Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Die bedrohte Freiheit

Eine Neuerscheinung untersucht die amerikanische Grundrechtspraxis nach dem 11. September

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 272004 ), S.109-111

 „We haue been through paranoid phases before, succumbing to panic and forgetting oui constitutional guarantees. […] Recovering from our periodic attacks of panic, we haue always hated ourselves in the morning.” Arthur Schlesinger Jr.

Seit dem 11. September 2001 sind allmählich auch die innenpolitischen Reaktionen der USA auf die Anschläge in den europäischen Blick geraten, Nicht nur die Maßnahmen gegen vermeintliche Islamisten oder der rechtlose Status der sogenannten unlawful combatants in Guantanamo, sondern auch die Ausweitung polizeilicher Überwachungstätigkeit durch die nach den Anschlägen verabschiedeten Sicherheitsgesetze (vgl. Rürup 2002) finden zunehmend öffentliches Interesse auch in der Bundesrepublik.

Deshalb ist es besonders erfreulich, daß mit der Untersuchung von Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin, jetzt eine konzise Arbeit zu den rechtlichen Rahmenbedingungen polizeilicher Überwachungsmaßnahmen in den USA vorliegt.

Clemens Arzt: Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen in den USA. Grundrechtsbeschränkungen durch moderne Überwachungstechniken und im War an Terrorism, Verlag für Polizeiwissenschaft: Frankfurt/Main 2004, 132 S., ISBN 3-935979-35-5; 16 Euro Arzt legt den Schwerpunkt seiner Studie darauf, „wie das amerikanische Verfassungsgericht (Supreme Court) das Spannungsverhältnis von Freiheits- respektive Grundrechten der Bürger einerseits und den Aufgaben, Interessen und technischen Möglichkeiten der Polizei im Verlaufe der letzten Jahrzehnte auszutarieren versucht hat.” (11) Dieser Fokus des Autors wird verständlich, wenn man sich deutlich macht, dass es für weite Teile polizeiliche Arbeit in den USA keine einheitlichen Rechtsquellen gibt. Polizeiliche Eingriffsmaßmahner können und müssen sich daher primär an den im Grundrechtskatalog (Bill of Rights) verankerten Freiheitsrechten und deren Interpretation durch den Supreme Court messen lassen. „Verfassungsrecht hat damit (heute) sicherlich stärker als in der Bundesrepublik unmittelbar Bedeutung für die Begrenzung polizeiliche Befugnisse bis hinein in die Einzelfallentscheidungen jedes einzelnen Polizeibeamten.‘ (17f.)

Zentral für die verfassungsrechtliche Bewertung polizeilicher Überwachungsarbeit iss dabei der vierte Verfassungszusatz, der sich explizit mit der Frage von Durchsuchung und Beschlagnahme beschäftigt. Arzt erörtert aus ausführlich die Reichweite und die Beschränkung des vierten Verfassungszusatzes, der zwar einen Richtervorbehalt für alle Formen der Durchsuchung formuliert, gleichzeitig aber verschiedene Einschränkungen dieses Grundsatzes benennt. Arzt weist daraufhin, dass die Rechtsauffassung, wonach jede Durchsuchung der richterlichen Genehmigung bedarf, durch eine stetig wachsende Zahl von Ausnahmen, wie etwa die Durchsuchung von Autos, Routinedurchsuchungen in der Nähe der Staats-grenze o.ä. aufgeweicht wird. Diese Tendenz lässt sich ihm zufolge bereits seit den 1980er Jahren belegen. Gerade hier jedoch vermisst man eine Thematisierung des gesellschaftspolitischen Feldes, in dem sich Verfassungsrechtsprechung entwickelt – auch wenn das nicht zur Aufgabenstellung des Autors gehört.

Ein wichtiger Begriff für die Legitimität polizeilicher Überwachungstätigkeit ist Privacy: was ist eigentlich privat, was ist also vor polizeilichem Zugriff ohne richterliche Genehmigung geschützt? Die Zuordnung unterschiedlicher Orte und Lebensbereiche zum Privaten ist dabei weniger eindeutig, als man erwarten könnte und daher häufig auch Gegen-stand der Auseinandersetzung vor dem Supreme Court. Das entscheidende Kriterium ist hierbei, was der Einzelne vernünftiger Weise für privat hält und wie weit seine Auffassung von der Gesellschaft geteilt wird. So gelten Autos nicht als privat, weil man sich in ihnen jederzeit im Blickfeld Dritter befindet und daher nicht davon ausgehen kann, dass das ein privater Raum sei. Zur Zeit stellt sich diese Frage insbesondere im Zusammenhang mit der Videoüberwachung und biometrischen Kontrolle des öffentlichen Raumes. Hierzu gibt es zwar noch keine Rechtsprechung des Supreme Court. Jedoch wird in der Literatur allgemein angenommen, dass er feststellen würde, Bürger könnten heute nicht mehr davon ausgehen, im öffentlichen Raum unbeobachtet zu sein.

Im zweiten Teil seiner mit 123 Seiten eher knapp gehaltenen Untersuchung kommt Arzt nun auf die rechtlichen Veränderungen nachdem 11. September 2001 zu sprechen. Arzt teilt die Einschätzung vieler amerikanischer Kritiker des Patriot Act, der war on terrorism sei letztlich eine Fortsetzung des war an drugs seit den 1980er Jahren. „Der war on terrorism ist gleichsam die Ablösung und zugleich Fortsetzung dieses war an drugs mit anderen Zielen und Rechtfertigungsmustern.” (122) „Das in der amerikanischen Diskussion mit Regelmäßigkeit auftauchende Kriegsparadigma dient dabei einer Neupositionierung in der Innenpolitik und damit auch im Recht”. (84)

Arzt fasst die Veränderungen durch den Patriot Act knapp zusammen, darunter auch die Ausweitung der Terrorismusdefinition, die nun auch Straftaten im Inneren einschließt, die „darauf abzielen die Zivilbevölkerung einzuschüchtern […], zu nötigen […] oder die Politik einer Regierung durch Entführung, Mord oder massive Zerstörung von Sachen zu beeinflussen […] oder auf eine Regierung einzuwirken […].” (89) Kritiker in den USA haben darauf hingewiesen, dass unter der neuen Definition die Beschädigung oder Zerstörung von Staatseigentum im Zusammenhang mit politischen Protestaktionen als terroristische Straftat angesehen werden können. Die im Patriot Act erweiterten Möglichkeiten polizeilichen und nachrichtendienstlichen Handelns werden darüber hinaus nicht nur auf terroristische Straftaten und Straftäter angewendet, sondern auch auf normale Kriminelle. Der Patriot Act verschiebt das Gewicht „von der Verfolgung von Straftätern nach vergleichsweise strikten Regeln des Strafverfahrens unter der Prämisse der Unschuldsvermutung hin zu Maßnahmen zum Zwecke einer erhofften Prävention terroristischer Akte.” (88)

Arzt beschränkt sich nicht auf den Patriot Act, sondern führt weitere Neuregelungen nach dem 11. September auf, z.B. die Ausweitung der Überwachung nach den FISA-Richtlinien (Foreign Intelligence Surveillance Act), die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten, die Einschränkung des Anwaltsgeheimnisses, die theoretisch unbefristete Inhaftierung von Nichtsstaatsbürgern, die Abschiebung von Nichtstaatsbürgern und vieles andere mehr.

Da viele der von Arzt angesprochenen Veränderungen noch nicht die Ebene des Supreme Courts erreicht haben oder gerade in dessen laufenden Sitzungsperiode die ersten Fälle zur Entscheidung anstehen, bleibt abzuwarten, ob Arzts Einschätzung zutrifft, „in der Rechtsprechung des Supreme Courts lässt sich dabei eine deutliche Tendenz nachzeichnen, polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und Eingriffen stetig weniger enge Grenzen zu setzen.” (122) Diese Einschätzung widerspricht vielen optimistischeren Äußerungen aus den USA, aber auch aus Deutschland, die in der amerikanischen Entwicklung lediglich eine Art Entgleisung sehen wollen, die sich mit dem Ende des war on terrorism oder mit einer Abwahl der Bush-Regierung erledigt. Falls Arzt jedoch Recht behalten sollte, dann wird Amerika jenen „Morgen danach”, den Arthur Schlesinger Jr, beschwört, so bald nicht mehr erleben.

Literatur

Rürup, Katharina Sophie 2002: Bürgerrechte ade? Die Gesetzgebung in den USA nach dem 11. September; in: vorgänge 159 „Freiheitsrechte in Zeiten des Terrors” (Heft 3 – September), S. 52-60

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