Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Weniger Staat, mehr bürger­schaft­li­ches Kapital?

Anmerkungen zum sozialwissenschaftlichen Social-Capital-Ansatz

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), S. 82-90

Das Konzept von Social Capital bzw. Sozial-kapital ist in den letzten zehn Jahren intensiv diskutiert worden. Die Debatte beschränkte sich dabei nicht auf die Sozialwissenschaften, sondern erfasste auch den politischen und gesellschaftlichen Diskurs über die Frage, wie zivilgesellschaftliches Engagement gefördert und unterstützt werden kann. Vor dem Hintergrund von pessimistischen Gesellschaftsdiagnosen, die erodierende soziale Bindungen und nachlassendes politisches Engagement bei den Bürgern in vielen westlichen Demokratien konstatieren, ruht auf dem Social-Capital-Konzept die Hoffnung, man habe mit der systematischen Förderung des in einer Gesellschaft vorhandenen Sozialkapitals einen Hebel in der Hand, um Verfallserscheinungen zu bekämpfen und Gemeinschaftlichkeit und zivil-gesellschaftliches Engagement zu stärken.

Die Popularität des Social-Capital-Ansatzes im politischen Diskurs erklärt sich zum Teil daraus, dass er nicht jenseits ideologischer Strömungen verortet ist, sondern politisch je spezifisch nutzbar ist (vgl. Foley/Edwards 1997). Alle politischen Lager stehen Social Capital positiv gegenüber – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Dies zeigt sich daran, welche unterschiedlichen Hoffnungen mit dem Begriff verbunden sind: Er soll zu-nächst einmal zwischen Gemeinschaft und Individualismus vermitteln und so die vermeintlich strikte Opposition von Kommunitarismus und Liberalismus überwinden helfen. Darüber hinaus sollen Social-Capital-Theorien aber auch die beiden antagonistischen Gesellschaftsbereiche Markt und Staat miteinander verbinden (vgl. Little 2002) – mehr Sozialkapital in der Zivilgesellschaft würde dann auch zu einer besseren ökonomischen Leistungsfähigkeit und einer höheren demokratischen Performanz führen (vgl. Putnam 1993). In Zeiten nachlassender ökonomischer Prosperität soll Social Capital zudem die individuellen Risiken, die sich aus sinkenden sozialstaatlichen Leistungen ergeben, abfedern. Die Bürger unterstützen sich wechselseitig aus Solidarität und nehmen dem Staat so Aufgaben ab. Argumentativ kann man auf das Konzept aus so unterschiedlichen ideologischen Positionen wie der wirtschaftsliberal-individualistischen und der sozialstaatlich-kommunitaristischen zugreifen, ohne dabei Widersprüche zu provozieren.

Die steile Karriere des Konzepts innerhalb der Sozialwissenschaften ist ähnlichen Gründen geschuldet: So kann Social Capital sowohl handlungs-, system- wie auch netzwerktheoretisch konzeptionalisiert werden. Die Ausprägung des Ansatzes kann eher deskriptiven Charakter haben wie bei Coleman (1990) odereher normativ gefärbt sein wie bei Putnam (1993, 2000). Die Pluralität der skizzierten ideologischen Strömungen und der sozialwissenschaftlichen Konzeptionalisierungen muss jedoch skeptisch stimmen: Ein Konzept, dass alles erklären soll und mit allem kompatibel ist, erklärt zumeist nur sehr wenig. Zehn Jahre, nach dem Putnam 1993 Social Capital in die Politikwissenschaft eingeführt und seine beispiellose Karriere begründet hat, scheint es Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme – denn nur wenn eindeutig geklärt ist, wie Social Capital konzeptionell gefasst wird, was genau sich hinter diesem Konzept verbirgt, kann sei-ne Leistungsfähigkeit und Erklärungskraft angemessen bewertet werden. Erst dann kann mit aller gebotenen Vorsicht festgestellt werden, ob der Social-Capital-Ansatz die normativen Hoffnungen erfüllen kann, die im zivilgesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurs damit verbunden werden – oder ob das Ganze nur leere Rhetorik ist, die mehr verklärt als erhellt.

Social Capital – Herkunft des Begriffs und Defini­ti­onen

Die Social-Capital-Debatte zeichnet sich durch eine grundlegende Ambivalenz aus. Auf der einen Seite steht die zunehmende Popularität dieses Ansatzes, die sich in einer wahren Flut an Publikationen manifestiert.2 Auf der anderen Seite wird die Karriere des Konzepts seit seinen Anfängen von kritischen Stimmen begleitet, die gravierende konzeptionelle Fehler identifizierten (vgl. u.a. Foley/Edwards 1999, Cohen 1999 und Tarrow 1996). Hinzu kommt, dass selbst die Verfechter des Social-Capital-Ansatzes zugeben müssen, dass ihre theoretischen Annahmen nur selten durch empirische Analysen gestützt werden (vgl. Newton 1997, 1999). Die Grunddisposition, welche die Mainstream-Debatte auszeichnet, ist jedoch positiv: Es wird davon ausgegangen, dass die diagnostizierten konzeptionellen Fehler und empirischen Unstimmigkeiten aufgelöst wer-den können – sei es durch konzeptionelle Veränderungen des Ansatzes oder durch präzisierte Fragen in empirischen Surveys (vgl. Stolle 2002).

Diese positive Grundhaltung erscheint je-doch zweifelhaft – und damit auch die Hoffnung, durch kleinere, eher kosmetische, Veränderungen die grundlegenden Probleme des Social-Capital-Ansatzes lösen zu können. Zwar sind die analysierten gesellschaftlichen und politischen Phänomene hoch relevant – was sich nicht zuletzt durch die Rezeption des Konzepts im politischen Diskurs zeigt. Doch ist die von seinen Verfechtern in Anschlag gebrachte hohe Analyse- und Erklärungskraft trügerisch, da sie aus der Kornfundierung von Theorien und Konzeptualisierungen resultiert, die inkompatibel und partiell sogar widersprüchlich sind. So argumentiert Cohen (1999: 220), dass „the use male of the concept of social Capital is at fault [,..] [o]bscuring more than it Illuminates”. Bertolini and Bravo (2001: 1) kommen zu der Einschätzung, dass die „complexity and the multiple standpoints from which it [Social Capital; G.S.] has been used make it ambiguous at times and, always, difficult to control.” Die Ambivalenzen und Probleme in der Debatte resultieren partiell aus den divergierenden Definitionen der drei zeitgenössisch einflussreichsten Social-Capital-Konzeptualisierungen von James S. Coleman (1988, 1990), Robert D. Putnam (1993, 1995, 2000) und Pierre Bourdieu (1972, 1992).

Obwohl der Terminus Social Capital bereits in den 1960er Jahren gebraucht wurde (vgl. Haug 1997), ist dessen damalige Verwendung für die heute Diskussion irrelevant.3 Zumindest für den europäischen Kontext – den Coleman (1988) in seiner Darstellung geflissentlich ignoriert – kann der Beginn 1971 mit Bourdieu angesetzt werden, auch wenn dessen Einfluss auf die internationale Diskussion unbedeutend war. Bourdieu definierte soziales Kapital als eine von drei Kapitalsorten, die hauptsächlich individuell besessen werde. Soziales Kapital ist ihm zufolge die „sum of Gesellschaftstheorie the resources […] that accrue to an individual or group by virtue of possessing durable network of more or less institutionalized relationships of mutual acquaintance and recognition“ (Bourdieu 1992: 119).

Mit seinem Standardwerk Foundations of Social Theory hat James S. Coleman (1990) das Konzept autoritativ in die Soziologie ein-geführt (vgl. für einen Überblick Portes 1998). Er identifizierte die Defizite des von ihm selbst vertretenen handlungstheoretischen Individualismus und erwartete, dass das Social-Capital-Konzept die Möglichkeit biete, „social structure” in das Rational-Choice-Paradigma zu integrieren. Im Unterschied zu klassischen Rational-Choice-Konzepten ist Social Capital nicht innerhalb eines rationalen Akteurs verortet, sondern befindet sich in „the structure of relations between persons and among persons, and is lodged neither in individuals nor in physical implements of pröductions” (Coleman 1990: 302-303). Es ist für Coleman ein Medium, um die Wahrscheinlichkeit von Kooperation unter nutzenmaximierenden und potenziell unbekannten Akteuren zu erhöhen.

Robert D. Putnam führte das Konzept 1993 in die breitere politikwissenschaftliche Diskussion mit dem Ziel ein zu erklären, „how to make democracy work” und initiierte damit eine breite und intensive Debatte über die sozialen und kulturellen Voraussetzungen dieser Regierungsform. Putnam (1995: 664-665) definiert Social Capital als „features of social life-networks, norms, and trust – that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives. […] Social capital in short refers to social connections and the attendant norms and tmst”. Insofern gilt auch Putnams Erkenntnisinteresse der Frage, unter welchen Bedingungen die Kooperation der Bürger in der Gesellschaft wahrscheinlich ist. Im Vergleich zu Coleman nimmt er jedoch drei zentrale Veränderungen vor: Erstens ist das Konzept nicht mehr deskriptiv, sondern normativ. Zweitens stehen nicht mehr rationale Akteure, sondern (republikanische) Bürger im Zentrum der Theorie. Daher geht es auch, drittens, nicht mehr primär um die Analyse der Kooperationswahrscheinlichkeit auf horizontaler Ebene unabhängig von der flankierenden gesellschaftlichen Grundstruktur, sondern spezifisch um die positiven Effekte von horizontaler Kooperation für die demokratische Performanz, d.h., um die Intensität, mit der faktisch demokratische Ideale realisiert werden.

Konzep­ti­o­nelle Missver­ständ­nisse

Die Frage, warum und in welchen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Kontexten Bürger miteinander kooperieren, besitzt innerhalb der politischen Theorie und Ideengeschichte eine lange intellektuelle Tradition. Das initiierende Motiv der politischen Theorie in der Moderne ist der von Thomas Hobbes im Leviathan aufgegriffene Problemkreis, wie Kooperation und kollektives Handeln auf Dauer sicher gestellt werden können. Die Social-Capital-Debatte könnte auf diese klassischen Vorarbeiten zurückgreifen. Dies ist jedoch überraschenderweise nicht der Fall. Die meisten Social-Capital-Konzepte begnügen sich mit ein oder zwei auratischen Zitaten von Alexis de Tocqueville. Social Capital ist eindeutig untertheoretisiert – zumindest in den gängigen Analysen der Politikwissenschaft.4 Eine Erklärung für diesen überraschenden Sachverhalt ergibt sich aus der Tatsache, dass die empirische Forschung kaum durch theoretische Vorarbeiten angeleitet wurde, sondern Theorie und empirische Analysen coevoluierten .[5] Im schlechtesten Fall reagierte die Theorie nur auf widersprechende empirische Analysen, was in Empiriegeleitete Theoriebildung einmündete.

Ein grundlegendes Problem besteht auch darin, dass Social Capital in einer Vielzahl von Studien als eine erkenntnistheoretische Grundkategorie (epistemological primitive) verstanden wird. So diskutiert Wong Kwok-Fu (2001: 2) unterschiedliche Ansätze von Social Capital unter der Überschrift „nature of socialcapital” – so als ob Sozialkapital auf jeden Fall da sei, und man es nur finden müsse. Andere Autoren verstehen Social Capital im Sinne von Connolly als ein „essentially contested concept” – was überrascht, da keine der konstitutiven Komponenten von Social Capital allein in die Kategorie „erkenntnistheoretische Grundkategorie” fällt. Betrachtet man die Definition von Putnam („features of social lifenetworks, norms, and trust“), stellt sich die Frage, worin die Essenz von Netzwerken besteht. Analoges gilt für Vertrauen: So argumentiert Hardin (2002), dass Vertrauen selbst ein zusammengesetztes analytisches Konzept ist und Gleiches daher auch für Social Capital gelten muss. Es sollte also Abstand genommen werden von der Vorstellung, dass eine „nature of social capital” existiert. Zugleich kann die Suche nach einer „wahren” Definition von Social Capital aufgegeben und durch die gewinnbringendere nach einer „angemessenen” substituiert werden. Die Qualitätskriterien ergeben sich hierbei aus den empirischen Phänomenen, die mit Hilfe des Konzepts analysiert werden sollen.

Daraus folgt, dass eine Reihe von konzeptionellen Grundentscheidungen getroffen werden müssen.

Die grundlegende Frage, die nach wie vor unbeantwortet ist, betrifft den Status von Social Capital: Soll es abhängige oder unabhängige Variable im Forschungsprozess sein? Wie schnell diese beiden grundverschiedenen analytischen Perspektiven konfundieren, zeigt sich bei Putnam (1993), aber auch bei Boix/Posner (1998). Ein zentrales Ergebnis von Putnams Studie besteht darin, dass die Existenz und die Höhe von Social Capital die demokratische Performanz eines politischen Systems nachhaltig beeinflusst. Social Capital fungiert hier als unabhängige Variable. In der-selben Studie unternimmt Putnam jedoch auch den Versuch zu erklären, wie Social Capital entsteht, wodurch es zur abhängigen Variable wird. Die Konfundierung dieser beiden Perspektiven schwächt die analytische Schärfe der Studie – und aller anderen, die in ähnlicher Weise vorgehen – deutlich (vgl. Levi 1996 und Tarrow 1996).

Dabei sind beide analytischen Positionen berechtigt, da sowohl die Frage nach den Ressourcen von Social Capital als auch nach seinen politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen relevant ist. Beides, Quellen wie Konsequenzen, kann auf drei Ebenen – Mikro-, Meso- und Makroebene – analysiert werden. Diese drei Ebenen werden, obwohl der zeitgenössischen Forschung wohlbekannt, analytisch häufig nicht sauber getrennt. Studien auf der Makroebene zielen in der Regel auf die Erklärung der demokratischen Performanz eines politischen Systems. Analysen auf der Mesoebene konzentrieren sich zumeist auf Assoziationen (also Kleingruppen, Vereine, bürgerschaftliche Zusammenschlüsse und Netzwerke), während Mikroebenenarbeiten individu-‚ eile Werte und Normen in den Fokus nehmen (vgl. Brehm/Rahn 1997). Die drei Ebenen stehen ohne Zweifel in kausalen Beziehungen zu-einander: So erhöhen spezifische internalisierte Werte und Normen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bürger sich in Assoziationen beteiligt, während die Dichte des assoziativen Netzwerkes grosso modo die demokratische Performanz erhöht.[6] Nichtsdestotrotz kann nicht unbesehen davon ausgegangen werden, dass Social Capital auf allen drei Analyseebenen gleich „funktioniert”. Vielmehr ist es notwendig, die Logiken der jeweiligen Ebenen klar zu identifizieren.

Eine weitere grundlegende konzeptionelle Entscheidung betrifft die Frage, wie die Vorstellung von „Kapital” konzeptualisiert wird. Foley und Edwards (1999: 141) argumentieren, dass die Wasserscheide in der zeitgenössischen Literatur zwischen jenen verläuft, „who operationalize the concept principally in terms of norms, values and attitudes and those who choose a more social structural operationalization, invoking social networks, organizations and linkages,” Die erste Operationalisierung findet sich v.a. in der politikwissenschaftlichen Forschung, die damit einem eher gegenständlichen Verständnis von Kapital anhängt, während die soziologische Forschung eher der Vorstellung folgt, dass das Kapital ei-ne Eigenschaft von Netzwerken ist und daher nicht individuell besessen werden kann. Decker (2001: 18) spitzt diese Überlegung sogar noch zu, wenn er argumentiert, dass Social Capital „[…] is never an object of pure private ownership”.

Social Capital und Vertrauen

Die wichtigste Komponente von Social Capital ist Vertrauen. Die Relevanz von Vertrauen resultiert aus dem grundlegenden Erkenntnisinteresse dieses Ansatzes: Wie ist Kooperation unter den Bürgern möglich? Generell wird da-von ausgegangen, dass Vertrauen die Kooperation zwischen den Bürgern befördert. Gerade aufgrund dieser normativ wünschenswerten Effekte beunruhigt die empirische Diagnose, dass Vertrauen in vielen westlichen Demokratien eine in Auflösung begriffene soziale Ressource ist (vgl. Putnam/Pharr 2000).

Die sozialwissenschaftliche Vertrauensforschung differenziert zwischen spezifischem und generalisiertem Vertrauen. Spezifisches Vertrauen resultiert aus der persönlichen Kenntnis zwischen (zumindest) zwei Personen. Das zwischen ihnen etablierte Vertrauensverhältnis kann nicht auf andere transferiert oder um andere Personen erweitert werden. Obwohl viele Autoren spezifisches Vertrauen als die grundlegende Form von Vertrauen ansehen, auf der andere Formen aufbauen, ist es auf der gesellschaftlichen Ebene doch nicht die Wichtigste. Von zentraler Bedeutung ist hier generalisiertes Vertrauen, das von Stolle (2002: 403) definiert wird als „abstract preparedness to trust others and to engage in actions with others”. Generalisiertes Vertrauen bedeutet also, auch jenen zu vertrauen, die uns fremd sind. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist generalisiertes Vertrauen deshalb relevant, weil nur diese Form Kooperation unter sich sonst fremden Bürger ermöglicht. Diese Formvon generalisiertem Vertrauen ist für den Social-Capital-Ansatz von zentraler Bedeutung.

Zurück gehen diese Überlegungen auf Alexis de Tocqueville. Der argumentierte, dass der zentrale Mechanismus zur Erzeugung generalisierten Vertrauens regelmäßige soziale Interaktion sei, wobei insbesondere die Mitgliedschaft in freiwilligen Assoziationen die Ausbildung von Vertrauen befördere: „The claim is that in areas with stronger, dense, horizontal, and more cross-cutting networks, there is a spillover from the membership in organizations to the development of cooperative values and norms that citizen develop” (Stolle 2001: 11).

Dieses zentrale Argument des Social-Capital-Ansatzes erhebt zwei problematische GeItungsbehauptungen, eine theoretische und eine empirische. Zunächst soll der empirischen These nachgegangen werden, dass die Mitgliedschaft in freiwilligen Assoziationen die Ausbildung von generalisiertem Vertrauen nachhaltig befördert. In seiner Italien-Studie hat Putnam (1993) argumentiert, dass die Ausbildung von generalisiertem Vertrauen und Reziprozitätsnormen von allen Formen frei-williger Assoziationen gleichermaßen befördert wird. Relativ schnell konnte jedoch empirisch gezeigt werden, dass dies nicht für alle Assoziationen gleichermaßen zutrifft (Stolle/Rochon 1998, 1999). Die wichtigsten Vertreter des Social-Capital-Ansatzes haben daher den Fokus auf freiwillige Assoziationen beschränkt, die im weiteren Sinne des Wortes in der politischen Sphäre verankert sind.[7] Empirisch konnte zumindest die These bestätigt werden, dass hinsichtlich des Niveaus an generalisiertem Vertrauen eine signifikante Differenz zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern von freiwilligen Assoziationen in der politischen Sphäre besteht. Der kausale Mechanismus hinter dieser Differenz ist jedoch theoretisch umstritten, da zwei Erklärungsmodelle denkbar sind: Auf der einen Seite kann die These vertreten werden, dass die Mitgliedschaft in Assoziationen die Ausbildung von kooperativen Werten und Normen befördert, und zwar unabhängig von dem Ausgangsniveau an generalisiertem Vertrauen des jeweiligen Mitglieds. Auf der anderen Seite steht die These, dass die Mitgliedschaft in Assoziationen dem bereits bestehenden Niveau an Vertrauen nichts hinzufügt, vielmehr können die Unterschiede im Vertrauen durch Selbstselektionseffekte erklärt werden: Nur solche Bürger engagieren sich in Assoziationen, die bereits zuvor ein hohes Vertrauensniveau aufwiesen.

Marc Hooghe (2001) hat in einer Reihe von bemerkenswerten Artikeln versucht, die Kausalitätsbeziehung mit Hilfe von Methoden der „social psychological school” näher zu bestimmen. Den aktuellen Forschungsstand innerhalb des Ansatzes fasst er folgendermaßen zusammen: „Within this social psychological line of research, we do not find a single indication that interaction within groups would lead to the strengthening of generalized trust or other socially desired attitudes.” (Hooghe 2001: 23). Diese, für den Social-Capital-Ansatz überaus problematischen, Ergebnisse modifiziert Hooghe auf Basis eigener empirischer Studien marginal. Sie zeigen, dass die Mitgliedschaft in freiwilligen Assoziationen zwar nicht zur Ausbildung neuer pro-kooperativer Einstellungen und Werte führt, dass jedoch bestehende pro-soziale Einstellungen deutlich gestärkt werden. Werden diese Ergebnisse von Hooghe durch zukünftige empirische Analysen bestätigt, wird die zentrale empirische Geltungsbehauptung des Ansatzes unglaubwürdig. Daraus würden auch deutliche Änderungen im politischen Diskurs für den durch Social Capital inspirierten Maßnahmenkatalog resultieren, da eine Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements qua Assoziationen vor allem den Einfluss jener stärken würde, die bereits politisch aktiv sind und so-mit die Spaltung zwischen politisch Aktiven und politisch Apathischen nur voran triebe. Innerhalb der Social-Capital-Debatte wird die hier artikulierte Kritik in der Regel mit dem Hinweis auf die Qualität der zur Verfügung stehenden empirischen Daten gekontert: Die empirischen gestellten Fragen korrespondieren nicht mit den theoretischen Konstrukten. Diese Replik trifft auf viele empirische Studien zu, verstellt jedoch den Blick auf das Argument, dass es im Kern nicht um eine Frage der Qualität der Daten geht, sondern um die Qualität des theoretischen Konstrukts.

Die widersprüchlichen empirischen Ergebnisse resultieren aus der überaus problematischen konzeptionellen Grundentscheidung, das Konzept des generalisierten Vertrauens ins Zentrum des Assoziations-Arguments zu stellen. Die Definition von Stolle (2002: 403) kann dies verdeutlichen: „Generalized attitudes of trust extend beyond the boundaries of face-toface interaction and incorporate people who are not personally known. They are indicated by an abstract preparedness to trust others and to engage in actions with others.” Das grundlegende konzeptionelle Problem dieser Definition besteht darin, dass Vertrauen als eine zweistellige Relation begriffen wird: Ego vertraut Alter. Es ist jedoch schlicht naiv zu glauben, dass Ego Alter in Bezug auf alle zukünftigen, kontingenten Handlungen vertraut. Vielleicht vertraut Ego darauf, dass sein Arbeitskollege alle jobrelevanten Informationen an ihn weiterleitet, ob-wohl er nicht darauf vertraut, dass sein Kollege am nächsten Tag das Geld zurück zahlt, das er ihm heute für das Mittagessen geliehen hat. Das grundsätzliche Argument lautet, dass wir in „normalen” lebensweltlichen Situationen weder allen Fremden prinzipiell, noch jenen, die wir kennen, in allen Bereichen des Lebens vertrauen. Vertrauen setzt ein Mindestmaß an Kenntnis des Anderen voraus (Hardin 2002). Eine sinnvolle Definition von Vertrauen sollte jedoch immer davon ausgehen, dass eine Vertrauensbeziehung durch eine dreistellige Relation gekennzeichnet ist (Hardin 2002, Schaal 2004). Ego vertraut Alter, dass X. Die Tatsache, dass wir nicht generell, sondern in Bezug auf etwas Spezielles vertrauen, muss konzeptionell stärker berücksichtigt werden.[8]

Überzogene Hoffnungen?

Die mit Social Capital verbundenen weitreichenden Hoffnungen kontrastieren auf irritierende Weise mit den konzeptionellen Ambivalenzen, die keineswegs trivial sind. Hierzu gehört die fragwürdige Fokussierung auf generalisiertes Vertrauen als Indikator und Erscheinungsform pro-kooperativer Einstellungen ebenso wie die Nutzung von Social Capital als abhängige und unabhängige Variable in denselben Studien. Angesichts der Vehemenz, mit der Kritik am Konzept von Social Capital artikuliert wird (vgl. u.a. Foley/Edwards 1999), verwundert die Karriere des Konzepts in academia und den zeitgenössischen politischen Diskursen. Über die Gründe hierfür kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, dass Social Capital eine Sehnsucht befriedigt, die durch die Hyperfragmentierung in den Sozialwissenschaften hervorgerufen wird: jene nach einem Integrationskonzept, das die zentrifugalen Ansätze wieder zusammenführt. Politisch spiegelt sich in der Wertschätzung des Konzepts sicherlich auch die Sehnsucht nach sozial integrierten Gemeinschaften im Zeitalter beschleunigten Pluralismus und gesellschaftlicher Diversifikation wieder. Vor allem wird hier der Wunsch nach irgendeinem signifikanten theoretischen Konzept, das sich auf die viel beschworene Bürgergesellschaft anwenden lässt, befriedigt. Problematisch an diesem Wunsch ist jedoch, dass jene Gesangsgruppen und Chöre, in denen Social Capital produziert wird, noch immer in der gepflegten Sprache des (weißen) Mittelstandes singen. Genau jene Assoziationen, in denen Social Capital „produziert” werden soll, tendieren somit dazu, selbst soziale Ausgrenzungsmechanismen zu entwickeln.

Die genannten Kritikpunkte führen dazu, dass zumindest drei konzeptuelle Präzisierungen vorgenommen werden sollten. Hierzu gehört erstens, dass der Social-Capital-Ansatz so weiterentwickelt werden muss, dass er überdie Mikro-, Meso- und Makroebene konzeptionell konsistent bleibt. Zweitens erscheint es notwendig, sich von der gegenständlichen Vorstellung von „Kapital” zu trennen, um die intersubjektive Dimension der analysierten Phänomene stärker in den Blick nehmen zu können. Eine Hoffnung ruht hier sowohl empirisch wie auch theoretisch auf Netzwerkanalysen (vgl. Fuhse 2002). Schließlich sollte von dem zweistelligen Konzept generalisierten Vertrauens („ich vertraue dir“) Abstand genommen werden und auf einen analytisch und lebensweltlich sinnvolleren dreistelligen Vertrauensbegriff („ich vertraue dir in Bezug auf X“) umgestellt werden. Im Zuge dieser Umstellung findet auch die wichtige Differenzierung zwischen Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ihren konzeptionellen Ort (vgl. Schaal 2004).

Es sollte also nicht nur über die Ergebnisse der vielfältigen empirischen Studien diskutiert werden. Gegenwärtig muss die Diskussion einen Schritt früher — bei den theoretischen und konzeptionellen Grundlagen — ansetzen. Vermutlich wird sich so mittelfristig die Auffassung durchsetzen, das Social Capital kein distinktes, klar umrissenes analytisches Konzept ist, sondern ein grobes Label, ähnlich dem Begriff der Politischen Kultur, das sensibel für die zu analysierenden gesellschaftlichen Phänomene konzeptualisiert werden muss. Bis da-hin sollten die auf Social Capital gerichteten Hoffnungen akademisch wie gesellschaftlich nicht zu hoch gehängt werden.

[1] Bezeichnet wird mit dem Begriff Social Capital die Intensität und Qualität von (sozialen) Netzwerken und pro-kooperativen Einstellungen in einer Gesellschaft.
[2] Vgl. Haug 1997 und Stolle 2001 für einen Überblick über den Forschungsstand sowie die konkurrierenden Ansätze innerhalb des Social Capital Paradigmas.
[3] Die ideengeschichtlichen Ursprünge des Social Capital Ansatzes reichen, wie Farr (2004) erst jüngst im Rahmen einer „conceptual history” gezeigt hat, vermutlich sogar noch weiter zurück. Er vertritt die These, dass zwei wichtige intellektuelle Quellen dieses Ansatzes die Arbeiten von John Dewey und Lydia Hanifan sind.
[4] Anders verhält es sich in der Soziologie, die auf den komplexen und konzeptionell anspruchsvollen Grundlagenarbeiten Colemans aufbauen konnte.
[5] „Making Democracy Work” ist ohne jeden Zweifel ein bahnbrechendes Werk, dessen innovativer Gehalt nicht in Zweifel gezogen werden soll. Doch eines ist es sicherlich nicht: Ausdruck einer intensiven Diskussion der theoretischen Grundlagen einer Zivilgesellschaft. Ähnlich argumentiert auch Tarrow 1996.
[6] Eine sehr detaillierte theoretische Analyse des demokratischen Potenzials von verschiedenen Typen von Assoziationen nimmt Warren 2001 vor.
[7] Die oben bereits kritisierte Tendenz zur Empirie geleiteten Theoriebildung zeigt sich in diesem Punkt besonders deutlich.
[8] Offe 1999 argumentiert zwar, dass die Rolle des Staatsbürgers das zukünftige Handeln unserer „fellow citizens” soweit restringiert, dass wir ihnen ein Mindestmaß an basalem Vertrauen entgegen bringen können. Gleich-wohl lässt auch die Staatsbürgerrolle so viel Handlungsspielraum offen, dass generalisiertes Vertrauen immer noch unangemessen erscheint. Vgl. für eine Kritik an dieser Konzeption Fuhse/Schaal 2004.

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