Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Editorial

aus: Vorgänge 166 ( Heft 2/2004 ), S. 1

Der Sudan im Jahr 2004: Kämpfe in der Westprovinz Darfur haben über 10.000 Tote gefordert. Arabischstämmige Milizen terrorisieren die Bevölkerung im Auftrag der Zentralregierung in Khartum und haben über eine Million Menschen in die Flucht getrieben, die nun vom Hungertod bedroht sind. Schätzungen sprechen von mehreren Hunderttausend Verhungernden in den nächsten Monaten. Pünktlich zum zehnten Jahrestag des Völkermords in Ruanda spielt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit erneut ein afrikanisches Drama ab. Die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, spricht schon von „ethnischen Säuberungen”. Wiederholt sich hier die Geschichte? Bringt sich der schwarze Kontinent wirklich selbst um, wie es der renommierteste französische Afrika-Journalist Stephen Smith in einem umstrittenen „Nekrolog” jüngst behauptete?

Tatsächlich offenbarte der Genozid in Ruanda 1994 – parallel zu den Balkankriegen –, wie trügerisch die Rede vom „Ende der Geschichte” nach 1989 gewesen war. Todesschwadronen und Massengräber prägten das Antlitz der 1990er Jahre, auch wenn die vereinte westöstliche Welt anfänglich in Frieden und Freiheit zu prosperieren schien. Die alte Bundesrepublik war noch in den 1980er Jahren von einer öffentlichen Solidarität mit den armen Ländern geprägt, die so erfolgreiche Spendenkampagnen wie „Menschen für Menschen” des Schauspielers Karlheinz Böhms hervorbrachte, der damit Hungernde in Äthiopien unterstützte. Diese Solidarität ist gegenwärtig zumindest aus der medialen Öffentlichkeit verschwunden. Fernsehshows werden heute spontan zugunsten der Elbeflut opfer in Szene gesetzt, nicht für die Hungernden in Darfur oder die halbe Milliarde Kinder, die mit weniger als einem US-Dollar täglich überleben muss.

Jenseits der Katastrophennachrichten gibt es jedoch vielleicht ebenso viele Hoffnungszeichen: Denn die Dritte Welt, so wie sie in Negativbildern noch viele Köpfe hierzulande prägt, existiert nicht mehr. Sie hat sich ausdifferenziert. Neben den failed states, in Chaos, Hunger und Not versinkenden Gemeinwesen, stehen aufstrebende Staaten wie Indien, China oder Brasilien. Die Lebenserwartung ist in diesen Ländern in den letzten 40 Jahren stärker gestiegen als in den 4.000 Jahren zuvor. Und der Weltbankpräsident James Wolfensohn nannte den linken brasilianischen Präsidenten Lula jüngst begeistert das „wichtigste Einzelexperiment, das es derzeit gibt auf der Welt.” Lula fordert denn auch die Teilnahme der drei Länder und Südafrikas am nächsten G-8-Treffen. Sie würden den Norden mit Macht an die Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaftsordnung erinnern: Mit mehr als 300 Milliarden Dollar subventionieren die OECD-Staaten ihre 20 Millionen Landwirte; die Milliarden Kleinbauern- und Landarbeiterfamilien in den Entwicklungsländern haben keine Chance, ihre Produkte auf diesen abgeschotteten Märkten unterzubringen. Eine Billion Dollar pro Jahr werden weltweit für Rüstung ausgegeben, dagegen nur 50 Milliarden für Entwicklungshilfe. Auch wenn Korruption, Bürgerkriege und Diktaturen vielfach hausgemacht sind: Die reichen Länder des Nordens haben eine hohe Verantwortung für die Entwicklung im Süden, der sie vor allem durch Strukturveränderungen im Welthandel endlich gerecht werden müssen.

Entwicklungspolitische Fragen sollten also wieder ins Zentrum der Debatten rücken, gerade in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit vielleicht allzu sehr auf Terrorismus, Irak-krieg, amerikanische Hegemonie sowie nationale und europäische Fragen fixiert ist. Denn in einer unsicheren südlichen Hemisphäre können jederzeit neue Risiken für die Länder des Nordens entstehen. Die Beiträge dieses vorgänge-Heftes wollen sowohl Fortschritte als auch Defizite analysieren: Genhart Baum, Bundesinnenminister a.D. und von 1992 bis 1998 Leiter der deutschen Delegation in der UN-Menschenrechtskommission, zieht eine Bilanz der internationalen Menschenrechtspolitik der vergangenen Jahre. Die ökologischen und wirtschaftlichen Chancen, die für die Entwicklungsländer durch Umstellung auf erneuerbare Energien entstehen, arbeiten Ulrich Laumanns, Danyel Reiche und Mischa Bechberger in ihrem Beitrag überzeugend heraus. In die Frühphase der (west)deutschen Entwicklungspolitik führt der Aufsatz von Hendrik Grote: Im Verlauf der 1950er Jahre entstand allmählich, behindert und befördert von ganz verschiedenen äußeren Einflüssen, eine eigenständige Entwicklungspolitik. Das Schicksal philippinischer Arbeitsmigrantinnen in Singapur präsentiert Nicole Weber anhand eigener Forschungen vor Ort. Für die Frauen ist der Aufenthalt in der Fremde zugleich Emanzipations- und Zwangserfahrung. Welche lokalen Aktivitäten in Deutschland für eine gerechtere, die Interessen des Südens berücksichtigende Weltwirtschaftsordnung möglich sind, zeigen Ellen Frings und Jürgen Wüst in ihrem mit zahlreichen Fallbeispielen belegten Beitrag. Am Ende des Heftschwerpunktes stellt wie immer ein aktueller Literaturbericht wichtige Neuerscheinungen vor.

Hermann Scheer kämpft in seinem Essay unverdrossen gegen politikmüde Agonie und alles beherrschenden Ökonomismus an und prophezeit das Widererstarken engagierter Gesellschaftskritik von links. In den Kommentaren und Kolumnen verweist Wieland Hempel auf die einzelnen Felder, in denen der zum Fetisch gewordene Liberalisierungsglaube die Gesellschaft gefährdet. Ein neues Wahlrecht fordert Lore Maria Peschel-Gutzeit: Kinder sollten von Geburt an stimmberechtigt sein, treuhänderisch ausgeübt durch ihre Eltern. Gary S. Schaal fragt, ob bürgerschaftliches Kapital eine harte Währung sein kann, während Hildegard Pamme auf die Defizite in der kommunalen Selbstverwaltung verweist. Christoph Bruch will dem Geheimnisträger Staat durch ein Informationsfreiheitsgesetz zu Leibe rücken will. Rezensionen runden das Heft ab.

Intellektuell anregende Lektüre wünscht wie immer

Alexander Cammann

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