Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Pioniere des Ostens

Eine Studie über westdeutsche Beamte in den neuen Bundesländern

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), S. 112-114

Dass seit der Gründung der beiden deutschen Staaten Menschen von Ost nach West strömten, ist bekannt. Auch wenn die Abwanderung durch den Mauerbau 1961 stark eingeschränkt wurde, konnte sie doch niemals ganz gestoppt werden. Auch heute, über ein Jahrzehnt nach dem Ende der DDR, verlassen weiterhin viele Menschen die neuen Ländern und ziehen in den Westen – wenn auch vorrangig aus ökonomischen Gründen. Weit weniger bekannt oder zumindest im öffentlichen Bewusstsein präsent ist hingegen eine entgegengesetzte Wanderungsbewegung, die nach der Wiedervereinigung einsetzte: Mit dem Einigungsvertrag wurde auch die Übernahme westlicher Verwaltungsstrukturen für das Gebiet der neuen Bundesländer beschlossen. An dieser Umstrukturierung waren so genannte Leihbeamte und Angestellte aus westdeutschen Verwaltungen maßgeblich beteiligt, aber auch westdeutsche Berufsanfänger, die nach ihrem Studium ihre erste Stelle in einer ostdeutschen Behörde fanden. Ein Teil dieser westdeutschen Migranten kehrte nach einigen Monaten in die alten Länder zurück, andere sind bis heute in Ostdeutschland geblieben. Vor kurzem ist nun eine Studie erschienen, die sich mit den Erfahrungen von westdeutschen Verwaltungsangehörigen in den neuen Ländern im Wandlungsprozess nach 1989 befasst:

Claudia Dreke: Der fremde Osten. Formen der
Verarbeitung von Fremdheit in der West-Ost-Migration nach 1990 am Beispiel von Verwaltungsangestellten, Logos Verlag: Berlin 2003, 144 5., ISBN 3-8325-0132-0; 40,50 Euro

Die Arbeit der Soziologin Claudia Dreke ist im Rahmen eines von Erhard Stölting geleiteten Forschungskolloquium an der Universität Potsdam entstanden. Dreke geht darin der Frage nach, ob und auf welche Weise die westdeutschen Verwaltungsangestellten im Osten Fremdheit erfahren und wie sie diese gedeutet haben. „Fremdheit” wird dabei im Sinne Georg Simmels definiert, nämlich als ein Beziehungsverhältnis, das „gleichzeitig ein ,Gegenüber` und ein ,Außerhalb` einschließt” (9) und das entsteht, „wenn sich Partner einer Beziehung nahe sind” (13). Denn erst wenn Kommunikation und Interaktion möglich sind, treten die unterschiedlichen Relevanzstrukturen zu Tage, die den „Fremden” gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe auszeichnet: „Er verletzt immer wieder die Normalitätserfahrungen der Gruppen in seiner neuen Umwelt, in dem er sich hinsichtlich ihrer unreflektierten Gewissheiten abweichend verhält” und somit eine Grundannahme der Alltagswelt in Frage stellt, „nämlich dass das Gegenüber die Welt im Zweifelsfall genauso erlebt wie er” (20). Umgekehrt macht der Neuankömmling die Erfahrung, dass seine üblichen Handlungsmuster nicht mehr dazu taugen, eine reibungslose Interaktion zu erzeugen. Nicht „fähig, die Erwartungen der anderen zu antizipieren, sieht er sich hilflos den Irritationen seiner Geneinsamkeitserwartungen ausgesetzt” (21).

Dreke untersucht nun auf der Grundlage von qualitativen Interviews mit zehn West-Ost-Migranten, welche bislang unreflektierten Gewissheiten der Westdeutschen in den neuen Ländern in Frage gestellt wurden und welche Irritationen sich daraus ergeben haben. Allerdings geht es ihr nicht darum, die so häufig gestellte Frage, wie die Ostdeutschen (im Vergleich zu den Westdeutschen) sind, zu beantworten, Denn: „Spezifiziert man das Fremde, redet man über sich selbst” (13). Die in den Interviews zum Ausdruck kommenden Bilder von den Ostdeutschen werden hier also allein als Konstruktionen der befragten Westdeutschen aufgefasst, die in erster Linie etwas über deren eigenes Selbstverständnis aussagen. In-sofern irrt Erhard Stölting, wenn er in seinem Vorwort betont, Dreke betrachte die West-Ost-Migranten „aus der Perspektive der Einheimischen” (7). Denn gemäß Drekes Ansatzes hätten dafür ostdeutsche Verwaltungsangestellte zu ihren Erfahrungen mit den hinzugekommenen „Fremden” befragt werden müssen.

Gleichfalls gilt es mit Stölting positiv hervorzuheben, dass mit dieser Studie erstmals die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten der Westdeutschen unter die Lupe genommen werden. Von Bedeutung ist dabei, dass sich die westdeutschen Verwaltungsangestellten, die als „Fremde” in die neuen Länder kamen, gegenüber den „Einheimischen” strukturell im Vorteil befanden. Denn durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes war ein bestimmter konstitutioneller Rahmen für die öffentliche Verwaltung festgelegt worden. „Damit wurde den migrierten Führungskräften die Deutungshoheit über Verwaltungsnormalität zugeschrieben: Sie hatten keinen objektiven Grund, am eigenen Sinnsystem zu zweifeln” (35). Letzteres jedoch galt und gilt nicht nur für die West-Ost-Migranten, sondern weitgehend für die westdeutsche Bevölkerung insgesamt.
Claudia Drekes empirische Analyse besteht aus zwei Teilen. Zunächst werden die Fremd-und Selbstbilder der West-Ost-Migranten vorgestellt und die diesen zugrunde liegenden Deutungsmuster herausgearbeitet: Die Ost-deutschen beschreiben die Befragten in ihren Erzählungen als rückständig, autoritär, intolerant, verschlossen, doppelzüngig und kollektivistisch geprägt. Sich selbst präsentieren sie demgegenüber als moderne, demokratische, tolerante, aufgeschlossene, geradlinig und eigenverantwortlich handelnde Verwalter, die Anfang der 1990er Jahre viel Mühe und Arbeit auf sich genommen haben, um die neuen Ländern mit aufzubauen. Vorherrschend ist das Selbstverständnis als Pionier, der „als ,Vorkämpfer` unerschrocken Neuland betritt, um es ,urbar` zu machen und ihm damit eine Ordnung zu geben, Unordnung und Chaos also zu beseitigen” (89). Die befragten Verwaltungsangestellten grenzen sich auf diese Weise so-wohl von den Ostdeutschen, als auch von den in den alten Ländern verbliebenen Westdeutschen ab, die für Arroganz, Ignoranz und Borniertheit stehen.

Insgesamt kann Dreke hier zeigen, dass die interviewten Westdeutschen in ihren Erzählungen das in den Politik- und Sozialwissenschaften seit Jahren diskutierten Modernisierungskonzept reproduzieren: Die Situation in den neuen Ländern der 1990er Jahre wird mit der Lage in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren verglichen, Unterschiede zwischen Ost und West werden als Modernisierungsdefizite des Ostens interpretiert. Zu-gleich werden kulturelle Unterschiede, welche die Befragten bei den politischen Orientierungen, beim Staatsverständnis, bei den Handlungsorientierungen und Kommunikationsstrukturen in der Verwaltung sowie den Lebensstilen ausmachen, durch die unterschiedliche Prägung in der DDR und somit durch die insbesondere in der Politischen Kulturforschung weit verbreitete „Sozialisationsthese” erklärt. Die Befragten greifen also auf das gesellschaftlich vorhandene „Deutungsangebot” zurück, um ihre eigenen Erlebnisse für sich verständlich zu machen.

Diese Deutungen werden jedoch nicht beliebig, sondern entsprechend der jeweiligen individuellen Erfahrungen ausgewählt. Claudia Dreke stellt daher im zweiten Teil ihrer Untersuchung anhand von drei Fallbeispielen verschiedene Möglichkeiten vor, wie die Migrationserfahrungen individuell verarbeitet und zu einer bestimmten Geschichte zusammengefügt werden: zu einer Erfolgsgeschichte, bei der das „Fremde” letztlich verschwindet und die Ostdeutschen gar nicht mehr als „Ostdeutsche” und somit als „anders” wahrgenommen wer-den; als Schilderung einer Niederlage, bei der die Fremdheit und somit eine scharfe Abgrenzung von den Ostdeutschen bis zum Ende unauflöslich bestehen bleibt; oder als eine Geschichte, in der sich die Bedrohung und die Faszination durch das Fremde die Waage halten und sowohl Gemeinsamkeiten, als auch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen hervorgehoben werden. Diese unterschiedlichen Geschichten spiegeln die Erfahrungen der Befragten in den neuen Ländern und ihre derzeitige Situation wider: Im ersten Fall hat sich der West-Ost-Migrant in den neuen Ländern dauerhaft niedergelassen und lebt heute dort mit seiner Familie; im zweiten Fall kehrte die Befragte nach einiger Zeit enttäuscht in den Westen zurück; im dritten Fall arbeitet der westdeutsche Beamte weiterhin in den neuen Ländern, pendelt jedoch regelmäßig zu seiner Familie nach Berlin (West).

An dieser Stelle hätte man vielleicht noch stärker auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ausschluss- und Stigmatisierungserfahrungen und der Konstruktion von Ost-West-Unterschieden eingehen können, nicht zuletzt um näher zu bestimmen, wann und warum Fremdheitsgefühle entstehen und überwunden werden können. Auch die Erwartungen, mit denen die Westdeutschen jeweils in die neuen Länder kamen, hätten in diesem Kontext eingehender berücksichtigt werden müssen, zumal die Autorin selbst auf die idealistischen Vorstellungen einiger Befragten hinweist. Ungeklärt bleibt schließlich, welche Rolle die ebenfalls angesprochene Zugehörigkeit eines Teils der West-Ost-Migranten zur `68er-Generation spielt. Detailliertere Informationen über die soziodemografische Zusammensetzung des Interviewsamples und die Einbeziehung dieser Daten in die Analyse hätten hier weitergeholfen.

Insgesamt hat Claudia Dreke jedoch eine sehr lesenswerte Untersuchung über Selbst-und Fremdbilder, Identitätskonstruktionen und natürlich über das Verhältnis der Westdeutschen zur DDR und zu den Bürgern der neuen Länder vorgelegt. Interessant wäre es nun, die hier herausgearbeitete westdeutsche Sicht mit der „Perspektive der Einheimischen” zu kontrastieren. Denn auch wenn man Selbst- und Fremdbilder als notwendige Konstruktionen zur Schaffung (sozialer) Identität auffasst, ist zu fragen, ob und wo sich die Relevanzstrukturen von Ost- und Westdeutschen tatsächlich unterscheiden. Unabhängig davon hat Drekes Untersuchung aber eines deutlich gemacht: Wer über die „ostdeutsche Identität” spricht, darf über das westdeutschen Pendant nicht schweigen.

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