicherer sind als in Deutschland. Es gibt 1,4 Millionen orthodoxe Christen, 110.000 Juden in Deutschland und die Gesamtzahl der Muslime schätzt man auf 3,3 Millionen – mit allen Unsicherheiten, auf die ich hingewiesen habe. 90.000 Hinduisten, sowie 240.000 Buddhisten gibt es in Deutschland. Die neueren religiösen Bewegungen, die Jugendreligionen, um die man in den 80er Jahren so viel Aufhebens machte, fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Die transzendentale Meditation zählt etwa 1.000 Mitglieder und auch die Scientology Church hat trotz ihres großen Gebäudes an der Otto-Suhr-Allee nur etwa 6.000 Mitglieder in Deutschland.

Bemerkenswert ist aber, dass die religiösen Verhältnisse in Deutschland auffallend stabil sind. Von einer religiösen Dynamik ist in Deutschland weit und breit nichts zu spüren. Religiöse Pluralität gibt es im Wesentlichen nur als Folge der Migration. Das führt mich zu der These, dass das Bedürfnis der Deutschen nach religiös-weltanschaulicher Stabilität ausgesprochen groß ist. Und das lässt sich am besten an den Menschen im Osten nach der Wende zeigen. Sowohl die Hoffnungen der Kirchen im Westen, dass jetzt die Kircheneintritte wachsen würden, als auch die Hoffnungen amerikanischer Freikirchen, dass sie durch aggressives Missionsmanagement nun ein großes religiöses Revival im Osten hervorrufen könnten, haben sich nicht erfüllt. Die Menschen im Osten blieben nämlich nach der Wende das, was sie vor der Wende auch schon waren, nämlich konfessionslos. Wenn sich also die Stabilität der Volkskirchen im Westen darauf stützen kann, dass man seine Konfessionszugehörigkeit oder Konfessionslosigkeit sozusagen erbt, so hat sich das im Osten wie im Westen auch bestätigt.

Konfessionslosigkeit im Osten ist eine genauso konservative Haltung wie die Konfessionszugehörigkeit im Westen. Das lässt sich besonders gut an der Jugendweihe studieren: Obwohl das weltanschauliche Fundament der Jugendweihe voll und ganz weg gebrochen ist, ist es einfach Familientradition, die Jugendweihe weiterhin als Familienfest zu feiern. An der Normalität der Konfessionslosigkeit halten im Osten 73 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger stabil fest, 27 Prozent der Bevölkerung im Osten gehören also nur noch einer christlichen Kirche an.

Nehmen eigentlich die Bindungen an die Kirche und der Einfluss der Kirchen in Deutschland stetig ab? Auch dazu einige Zahlen: Im Jahr 2004 traten 61.744 Menschen in die evangelische Kirche ein. Dem stand eine Zahl von 141.567 Kirchenaustritten gegenüber; die Mitgliederzahlen der Kirchen schrumpfen also. Sie schrumpfen aber nicht nur wegen der Austritte, vor allem schrumpfen sie aufgrund der demographischen Kurve. Damit stehen die Kirchen nicht allein da. Gewerkschaften, Sportvereine, vor allem aber die politischen Parteien haben massive Mitgliederverluste zu beklagen. Vergleicht man die Zahl der Konfessionslosen mit der Zahl der Parteilosen in Deutschland, dann ergibt sich folgendes Bild: In Deutschland gibt es knapp 30 Prozent Konfessionslose und 70 Prozent Mitglieder christlicher Kirchen. Dem stehen 97,82 Prozent Parteilose (bezogen auf die Zahl der Parteieintrittsberechtigten) und nur 2,18 Prozent Parteimitglieder gegenüber. Die Parteien halten das aber merkwürdigerweise für gar keinen dramatischen, schon gar nicht öffentlich zu diskutierenden Sachverhalt, da sie damit rechnen, dass die parteilosen Bürgerinnen und Bürger bei den Wahlen ihrer Neigung zu der einen oder anderen Partei durchaus Ausdruck verleihen werden. Deshalb nennen sich die Parteien auch trotz ihres verschwinden geringen Mitgliederbestandes munter Volksparteien.

Mit 27 Prozent Mitgliedschaft liegen die Kirchen im Osten der Republik weit vor den Parteimitgliedschaftszahlen, und bei den fast 70 Prozent Konfessionslosen kann die Kirche nicht nur auf Zustimmung bei Gelegenheit hoffen, also z. B. an Weihnachten oder bei anlassbezogenen Gottesdiensten. Vielmehr kann die Kirche darauf bauen, dass ihre Bildungsangebote sehr reichlich in Anspruch genommen werden. Dazu gehören die kirchlichen Kindergärten, dazu gehören die Schulen und vor allem die diakonischen Einrichtungen. Aktuelle statistische Daten der Berlin-Brandenburgischen Kirche zeigen, dass die Attraktivität von Kindertagesstätten in kirchlicher oder diakonischer Trägerschaft ungebrochen ist. Im Jahre 2002 gab es 17.570 Plätze in 370 Einrichtungen, im Jahr 2006 gab es bereits 21.000 Plätze in 411 Einrichtungen. Ein Zuwachs um 20 Prozent also innerhalb von vier Jahren. Bedenkt man ferner, dass mehr als 80 Prozent aller Kindergärten in Deutschland von den Kirchen und ihren Einrichtungen getragen werden und dass die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern größtenteils an Fachschulen kirchlicher Trägerschaft geschieht, dann kann von einem schwindenden Einfluss der Kirchen eher nicht gesprochen werden. Der Einfluss der Kirchen auf die Erziehung der Kinder wird übrigens von vielen Konfessionslosen gutgeheißen.

Am Religionsunterricht in Thüringen und Sachsen nehmen bis zu einem Drittel Kinder konfessionsloser Eltern teil. Die Schulen in kirchlicher Trägerschaft sind für konfessionslose Eltern genauso attraktiv wie für konfessionelle, und ihre Zahl steigt stetig an. Zu diesem Befund passt übrigens eine Feststellung in Wilhelm Heitmeyers Studie „Deutsche Zustände 4“, dass sich nämlich 32 Prozent aller Konfessionslosen eine stärkere Berücksichtigung christlicher Werte in der Politik wünschen. Übrigens wünschen sich nur 56 Prozent aller Protestanten mehr christliche Werte in der Politik und 63 Prozent der Katholiken.

Der Begriff „konfessionslos“ suggeriert noch die Existenz einer Gruppe von Menschen, die in Analogie zu den Protestanten und den Katholiken gemeinsame Überzeugungen teilen. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Umgekehrt muss aber auch zugegeben werden: Wer einer Kirche angehört, teilt nicht unbedingt die gleichen Überzeugungen wie der Bischof der jeweiligen Kirche.
Einen Blick möchte ich noch auf die Kirchbauvereine im Osten Deutschlands werfen:

Wir beobachten das interessantes Phänomen, dass sich flächendeckend in fast allen Dörfern im Osten Kirchbauvereine zum Erhalt der Dorfkirchen konstituiert haben. Das Interessante hierbei ist, dass in diesen Vereinen die Mehrzahl der Mitglieder Konfessionslose sind und diese Menschen die Kirche nicht wieder herrichten wollen, damit dort wieder Gottesdienste stattfinden. Diese Kirchen sind eher Ausdruck eines Bewusstseins für Tradition, einer Verantwortung für das Gemeinwesen, aber auch für Familientraditionen. Wenn man die Mitglieder der Vereine fragt, warum sie das denn machen, dann antworten sie: „Meine Oma liegt auf dem Friedhof beerdigt und die Kirche soll nicht verfallen, weil auch ein Stück unserer Familiengeschichte daran hängt.“ Von einem rapiden Verfall religionskultureller Bestände in Deutschland kann man eigentlich nicht reden.

Es ist richtig, dass Menschen in Deutschland eher nicht zur Kirche gehen, sondern ihre Kirchenmitgliedschaft eher passiv verstehen. Das hat aber mit der Mentalität in Deutschland überhaupt zu tun. So, wie man vom Staat erwartet, dass er die soziale Versorgung übernimmt, so erwartet man auch von der Kirche, dass sie einen sozusagen religiös versorgt. Man hat ein Verhältnis zur Kirche wie zur Feuerwehr und zum Arzt: Man geht nur hin oder ruft sie nur, wenn man sie unbedingt braucht und möchte ansonsten in Ruhe gelassen werden. Während man beispielsweise in den USA für seinen Glauben aktiv tätig wird, herrscht bei uns eine Versorgungsmentalität vor. Meine Kollegin Grace Davie hat das  „believing without belonging“ genannt – eine typisch europäische Weise des Glaubens. Aber auch das Umgekehrte gilt: man pflegt auch das belonging without believing.

III.

Ich komme zu meinem letzten Punkt: Was ist zu tun, um die religionspluralen Verhältnisse in Deutschland zu erhalten? Gesellschaft und Staat haben die Aufgabe, den Religionen dabei zu helfen, sich im Pluralismus zu beheimaten. Ich bin ein dezidierter Vertreter islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, weil ich glaube, dass der Religionsunterricht in Deutschland ein Erfolgsmodell war und ist. Ich habe das auf die Formel der „Zivilisierung der Religionen durch Bildung“ gebracht. Je gebildeter ein Mensch ist, umso fähiger ist er, mit anderen Religionen so umzugehen, wie es ein Gemeinwesen erfordert.

An die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften muss die Forderung gestellt werden, den Anderen als Anderen anzuerkennen und nicht mit falschen Absolutheitsansprüchen ihr Daseinsrecht zu bestreiten. In nach wir vor unübertroffener Weise hat das Lessing in seinem Nathan dem Weisen zum Ausdruck gebracht. Lessing wird immer wieder der Vorwurf gemacht, er rede dem Relativismus und der Beliebigkeit das Wort. Aber das ganze Gegenteil ist der Fall. Der Muslim Saladin befragt den Juden Nathan ja gerade deshalb nach der wahren Religion, weil er ihn für einen wirklichen Weisen hält.

„Ha! das nenn‘ Ich einen Weisen!
Nie die Wahrheit zu Verhehlen!
für sie alle alles auf das Spiel Zu setzen!
Leib und Leben! Gut und Blut!“

Das ist kein billiger Relativismus. Nathan findet die Frage Saladins nicht angemessen:

„Und er will – Wahrheit!
Und will sie so – so bar, so blank –
als ob die Wahrheit Münze wäre!“

Und daraufhin entscheidet sich dann Nathan der Weise, die Geschichte vom Ring zu erzählen, also von dem Vater, der drei Söhne so sehr liebte, dass er den wahren Ring, der die Kraft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug, vervielfältigen ließ und jedem einen Ring vermachte. Er ließ aber jeden Sohn im Glauben, sein Ring wäre der Einzige. Daraufhin hob nach seinem Tod ein großer Streit an, wer nun die Kopie und wer den echten Ring hatte. Schließlich ging man vor Gericht. Der Richterspruch hat eine sowohl ethische als auch eine eschatologische Spitze. Der Richter sagte nämlich:

„Wohlan! Es eifere jeder seiner unbestochenen,
von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe jeder von euch um die Wette,
die Kraft des Steins in seinem Ring an den Tag zu legen,
und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad‘ ich über tausend tausend Jahre
sie wieder vor diesen Stuhl.
Da wird ein weiserer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich, und sprechen.“

Erst am Ende der Zeiten wird sich also zeigen, ob die Wahrheitsansprüche der Religionen und Weltanschauungen wirklich Wahrheit sind. Bis dahin soll die Konkurrenz einer Ethik, die der jeweiligen Botschaft entspricht, den Menschen zugute kommen. Angesichts von Kriegen, die auch heute noch im Namen von Religionen geführt werden, ist und bleibt die Ringparabel ein alternativloses Koexistenz-Paradigma. Jeder sollte es so ernst und aufrichtig wie nur möglich mit seinen Glaubensgewissheiten meinen, und gerade darum auch Andersgläubigen zugestehen, dass auch sie es mit ihrem Glauben ernst nehmen. Vielleicht hätte Lessing seine Ringparabel heute nur um eine kleine Nuance modernisiert: Vielleicht hätte er die humanistische Weltanschauung noch in seine Parabel aufgenommen.

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