Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Menschen­rechts­po­litik ist immer Einmischung

Eine internationale Bestandsaufnahme*

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), S.5-13

Das 1993 in Deutschland gegründete Forum Menschenrechte kann auf zehn Jahre harter, mühsamer, aber dennoch erfolgreicher Arbeit für die Menschenrechte zurückblicken. Die Gründung des Forums war ein Glücksfall, wie das Jochen Motte (Vereinte Evangelische Mission) genannt hat, – ein Glücksfall, der sich weiter bewähren muss. Das Ziel war der Informationsaustausch und die Meinungsbildung zu Grundsatzfragen sowie die Reaktion auf tagespolitische Ereignisse. Das Forum Menschenrechte ist keine Dachorganisation, sondern ein bundesweites Netzwerk von 45 Organisationen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Aufgabengebieten – alle sind jedoch durch das Thema Menschenrechte verbunden. Es ist dem Forum gelungen, anerkannter Gesprächspartner von Parlament und Regierung zu werden und auch auf internationaler Ebene wirksam zu werden. In meiner Eigenschaft als Leiter der deutschen Delegation in der UNO-Menschenrechtskommission von 1992 bis 1998 habe ich wichtige Anregungen in intensiven Diskussionen jeweils vor den Sitzungsperioden der Menschenrechtskommission erhalten.

Insti­tu­ti­o­nelle Absicherung der Menschen­rechte

Anlass zur Zufriedenheit mit der Situation der Menschenrechte und der Nachhaltigkeit der Menschenrechtspolitik besteht jedoch gegenwärtig in keiner Weise – es gibt Fortschritte, aber auch empfindliche Rückschritte. Zu denken ist an die negativen Folgen des 11. September 2001 für den Stellenwert der Menschenrechtspolitik und an den unseligen Irak-Krieg gegen das Völkerrecht, und den Ansehensverlust der USA durch die Folterungen im Irak. Mit den Folgen dieses Krieges haben wir momentan zu kämpfen. Wir stellen einen globalen mentalen Klimawandel fest: zulasten der Menschenrechte.

Parallel zu diesen besorgniserregenden Entwicklungen gibt es Positives zu vermerken. In Deutschland existieren neue Institutionen, die die Menschenrechtspolitik stärker machen sollen: seit 1998 der Bundestagsausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, ebenfalls seit 1998 der/die Beauftragte für Menschenrechte des Auswärtigen Amts, das Deutsche Institut für Menschenrechte, das 2002 nach langjährigen zähen Verhandlungen mit Bundesregierung und Bundestag gegründet werden konnte – ein besonderer Verdienst der Hartnäckigkeit von Werner Lottje, dem langjährigen Menschenrechtsbeauftragten des Diakonischen Werks.
Für die europäische Ebene gilt ähnliches: Der Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur Europäischen Union hat deren Zivilgesellschaften gestärkt und wird sie weiter stärken. Die neue europäische Verfassung mit ihren Grundrechten wird ein Fort-schritt sein. Die Einklagbarkeit der dort fixierten Menschenrechte und ein Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments werden hoffentlich folgen.

Nationale und internationale Institutionen sind wichtiger denn je. Dazu gehören m.E. – bei aller durch Kompromissnotwendigkeiten bedingten Schwäche – der Internationale Strafgerichtshof und die durch Sicherheitsratsbeschluss eingerichteten Spezialgerichte zu Ruanda und dem früheren Jugoslawien. Der Internationale Strafgerichtshof ist nur für schwere Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen subsidiär zu-ständig. Er könnte der Welt jetzt zeigen, dass er kein zahnloser Tiger ist. Allerdings hat der Sudan sich dem Statut nicht unterworfen. Dennoch ist eine Untersuchungskommission unverzichtbar. Ihre Ergebnisse könnten wie in anderen Fällen, beispielsweise Jugoslawien, Vorstufe für ein vom Sicherheitsrat eingesetztes Sondertribunal werden. So sollte er Ermittlungen dazu aufnehmen, wer in Darfur für den Völkermord verantwortlich ist. Einen Hochkommissar für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen gibt es seit 1995 – alles letztlich Ergebnisse der Wiener Weltkonferenz, bei der sich 1993 auch einige westeuropäische Staaten noch ausdrücklich gegen den Hochkommissar und den Gerichtshof ausgesprochen hatten.
Der Umgang der USA mit dem Internationalen Strafgerichtshof ist nicht zu akzeptieren. Sie bestreiten seine Zuständigkeit gegenüber US-Staatsangehörigen und setzen Staaten unter Druck, die mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten. Er wird dadurch geschwächt. Dennoch ist er Ausdruck einer internationalen Bewegung gegen die Straflosigkeit. Das neue deutsche Völkerstrafrecht, das der deutschen Justiz Anklage und Verurteilung bei bestimmten Straftaten von Ausländern im Ausland ermöglicht – also z.B. Anklage gegen diejenigen, die gegenwärtig im Sudan und dort besonders in Dafür Bomben auf Krankenhäuser, Schulen und Kirchen werfen – ist leider zu wenig bekannt und wird nicht praktiziert.

Die deutschen Behörden unternehmen in der Regel nichts, bevor nicht der Täter in Deutschland ist. Diese Bequemlichkeit schützt die Täter. Die deutschen NGOs sollten die Staatsanwaltschaften mit einigen Musterfällen konfrontieren und Verfahren vorantreiben. Dennoch: Institutionen und internationale Vereinbarungen, wie die 1998, fünfzig Jahre nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedete Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger sind ein wirklicher Fortschritt angesichts so vieler Rückschläge der letzten Jahre, an dessen Zustandekommen die UN-Menschenrechtskommission in Genf lange gearbeitet haben. Mit dieser Resolution sollen alle diejenigen geschützt werden, die weltweit für die Durchsetzung der Menschenrechte eintreten. Ihre Rechte werden im einzelnen definiert. Auch wenn die Resolution oft keine unmittelbare Hilfe gegen Unterdrückung und Verfolgung ist, so gibt sie vor allem den NGOs eine wichtige Rückendeckung.

Die weltweite Praxis der Menschen­rechte

Entscheidend jedoch sind nicht Resolutionen und Protokolle. Entscheidend ist allein, dass es dadurch oder auf andere Weise gelingt, die Situation der Menschen tatsächlich zu verbessern und Schlimmeres zu verhindern. Entscheidend ist, ob das einzelne Individuum in den Genuss der Menschenrechte kommt – und das sind seit der Wiener Konferenz 1993 auch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte, wie sie in der Schlusserklärung der Konferenz vereinbart wurden. Das ist die Messlatte für alles, was wir tun. Allzu oft sollen wir durch Worte, durch den Wortlaut von Verfassungen, die nur auf dem Papier stehen, durch Dialogrituale ohne irgendeine Bereitschaft zur Veränderung auf Seiten der Dialogpartner beruhigt und von Aktivitäten abgehalten werden. Geben wir dem nach, verraten wir die Opfer und all diejenigen, die unter schwierigen Verhältnissen – oft unter Gefahr für Leib und Leben – die Menschenrechte verteidigen.

Am schlimmsten ist es für mich immer dann, wenn ich sehe, wie Regierungen oder Abgeordnete frei gewählter Parlamente mit autoritären Machthabern gemeinsame Sache machen oder sich missbrauchen lassen und die Menschenrechte würdelos anderen Interessen unterordnen. Wie oft hat man das z.B. während des Apartheid-Regimes in Südafrika erlebt; wie oft in zahllosen anderen Ländern. Als UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte im Sudan wurde ich später ebenfalls Zeuge solch verantwortungsloser Politik.

Menschenrechte sind eine Querschnittsaufgabe internationaler und nationaler Politik, wie UN-Generalsekretär Kofi Annan das mit den Vereinten Nationen vorlebt, wenn er versucht, die Menschenrechte in allen anderen Bereichen der UN-Politik zu verankern. Menschenrechte waren auch das Querschnittthema der verschiedenen Weltkonferenzen in den 1990er Jahren, so der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo und der Weltfrauenkonferenz in Peking. Sie sind nicht das einzige Element in den internationalen Beziehungen, aber ein unverzichtbares.

Das große Vorbild ist bei alledem nach wie vor die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1976, die neben den Elementen „Frieden” und „Wirtschaftsbeziehungen” gleichberechtigt auch die Menschenrechte zum Gegenstand hatten. Auf diese Weise bekamen die Freiheitsbewegungen in Osteuropa, wie Solidarnosc in Polen und die Charta 77 in der Tschechoslowakei, wichtige Rückendeckung in der Zeit bis 1989.

Traurig stimmt, dass das zehnjährige Jubiläum der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 von den Vereinten Nationen nicht sichtbar gefeiert wurde. Sie hätte es in vielfacher Weise verdient gehabt: Denn die Konferenz hat die Rolle der NGO’s gestärkt. Die besondere Verletzbarkeit von Frauen und Kindern ist zum Thema geworden. Das „Recht auf Entwicklung” wurde verankert. In Wien wurde die Einrichtung eines Hochkommissars für Menschenrechte und des Internationalen Strafgerichtshofs auf den Weg gebracht – und insgesamt einen Bewusstseinswandel bewirkt angesichts der schrecklichen Situation im früheren Jugoslawien, unter deren Eindruck die Konferenz damals stand. Leider erzwingen häufig erst die Katastrophen wie die auf dem Balkan den Fortschritt; niemand konnte sich den damaligen Sachzwängen entziehen. Die Schlussdeklaration wurde damals von allen Staaten einstimmig angenommen. Heute gelingt es dagegen mitunter nicht einmal, Zitate der Wiener Schlusserklärung in UN-Resolutionen zu wiederholen. Die like-minded-countries lehnen das immer wieder ab: jene Länder vor allem Afrikas und Asiens, aber auch Russland und Kuba, die der Menschenrechtspolitik als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen. Wir haben uns weit von Wien entfernt.

Rückschläge und Forts­chritte

Es sieht wie ein Widerspruch aus, wenn ich bei aller Kritik sage, dass die Menschenrechtsthematik in den letzten Jahren nach der Wiener Konferenz an Kraft gewonnen hat – auch in den Beziehungen der Staaten untereinander. Das Bewusstsein für die Verbindlichkeit der Menschenrechtsnormen ist gewachsen. Allerdings ist es nicht wirklich gelungen, zu einer weltweiten Strategie zur Durchsetzung dieser Normen zu gelangen. Auf der Stockholmer Konferenz zur Vorbeugung gegen Völkermorde im Januar 2004 hat Kofi Annan von „beschämenden Versäumnissen” der Vereinten Nationen und ihrer Mitglieder in den 1990er Jahren gesprochen. Er hat sich in Ruanda ausdrücklich für diese Versäumnisse entschuldigt. Es stellt sich die Frage: Haben wir dazugelernt aus den Erfahrungen in Kambodscha, in Ruanda, im früheren Jugoslawien? Aktuell haben wir die Situation im Sudan vor Augen, bei der die vorbeugende Menschenrechtspolitik wieder einmal versagt hat. Es ist einerseits gelungen, auch durch eine aktive Rolle der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Staaten, den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd zu stoppen, Friedensverhandlungen sind weit fortgeschritten. Aber der Konflikt hat sich in die Westregion Darfour verlagert mit dem bekannten schrecklichen Bürgerkriegsbild. Tausende wurden und werden seit Monaten dort getötet, ca. 700.000 Menschen sind auf der Flucht, ohne ausreichende humanitäre Hilfe. Schon vor mehr als zwei Jahren wurde diese Gefahr benannt, ohne dass die Regierung in Khartoum unter Druck gesetzt wurde, die politischen Ursachen für diesen Konflikt ernst zu nehmen. Sie glaubt, den Konflikt durch Gewalt lösen zu können. Bis heute hat der Sicherheitsrat nicht reagiert, obwohl sich die deutsche Regierung darum bemüht und zahlreiche internationale Stellungnahmen das Ende des Krieges fordern. Aber: Es geschah nichts, obwohl die Lage immer bedrohlicher wurde, keine vorbeugende Diplomatie zur Eindämmung des Konflikts, geschweige denn vorbeugende Aktionen, wie sie bei anderen Konfliktherden mitunter gelingen. Immer wieder machen wir diese bittere Erfahrung einer selektiven Wahrnehmung von Konflikten — als ob in Afrika Menschenleben nicht ebenso viel wert sind wie Haiti, über dessen Lage wir vor nicht allzu langer Zeit allabendlich unterrichtet wurden wie gegenwärtig über die Gewalttaten im Irak, die unsere Fernsehnachrichten füllen.

Die Völkergemeinschaft muss ihr ganzes Gewicht einbringen, um Khartoum zu einem wirklich kontrollierten Waffenstillstand, der Zulassung humanitärer Hilfe und zu Friedensverhandlungen über Darfur zu zwingen. Das tut sie aber nicht. Die Menschen in Darfur sind Opfer egoistischer Einzelinteressen von Mitgliedern des Sicherheitsrats. Auch Europa spricht nicht mit einer Zunge.

Ich kann für mich in Anspruch nehmen, vor dem Konflikt schon 2002 und 2003 in meinen Berichten als zuständiger UN-Sonderberichterstatter gewarnt zu haben. Andere haben es auch getan. Wir stießen auf taube Ohren. Einige Staaten, wie Deutschland, wurden aktiv, drangen aber bisher nicht durch. Die UNO war und ist in diesem Fall handlungsunfähig.

Terro­ris­mus­be­kämp­fung als Gefahr für die Menschen­rechte

Dieses düstere Bild ließe sich ohne weiteres ergänzen: die negativen Folgen der Terrorismusbekämpfung für die Menschenrechte belegen eine weltweite Klimaverschlechterung. Für eine ganze Reihe von Staaten ist die Teilnahme an der Terrorismusbekämpfung ein Freibrief dafür, den Druck auf die eigene Bevölkerung aufrechtzuerhalten oder gar zu verstärken – und man lässt sie ungeschoren. Im Grunde kann man den Terrorismus überhaupt nicht gemeinsam mit Despoten bekämpfen — aber in bestimmten außen-politischen Zwangssituationen bleibt wohl nichts anderes übrig. Es darf aber keinen „Terrorismusrabatt” für diejenigen geben, die den neuen islamistischen Terrorismus nicht unterstützen. Schon gar nicht darf es dazu kommen, dass solche Regime, wie z.B. jüngst im Falle Libyens, noch gestärkt werden und internationale Reputation erhalten. Wir machen uns dadurch zum Komplizen autoritärer Machthaber.

Die Terrorismusbekämpfung hat aber auch in den westlichen Demokratien die Substanz der freiheitlichen Gesellschaftsordnungen geschwächt. Burkhard Hirsch brachte diese Entwicklung auf den Punkt: „Es ist ein Ziel islamistischer Terroristen, die moralische und rechtliche Substanz der westlichen Welt zu treffen. Die Reaktionen zeigen, wie gering ihr Selbstbewusstsein und ihr Vertrauen in die Kraft einer freien und weltoffenen Gesellschaft geworden ist.”

Es ist sicher richtig: Der weltweite Terrorismus ist eine neue Art ernsthafter Bedrohung, gegen die neue Maßnahmen und Instrumente notwendig sind, aber nicht so weit gehende wie die Sicherheitspakete hier und der Patriot Act in den USA.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem wegweisenden Urteil vom 3. März 2004 – eine Sternstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit – zum so genannten Lauschangriff in Wohnungen festgestellt, dass die Effizienz der Strafverfolgung die Grenze der Menschenwürde nicht überschreiten darf. „Groß verdient das Urteil genannt zu werden, weil es mit beispielloser Konsequenz den auf die Menschenwürde gestützten Leitgedanken des ,absolut geschützten Kernbereichs persönlicher Lebensführung‘ und damit ein tragendes Element des freiheitlichen Rechtsstaats in allen Phasen strafprozessualer Informationsverarbeitung zur Geltung bringt”, so jüngst dazu der Frankfurter Jurist Erhard Denninger. Zu viele Unverdächtige geraten heute durch die von Schily vorgelegten Sicherheitspakete in das Visier der Sicherheitsbehörden. Es ist eine Diskriminierung, wenn z.B. Ermittlungen nur an den Tatbestand geknüpft werden, dass jemand Ausländer ist und einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehört.
Die wegweisenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts könnten über den entscheidenden Einzelfall hinaus eine Besinnung und eine Trendwende herbeiführen. Die Sicherheitsgesetze, insbesondere das Ausländer- und Asylrecht gehören auf den Prüfstand. Es darf nicht dazu kommen, dass die Art der Terrorismusbekämpfung in den freiheitlichen Gesellschaften mehr Schaden anrichtet als der Terror selbst.

Die Glaubwürdigkeit der Demokratie wird zutiefst erschüttert, wenn ein großes, demokratisch verfasstes Land wie die USA „den Regelverstoß zur Norm erklärt und wie in Guantanamo oder in den Lagern in Afghanistan nackte Willkür übt.” (Süddeutsche Zeitung vom 9. März 2004)

Der jüngst veröffentlichte jährliche Menschenrechtsbericht der USA zu 196 Staaten wird dadurch zu einem Dokument der Heuchelei. Die USA behandeln sich selbst darin mit keinem Wort. Selbstkritik ist Voraussetzung für Glaubwürdigkeit. Ich bin sicher, dass die amerikanische Demokratie die Kraft zur Selbstkorrektur entwickeln wird, etwa durch den Obersten Gerichtshof und durch eine Korrektur der Antiterrorgesetze in einigen Jahren durch den Gesetzgeber.

Freiheitsrechte sind Ausdruck der unantastbaren Menschenwürde und nicht vom Staat gnädig gewährte Privilegien, die zur beliebigen Disposition stehen.

Die UNO als Akteur weltweiter Menschen­rechts­po­litik

Nicht nur der 11. September hat zu tief greifenden Veränderungen geführt. Seit längerem schon beobachten wir ein neues Phänomen: an die Stelle der Staaten treten zunehmend „Kriegsunternehmer” – warlords, Söldnerbanden – die oft im Auftrag anderer zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen die Gesellschaften ausplündern, soweit das nicht schon die korrupten Regierungen tun. Das erfordert neue Strategien. Der Soziologe Ulrich Beck erwartet, dass das auf Staaten gestützte Völkerrecht allmählich von der Verfassung einer Weltinnenpolitik abgelöst wird, mit der Einsetzung transnationaler Militärmacht, um dem Ziel der Menschenrechte Geltung zu verschaffen. Gehen wir in ein Jahrhundert wachsender Pazifizierungs- und Menschenrechtskriege? Und wer entscheidet in solchen Situationen? Menschenrechtspolitik ist immer Einmischung, im äußersten Fall auch durch Soldaten.

In den Vereinten Nationen sind die Menschenrechte zu einem Querschnittthema geworden. Es gibt erfreuliche neue Vereinbarungen, wie das im Dezember 2002 beschlossene Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention von 1984, mit dem ein präventives Konzept eines Besuchssystems von außen ermöglicht werden soll. Für dieses Vorhaben hat sich Deutschland in den UN-Gremien jahrelang aktiv eingesetzt. Aber wie passt das zum gegenwärtigen Verhalten der Bundesländer in Deutschland! Das Protokoll muss nun endlich unterzeichnet und ratifiziert werden. Der Widerstand gegen den vereinbarten Besuchsmechanismus ist unerträglich und schädigt die Glaubwürdigkeit unseres Landes. Wie sollen wir von anderen etwas fordern, was wir selbst nicht akzeptieren? Gerade die aufgeflammte Diskussion über Folter in unserem Land zeigt, dass auch wir anfällig sind und gut daran tun, uns internationalen Kontrollen zu unterwerfen.

Die Vereinten Nationen sind für die Menschenrechtspolitik ganz und gar unverzichtbar. Ihr Ansehen, so meine These, ist durch ihre Demütigung im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg eher gewachsen. Sie sind ganz und gar unentbehrlich, um Alleingänge einzelner Staaten oder Staatengruppen zu verhindern, auch wenn ihre Zusammensetzung aus so vielen unterschiedlich orientierten Staaten keine Garantie für richtige Entscheidungen ist, wie wir es durch das Versagen des Sicherheitsrats bei der Bewältigung der Darfur-Krise bestätigt sehen. Mit großem Respekt und tiefer Trauer gedenken wir des im letzten Jahr im Irak ermordeten UN-Hochkommissars für Menschen-rechte, Sergio Vieira de Mello. Auf seine als kämpferisch geltende Nachfolgerin, die Kanadierin Louise Arbour, richten sich unsere Hoffnungen.

In gefährlicher Weise geschwächt ist die UN Menschenrechtskommission. Sie ist das zentrale Forum der Völkergemeinschaft, die wichtigste zwischenstaatliche Säule des globalen Menschenrechtsschutzes — auch wenn sie ihre Aufgabe wegen des starken Widerstands der Täter nur mühsam und unbefriedigend wahrnehmen kann. Sie ist momentan in einer schweren Krise. Amnesty international sprach rückblickend auf 2003 von der „schlechtesten aller bisherigen Sitzungen”. Reporter ohne Grenzen sehen die Kommission überrannt von einer Gruppe von Staaten, die eher die Täter als die Opfer schützt. Deutliche Kritik kam von Kofi Annan und de Mello, die die Kommission er-mahnt haben, ihre eigentlichen Aufgaben wahrzunehmen.

Es ist nicht zu bestreiten, dass insbesondere die europäischen Staaten unter aktiver Mitwirkung der Bundesregierung in der Kommission für die Menschenrechte kämpfen, auch wenn sie das nicht immer konsequent tun. Sie unterliegen aber immer öfter einer Mehrheit afrikanischer und islamischer Staaten, die zutage tritt,

– wenn die verheerende Menschenrechtslage in Zimbabwe 2003 und 2004 nicht ein-mal zur Tagesordnung zugelassen wird;
wenn Kuba regelmäßig von Kritik weitgehend verschont bleibt, auch nach einer neuen Welle von Verhaftungen und Todesurteilen;
wenn zur alleinigen Opfern religiöser Intoleranz auf der Welt die Muslime erklärt werden (vgl, die Resolution der Menschenrechtskommission 2003 zu religiöser Intoleranz);
— wenn Resolutionen zu Tschetschenien und zum Sudan abgelehnt und solche zu China und dem Iran gar nicht mehr eingebracht werden.

Wir brauchen dieses weltweit einmalige Forum. Es ist der einzige Ort, wo sich die Staaten der Kritik stellen müssen und wo die NGOs, die teilnahmeberechtigt sind, ihre Stimme erheben können. Die Menschenrechtskommission ist Ausdruck der engagierten, notwendigen und positiven Einmischung. Nach den schlimmen Erfahrungen der Sitzungsperiode März/April 2003 kann aber nicht einfach zur Tagesordnung der diesjährigen Sitzung übergegangen werden. Der Westen muss in einer Grundsatzerklärung deutlich machen, wo er steht. Leider gibt es dafür bisher keine Anzeichen?

Die Globa­li­sie­rung der Demokratie

Fortschritte in Sachen Menschenrechte sind nicht allein mit Kritik zu erreichen. Sie er-fordern langfristige Hilfen zur Verbesserung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse, zum Aufbau von Zivilgesellschaften, beharrliches Bemühen um ein neues Bewusstsein, neue Formen der Zusammenarbeit über die Grenzen der Staatengruppen hinweg. Das Ziel ist die Globalisierung der Demokratie. Das ist keine weltfremde Utopie, sondern es ist die Fortsetzung des Weges, auf den sich die Menschheit nach den Katastrophen des schrecklichen 20. Jahrhunderts gemacht hat.

Es ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, das von Land zu Land den Einsatz unterschiedlicher Strategien erfordert. Die Zahl der Demokratien hat in den letzten Jahren weltweit zugenommen. Das ermutigt. Dennoch wird immer wieder das Ziel der Universalität der Menschenrechte infrage gestellt. An der Universalität darf es jedoch keine Abstriche geben, etwa im Hinblick auf andere Religionen und Kulturen. Wer dies tut, verliert leicht den Halt. Irgendeine Kultur von vorneherein als unfähig zur Demokratie zu bezeichnen, zeugt von Arroganz. Betrachten wir beispielsweise die arabischen Gesellschaften, denen angesichts des islamistischen Extremismus unsere besondere Aufmerksamkeit gelten muss. Wichtige Gruppen in den arabischen Gesellschaften fordern dort immer nachdrücklicher rechtsstaatliche Reformen. Sie lassen sich nicht von dem Vorurteil beirren, Islam und Menschenrechte seien ein Gegensatz. Der indische Nobelpreisträger Amartya Sen sagt: „Wer Demokratie als rein westliche Idee ansieht, vernachlässigt die intellektuelle Geschichte anderer Gesellschaften und die globale Entwicklung demokratischer Ideen.” Ich kenne keine Weltreligion, die nicht auf der Würde des Menschen beruhen würde.

Die Modernisierungsidee der deutschen Außenpolitik für den Nahen und Mittleren Osten, wie sie die Bundesregierung vertritt, wird nur bei einer Stärkung der dortigen Zivilgesellschaften gelingen, wenn also Bündnispartner in den Ländern selbst gewonnen werden können. Nur so könnte auch der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern entschärft und damit ein entscheidender Beitrag zur Beseitigung des Terrorismus geleistet werden — nachhaltiger als durch die Sicherheitsbehörden mit ihren immer weiter wuchernden Kompetenzen. Nur mit der Unterstützung der Mehrheit der Muslime ist der Kampf gegen den islamistischen Terror zu gewinnen.

Sicher: Noch sind die Zivilgesellschaften dort schwach. Zu ihrer Stärkung gibt es keine Alternative. Der arabische Human Development Report — allein von arabischen Experten verfasst — hat das Demokratiedefizit auch als Ursache von wirtschaftlicher Unterentwicklung beschrieben (Arab Human Development Report, UNDP 2003)

Die Türkei — ein Land des Islam mit demokratischer Verfassung, auch wenn es noch viele Mängel gibt — hat sich auf den Weg hin zu Europa und zu europäischen Standards gemacht. Sie ist in ihrer Brücken- und Beispielfunktion unverzichtbar. Wenn dieser Prozess der Annäherung hin zur Aufnahme in die Europäische Union gelingt, dann ist dies ein Beitrag im Kampf gegen die terroristische Bedrohung.

Es gibt weder Anlass zu Schwarzmalerei noch zu ungerechtfertigtem Optimismus. Menschenrechtspolitik bleibt eine große anstrengende Herausforderung. Viele haben sich dieser Aufgabe verschrieben, so auch das Forum Menschenrechte. Es gibt keinen Anlass zur Resignation. Unzählige Menschen überall auf der Welt hoffen auf aktive Menschenrechtsverteidiger. Sie dürfen nicht im Stich gelassen werden. Eines darf man dabei nicht vergessen: Vieles, war wir nicht für möglich gehalten haben, ist Wirklichkeit geworden.

* Der Beitrag basiert auf einer Festrede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Forum Menschenrechte am 11. März 2004 im Berliner Roten Rathaus. Informationen über die Arbeit des Forum Menschenrechte unter www.forum-menschenrechte.de

[1] Leider verlief auch die Sitzungsperiode 2004 erneut weitgehend unbefriedigend. Vgl. Gerhart
Baum: Stärkeres Gewicht für Menschenrechte, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Mai 2004. Generell
dazu: Gerhart Baum/Eibe RiedeUMichael Schaefer (Hg.): Menschenrechtsschutz in der Praxis der
Vereinten Nationen, Nomos: Baden-Baden 1998.

nach oben