Verharzte Republik: Zwischenfazit eines Keynesianers
Aus: Mitteilungen Nr. 207 (Heft 4/2009), S.28-29
Tobias Müller: Was haben die Hartz-Reformen bewirkt? Zu Ausmaß, Ursachen und Folgen der Arbeitslosigkeit in Deutschland
Berlin 2009, Weißensee Verlag
284 S., 38.- €
„Mit der Frage, ob mit den Hartz-Reformen, mit der die deutsche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik umfassend modernisiert wurde, die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden konnte, beschäftigt sich dieses Buch“. Diese Ankündigung des Autors aus der Einleitung ist pures Understatement. Denn Tobias Müller hat fünf Jahre nach Einführung von „Hartz IV“ im kleinen Berliner Weißensee-Verlag eine umfangreiche, 284 Seiten starke Studie über den politischen Kontext und die Auswirkungen von Harz I-IV vorgelegt. Der Autor holt dabei weit aus: Die psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit, die populärsten arbeitsmarktheoretischen Herleitungen sowie die statistischen Dimensionen des Problemfelds werden thematisiert. Im Mittelpunkt seiner Darstellung aber steht das zentrale politische Projekt der Schröder-Regierung: die Hartz-Reformen. Das Leitbild, die einzelnen Reformbausteine und die konkreten Umsetzungsschritte werden detailliert beschrieben.
Vorneweg: Der Autor bietet zwar eine profunde rückblickende Darstellung der einzelnen Eckpunkte der Agenda 2010 bzw. der Hartz-Reformen, lässt aber letztlich eine angemessene kritische Bewertung und entsprechende Handlungsempfehlungen vermissen. Als ausgewiesener Keynesianer mit unerschütterlichem Glauben an eine mögliche Vollbeschäftigung ist sein analytisches und politisches Instrumentarium schlicht zu begrenzt, um überzeugende Alternativen zur beschriebenen strukturellen Misere anbieten zu können.
Ausgehend von dem hohen Stellenwert der Erwerbsarbeit in der heutigen Gesellschaft beschreibt Müller die individuellen psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit. Seine Diagnose gipfelt in der Aussage: „Gerade Langzeitarbeitslose zeigen häufig pathologische Symptome, die denen Sterbender ähneln“ (S. 16). Ausgehend von dieser Prämisse weist der Autor die mediengeleitete Stigmatisierung Arbeitsloser als „Sozialschmarotzer“ und „Drückeberger“ explizit zurück – und unterstreicht damit seine Forderung, eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung einzuschlagen. Müllers These: Erwerbslose wollen arbeiten und brauchen Arbeit. Müllers Problem: Er reduziert Arbeit auf Erwerbsarbeit.
Aufbauend auf seine Einführung in das Problemfeld Arbeitslosigkeit befasst sich der Autor in zwei zentralen Kapiteln ausführlich mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission vom August 2002 sowie deren Umsetzung. Sein Fazit fällt ernüchternd aus: Der aktivierende Sozialstaat hat nicht dafür gesorgt, die fehlenden Arbeitsplätze zu schaffen, dafür aber die Prekarisierung vieler Beschäftigungsverhältnisse gefördert. Müller beschränkt sich bei der Analyse der einzelnen Hartz-Module auf das Kriterium der möglichen beschäftigungsfördernden Wirkung. Von der Einrichtung der heute schon fast vergessenen Personal-Service-Agenturen (PSA) über die zwischenzeitlich ebenfalls abgeschafften Ich-AGs bis hin zur Neugestaltung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Mini- und Midi-Jobs) belegt der Wissenschaftler, dass die angestrebte Vermehrung von Arbeitsplätzen nicht stattgefunden hat.
Müller selbst plädiert für eine Rückkehr zu einem keynesianischen Wirtschaftsverständnis. Als primären Ansatzpunkt definiert er die Stärkung des privaten Konsums u.a. mittels der Einführung eines Mindestlohns und einer Anhebung der ALG-II-Regelsätze. Außerdem verweist er auf die zentrale Bedeutung einer massiven Arbeitszeitverkürzung. Zur Kompensation dabei einzukalkulierender Lohneinbußen wäre „eine Art Grundeinkommen“ (S. 258) denkbar, so Müller. Weitere Präzisierungen der einzelnen Vorschlägen unterbleiben allerdings.
Die Stärken des Buches liegen eindeutig in der kritischen und statistisch untermauerten Evaluation der einzelnen Elemente, die zusammen unter dem Label „Hartz“ firmieren. Alle am Thema Interessierten werden gerne auf die vom Autor fleißig zusammengetragenen Fakten zu den einzelnen Hartz-Modulen sowie die Zusammenstellung von kritischen Stimmen aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften zu den einzelnen Maßnahmen zurückgreifen.
Tobias Müllers eigener Grundansatz zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit aber ist nicht überzeugend, weil thematisch und analytisch zu beschränkt. Sein wesentlicher Kritikpunkt an den Hartz-Reformen ist, dass das Versprechen, möglichst viele Erwerbslose „wieder in Arbeit zu bringen“, nicht eingelöst wurde. Er blendet völlig aus, dass „Hartz“ aus Sicht der Politik und der Wirtschaft ein durchaus erfolgreiches Projekt ist. Denn die offizielle Zielsetzung, die Arbeitslosigkeit im Interesse der Betroffenen wirksam bekämpfen zu wollen, sollte man nicht einfach für bare Münze nehmen: Die Hartz-Regelungen und insbesondere die erfolgte Ausweitung der Ein-Euro-Jobs erweisen sich für Staat und Unternehmen als funktional, weil sie sich auf das allgemeine Lohngefüge auswirken und somit einen umfangreichen und spürbaren Angriff auf die Tariflandschaft darstellen. Sie zielen zudem auf eine allgemeine Verunsicherung von Beschäftigten und Erwerbslosen gleichermaßen ab. Prekarität soll die verallgemeinerte Norm für alle Lebens- und Arbeitsbereiche werden.
Der Autor ignoriert außerdem wichtige bürgerrechtlich relevante Aspekte. Die aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bedeutet beispielsweise keineswegs den Rückzug des Staates, wie mehrfach in der Studie angedeutet, sondern vielmehr die Ausweitung der Durchgriffs- und Kontrollbefugnisse der sozialstaatlichen Instanzen bis in die private Lebensgestaltung hinein. Hartz IV steht für weniger Sozial-, hingegen für mehr Überwachungsstaat („Bedarfsgemeinschaften“, Kontrolle über Bankguthaben etc.). Dass die Sozialgerichte eine Flut von Klagen gegen fehlerhafte Hartz-IV-Bescheide bewältigen müssen, veranschaulicht die Tendenz einer zunehmenden Entrechtlichung der Erwerbslosen. Soziale Leistungen werden darüber hinaus im Sinne von Hartz nur unter Vorbehalt gewährt, d.h. Rechte nur eingeschränkt anerkannt, weil nur unter Auflagen gewährt.
Aber Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein ökonomisches, individualpsychologisches oder juristisches, sondern auch ein politisch-kulturelles Problem. Die Fixierung des Autors auf Vollbeschäftigung bedeutet, dass die soziale Sicherung und die Einkommen in erster Linie an Erwerbsarbeit gebunden bleiben sollen. Eine unrealistische Perspektive, weil es Erwerbsarbeit in dem Umfang, der für Vollbeschäftigung notwendig wäre, nicht mehr gibt. Eine ungerechte Perspektive, weil unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeit gar nicht erst in den Blick gerät. Tobias Müllers prinzipiell richtige Forderungen nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung und einem Mindestlohn sind durch ein Grundeinkommen, das bedingungslos gewährt wird und ausreichend hoch ist, sowie – ganz wichtig – durch die Förderung solidarischer Wirtschaftsformen zu ergänzen. Damit wäre auch eine freiwillige individuelle Loslösung von Erwerbsarbeit (mit ihren vielfältigen Zumutungen!) möglich und zugleich für viele Menschen das von Müller zu Beginn seines Buches zitierte „Gespenst der Nutzlosigkeit“ (R. Sennett) vertrieben.