Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Demokra­ti­scher Verfas­sungs­staat oder univer­seller Libera­li­sie­rungs­ab­so­lu­timus

Plädoyer für eine neue politische Kulturrevolution*

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), S.56-64

Eine Revitalisierung der Politik wird all enthalten gefordert – als Gegenkonzept zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Doch diese Revitalisierung geschieht nicht durch Appelle an andere und nicht durch Lamentieren über hemmende Widrigkeiten. Sie kann nur geschehen, indem sie wieder von immer mehr Einzelnen – ob als gewählte Politiker, als Parteimitglieder, als außerparlamentarische Akteure, als politische Journalisten, als Bürger – versucht wird, im jeweiligen kleineren oder größeren Umkreis. Wie viele mit-ziehen, hängt davon ab, wie viele aus dem spezialisierten Routinebetrieb der Politik ausbrechen, weil sie dessen zu engen Maßstäbe erkennen, wie viele sich einmischen und die Grundsatzfragen der Politik aufwerfen. Alles spricht dafür, dass die gegenwärtige Politikmüdigkeit umschlagen wird zu einem neuen Aufbegehren: Das Potenzial derjenigen wächst, die des konventionellen Politikbetriebs überdrüssig sind. Grundlegende „Abschiede” vom bisherigen und neue „Anfänge” wird es kaum je geben, wie Gunter Hofmann in seiner Anatomie der Bundesrepublik gezeigt hat. Alle Veränderungen sind fliegende. Aber grundlegende Fragen müssen aufgeworfen werden, um bodenlose Abstürze zu vermeiden. Hören wir also auf, weiter partikularisiert und linear zu denken, uns weiter auf die vorgefertigten Antworten einzulassen, das Labyrinth der tausend einzelnen Rezepte der politics allein für Politik zu halten.

Mehr politische Gedan­ken­frei­heit!

Dies beginnt mit dem Durchbrechen der politischen Begriffsbarrikaden. Der politische Diskurs ist durchsetzt von apodiktischen Grundannahmen, die wie geistige Fesseln wirken und dazu führen, dass Schlüsselprobleme verdunkelt oder ganz ausgeblendet werden. Sie verraten Ängste davor, dass sie nicht mehr zu halten sind, sobald sie kritisch hinterfragt werden. Umso dringender und Erfolg versprechender ist es, diese geistigen Fesseln zu sprengen. Das ist der moralische Auftrag der Aufklärung.

Geben wir uns also endlich wieder mehr politische Gedankenfreiheit! Fragen wir nach, ob die apodiktischen Behauptungen stimmen können, dass es „keine Alternativen” neben dem Vorgegebenen gäbe. Leeren wir die Schubläden von abgestandenen Zuordnungen! Entwickeln wir neue unkonventionelle Strategien – was umso leichter fallen könnte, als demokratische Verfassungsstaaten keine Systemrevolution mehr brauchen, wenn man ihre Spielräume tatsächlich nutzt. Überwinden wir die geistige Konfliktscheu und politische Apathie! Beenden wir den Selbstbetrug, dass es in der demokratischen Gesellschaft keine grundlegenden Interessen- und Wertegegensätze mehr gäbe und es deshalb nur noch um die kompetenteren Konzepte gehe! Flüchten wir uns nicht weiter in Harmoniesucht, bekennen wir uns zu den tatsächlichen Differenzen, von denen es so viele gibt, dass gespielte nicht notwendig sind. Legen wir die Konflikte offen und tragen sie ebenso offen aus, schon damit die Menschen die Chance haben, die tatsächlichen Positionen und ihre Unterschiede zu erkennen! Geben wir das undemokratische Einstimmigkeitsbedürfnis auf, und kommen wir wieder zum demokratischen Mehrheitsprinzip! Riskieren wir Niederlagen! Fragen wir uns erst nach dem Konzept und dann nach den möglichen Mehrheiten, und bezweifeln wir nicht länger die Mehrheitsfähigkeit für Konzepte, schon bevor sie erarbeitet und die Überzeugungsarbeit dafür versucht wurde. Die Menschen nicht zu überfordern und zu überschätzen muss nicht bedeuten, sie dauernd zu unterfordern und zu unterschätzen.

Beenden wir das Ausklammern von Fragen, die kurzfristig nicht befriedigend zu lösen sind! Denken wir wieder in längeren Zeiträumen und Perspektiven. Überwinden wir die Scheu vor großen Politikentwürfen, wenn sie zu sehr von den bisherigen Denk- und Handlungsgewohnheiten abweichen! Erkennen wir, dass es ein allzu pragmatischer Irrtum ist, dass kleine Schritte leichter akzeptiert würden als große! Der gesellschaftliche Rückhalt für große Schritte ist, wenn sie problemnah und überzeugend konzipiert sind, unter Umständen leichter zu bekommen als für die zahllosen kleineren Schritte. Erkennen wir die Machtpotenziale politischer Ideen, die sich allen Widerständen zum Trotz und gegen allen gegenwärtigen Anschein durchsetzen können – wenn sie einen offen-kundigen gesellschaftlichen Nutzen in sich tragen und deshalb Überzeugungskraft ausstrahlen. Dies setzt voraus, dass sie artikuliert werden.

Politische Diskurse sind keine Beschäftigungstherapie zum individuellen Wohlbefinden oder zur Freizeitgestaltung, sondern Konzept- und Überzeugungsarbeit, Konfliktaustragung und Entscheidungsvorbereitung. Fragen wir nach, bevor wir uns auf allzu selbstverständlich scheinende Antworten einlassen, ob die Fragestellung überhaupt die richtige ist. Verlieren wir nicht die Courage vor dem selbständigen politischen Denken! Erkennen wir, dass wir es vielfach mit überkommenen Weltbildern zu tun haben, deren „geistige Hegemonie” (Antonio Gramsci) oft nur noch deshalb besteht, weil vor ihnen geistig kapituliert wird. Denken wir weltläufig und autonom, global, europäisch, staatlich und kommunal. Stellen wir die gesellschaftlichen Wertigkeiten wieder her; den Vorrang der Menschenrechte, des Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen, der demokratischen Selbstbestimmung eines Gemeinwesens, seiner Selbstbehauptung jenseits wirtschaftlicher Dogmen. Diskutieren wir alternative Handlungsoptionen, solange und laut, dass das andere anregt. Und hören wir, was andere vorschlagen, die auf eine Antwort warten. Stellen wir endlich wieder die Grundfragen der optimalen Verfassung eines staatlich organisierten Gemeinwesens, die Fragen nach den Staatsgrundsätzen und der Leistungssteigerung öffentlicher Institutionen. Und bekennen wir uns wieder zum unersetzbaren Primat demokratischer Politik – und damit der Wiederherstellung ihres allgemeinen gesellschaftlichen Mandats.

Die Legiti­ma­ti­ons­kraft der Demokratie

Demokratie kann nicht verfügt und gewährt, sie muss erstritten werden – und zwar nicht nur durch einen einmaligen Gründungsakt. Was eine Gesellschaft eigentlich braucht, ist eine permanente demokratische Revolution. Doch diese Permanenz einer demokratischen Ordnung wird es wohl kaum je geben. Fast alle Gladiatoren demokratischer Aufbrüche werden früher oder später müde; sie wollen und können nicht immer streiten und gesellschaftliche Sisyphusarbeit leisten. Wenn die überwiegende Mehrzahl mit den Verhältnissen zufrieden ist, überlässt sie die Politik ohnehin den Politikern. Demokratische Regsamkeit entsteht durch Betroffenheit, durch moralische Empörung über als unerträglich empfundene Verhältnisse; immer wieder neu, auch nach längeren Phasen von Apathie, Lethargie oder Resignation. Demokratie ist nicht nur ein gesellschaftliches Ideal und ein Funktionsprinzip. Sie ist auch der einzige allgemein zugängliche Zugang zur Politik. Und es ist die in jeder Gesellschaft am tiefsten verwurzelte Idee, unabhängig davon, wie stark ihre Zweige gerade sprießen.

Wie groß die Legitimationskraft des demokratischen Gesellschaftsgedankens ist, zeigt sich daran, dass es in der Neuzeit kein Staat der Welt riskiert hat, sich nicht wenigstens mit seiner Verfassung offiziell diesem Prinzip zu verpflichten, und sei es nur zum Schein. Ob die Verfassungen der „Volksdemokratien” des Sowjetimperiums oder die der lateinamerikanischen Diktatoren: Sie alle enthielten ihre Bekenntnisse dazu. Jedes vorenthaltene oder weggenommene Selbstbestimmungsrecht holen sich die Gesellschaften irgendwann zurück. Widersprüche zwischen demokratischer Norm und dieser nicht entsprechenden Wirklichkeit sind latente Quellen des Aufbegehrens, die schnell zu breiten Strömen werden können. Der sensus communis, der in jeder Gesellschaft steckt, wird sich immer wieder regen, der common sense, der Gemeinsinn. Es ist, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode schreibt, „ein Sinn für Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen lebt, ja mehr auch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeiten des Lebens erworben, durch seine Ordnungen und Zwecke bestimmt wird.” Zwar gibt es immer Versuche, diesen Sinn in eine einseitige Richtung zu lenken und die Menschen von ihm abzulenken. Solche Versuche haben zumindest in einer offenen Gesellschaft nicht lange Bestand, vor allem dann nicht, wenn die Demokratie unbestritten die offizielle Staatsnorm ist und es Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit und Vergleichsmöglichkeiten gibt.

Eine neue demokratische und sozialethisch geprägte politische Kulturrevolution ist überfällig, so wie sie in der antiautoritären Revolte von 1968 angelegt war. Ihre Attraktivität gewann sie durch ihren radikal-demokratischen Antrieb, ihre Respektlosigkeit vor Autoritäten und die Enttarnung von Lügen. Ihre Attraktivität büßte sie ein, weil inihr selbst vielfach alte durch neue geistige Verengungen ersetzt wurden. Diese Kulturrevolution wurde verdrängt und teilweise sogar aufgesaugt von der eines monistischen Radialindividualismus, dem so genannten Neoliberalismus bzw. -konservatismus der 1980er Jahre. Aber Politik für ein individualistisches Weltbild ist ein Widerspruch in sich. Sie überfordert die Gesellschaft und hat die hemmungslose individuelle Selbstentfaltung politik- und gesellschaftsfähig zu machen versucht. Ihre Attraktivität gewann sie dadurch, dass sie als Bewegung gegen staatliche Bevormundung auftrat. Das lenkte davon ab, dass es sich überwiegend um eine Revolt of the Haves, einen Aufstand der Habenden, handelt, die ihre Freiheit zu Lasten der Lebensfreiheiten anderer entfalten und wirtschaftliche vor demokratische Freiheiten stellen: individuelle vor gesellschaftliche Selbstbestimmung, Ökonomie vor Politik. Diese Bewegung hinterließ in den letzten zwei Jahrzehnten breite Spuren. Sie konnte das etablierte nationale und internationale System politischer Institutionen buchstäblich durchsetzen – mit dem Ergebnis einer Entfremdung des Systems der professionellen Politik von der Gesellschaft.

Die Rückkehr der Werte­di­men­sion

Eine neue politische Kulturrevolution, die der neoliberalen gewachsen ist, wird anti-, autokratisch und aufklärerisch sein müssen. Sie muss die verdrängten und verschütteten Probleme und Fragen aufwerfen, die Paradoxien thematisieren, die angeblichen Alternativlosigkeiten linearer Entwicklungen und deren viele kleine Schwestern, die Sachzwänge, hinterfragen. Sie muss die Wertedimension politischen Handelns erweitern: Sie darf sich nicht nur auf die gegenwärtige, sondern muss sich auch auf die künftigen Generationen beziehen; sie muss die verwischten Unterschiede zwischen privatem und öffentlichem Raum neu definieren.

Vorschläge, was im Einzelnen hier und dort zu tun ist, gibt es zahllose. Die meisten ersparen sich allerdings die Frage, welche tatsächlichen Spielräume die Adressaten dieser Vorschläge noch haben – und damit die Frage nach den politischen Trägern, den politischen Institutionen, Organisationen und Politikern. Politiker, die die fortwährend gestutzten Spielräume aus eigener Erfahrung näher kennen, begnügen sich großenteils deshalb von vornherein damit, kleinere Brötchen zu backen. Das hat allerdings zur Folge, dass sie sich daran gewöhnt haben, nicht mehr die Frage nach der Erweiterung ihres Spielraums aufzuwerfen. Es ist ja auch schwer, beides gleichzeitig zu tun: aus einem kleiner gewordenen Spielraum das Bestmögliche zu machen und trotzdem die „System-frage” zu stellen. Je kleiner jedoch der Spielraum wird, desto mühsamer und zeitraubender wird es, wenigstens diesen noch auszuschöpfen. Motivierend ist das nicht. Des-halb müssten gerade aktive Politiker das höchste individuelle Interesse daran habe, dass eine demokratische Kulturrevolution stattfindet – und die Motivation haben, sich daran zu beteiligen, die demokratische Selbstbestimmung eines staatlichen Gemeinwesens aufrechtzuerhalten und wiederzugewinnen. Schließlich ist das der Aktionsraum der überwältigenden Mehrzahl der Politiker.

Der historische Irrtum des Markt­öko­no­mismus

Die Gestaltungsautonomie in wirtschaftlichen Gestaltungsfragen an ein ökonomisches Prinzip abzutreten, an internationale Verträge, an unerreichbare, nicht kontrollierbare und zwangsläufig unflexible transstaatliche Institutionen, und überdies dieses eine Prinzip über die unausweichlichen Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Lebenskreisläufe der Ökosphäre zu stellen — das ist das politische Versagen der Gegenwart. Keine Neugier, keinen Ehrgeiz und keine Phantasie aufgebracht zu haben, die europäische Integration und die globale Kooperation einschließlich der wirtschaftlichen Globalisierung in einer Weise zu gestalten, die die gesellschaftliche Selbstbestimmung in existenziellen Fragen nicht preisgibt: Dies ist das politische Versäumnis seit der europäischen und globalen Zeitenwende im Jahr 1989. Das wirtschaftliche Liberalisierungsprinzip, bisher ungebrochen weiterverfolgt, macht die demokratischen Institutionen zu Kolonialverwaltungen der „unsichtbaren Hand” des durchgängig liberalisierten Marktes. Es macht gewählte Parlamente und Regierungen zu untergeordneten Behörden der Binnenmarkt- und Wettbewerbskommissare der EU und der WTO-Beamten. Er unterwirft die Welt dem Fundamentalismus eines Wirtschaftsdogmas: Dies ist nicht nur demokratiewidrig, sondern auch kulturwidrig, eine arrogante Geschichtsvergessenheit und eine abenteuerliche Zukunftsblindheit. Dieses Dogma provoziert die Radikalisierung des islamischen Fundamentalismus, der „paradoxerweise nur um den Preis von eigenem Fundamentalismus im Denken möglich wird”, wie der Politikwissenschaftler Hartmut Elsenhans feststellt. Es gefährdet potenziell die Stabilität jeder Gesellschaft und muss zur Erodierung der Demokratie führen, selbst derjenigen Länder, die gegenwärtig in ihrer Handelsbilanz von dieser Politik profitieren — ohne nach den gesellschaftlichen Konsequenzen zu fragen. Die „Einbindung der Demokratie in die monetäre Logik” bedeutet — so der Politikwissenschaftler Wolfgang Fach, „die Abmeldung des Souveränitätsanspruchs des Volkes”. Es bedeutet — so der politische Publizist Johano Strasser — die „Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes.” Es opfert die Menschenrechte und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen dem Welthandel. Der „Angleichszwang unter Globalisierungsdruck” übersieht, so wiederum Elsenhans, dass die Fähigkeit zu selbst-bestimmter Politik eines staatlichen Gemeinwesens „die Voraussetzung erfolgreicher Teilhabe an der Globalisierung” ist. Dies gilt auch für die europäische Politik, die nach außen wie nach innen nicht mehr wie bisher ein Element des Washington-Konsenses sein darf, sondern eine Alternative. Nur dann kann sie, wie der österreichische Finanzwissenschaftler Egon Matzner herausgearbeitet hat, helfen. Der Absolutismus dieses Dogmas macht die „neue soziale Frage” für die Staaten in ihrer unverzichtbaren Rolle als Garanten sozialen Ausgleichs zu einem unlösbaren Problem. Es ist purer Ökonomismus — und der aussichtslose Versuch, die vielfältige und reiche Welt nach einem Muster zu formen. Es ist eine Beleidigung des politischen Verstands, nicht nur für die Dimension globaler, sondern auch europäischer Politik.

Es wird sich als historischer Irrtum erweisen — als untauglicher zweiter Versuch, nach dem Scheitern des Ostblocks, staatliche Gemeinwesen dem Diktat eines ökonomischen Prinzips zu unterstellen, in einem für alle verbindlichen internationalen Rahmen. Auch wenn das neue ökonomische Politikprinzip effektiver ist als das der Planwirtschaft, so ändert das nichts an seiner fehlenden Sensibilität für die Freiheit aller und den gesellschaftlichen Stellenwert der Demokratie. Die Durchsetzung dieses Prinzips er-folgte in der hybriden Vorstellung, dass die Demokratie in der Phase ihres politischen „Sieges” im Ost-West-Konflikt durch nichts mehr gefährdet werden könnte — und ohne Gegenwehr des demokratischen Parteien- und Institutionensystems, das sich allzu sehr in der Spezialisierung des Politischen verfangen hatte, politisch saturiert und prinzipieller Debatten längst entwöhnt war. Deshalb fiel auch kaum auf, dass der neue Marktökonomismus nicht nur demokratievergessen ist, sondern auch ideenvergessen sogar gegenüber den Theorien des Wirtschaftsliberalismus ist, auf die er sich beruft. Der klassische Wirtschaftsliberalismus hatte ein ethisches Anliegen, für das die Marktwirtschaft ein Instrument, aber nicht das Maß der Dinge ist. Adam Smith, der Gründervater des Wirtschaftsliberalismus, schrieb in Der Reichtum der Nationen: „What improved the circumstances of the greater part can never be regarded as an inconveniency to the whole. No society can surely be flourishing and happy, of which the far greater part of members are poor and miserable.” Der Marktökonomismus der Gegenwart ist demgegenüber ein darwinistisches Konstrukt.

Der allen anderen Fragen übergeordnete Marktökonomismus baut auf einer irrealen Utopie auf: der Möglichkeit einer relativ krisenfreien europäischen Wirtschaft und Weltwirtschaft, zumindest ihrer weitgehenden Fehllosigkeit. Wer unter den Protagonisten des uneingeschränkten EU-Binnenmarkts und der WTO mag heute noch daran erinnert werden, welche Versprechen zur Wohlstandesvermehrung aller sie gemacht haben, in konkreten Zahlen, als diese beiden Konstrukte aus der Taufe gehoben wurden — Versprechen, die allesamt nicht eingehalten wurden? Und was geschieht, wenn grundlegende Krisen der Weltwirtschaften — die schon auf Grund der nahenden Erschöpfung der Erdölvorkommen immer wahrscheinlicher werden — kommen und es dann den Verfassungsinstitutionen demokratischer Staaten verboten ist, Initiativen zu ergreifen, die diesem vertraglich fixierten Wirtschaftsdogma widersprechen? Soll es dann heißen: Wenn die Anliegen der Gesellschaft dem Dogma widersprechen, dann schade um die Gesellschaft?

Das Dogma der ökonomistischen Wettbewerbsgleichheit ist sogar ein wirtschaftlicher Anachronismus, schon weil es auf einer Verstetigungsmöglichkeit der gegenwärtigen fossilen Ressourcenbasis aller Volkswirtschaften aufbaut. Es rechnet nicht mit den wirtschaftlichen Folgen zunehmender Wasserkrisen, Flut- und Dürredebakeln und der Ermüdung der Böden als Folge menschengemachter Umweltkatastrophen. Alle diese Gefährdungen erfordern mehr statt weniger eigenstaatliche Initiativen, weil nicht auf einen Weltkonsens gewartet werden kann, der eine ausreichende Antwort auf diese Gefahren gibt. Alle notwendigen Antworten sind politische, die mit dem wirtschaftsliberalistischen Dogma nicht gegeben werden können.

Die Wieder­ein­füh­rung der parla­men­ta­ri­schen Demokratie

Über mehr als ein Jahrhundert hinweg war das Grundthema politischer Auseinandersetzungen — bezüglich der Frage der wirtschaftlichen Ordnung — das zwischen mehr Privat- oder mehr Staatswirtschaft, mehr Markt- oder mehr Planwirtschaft. In den westlichen Industrieländern pendelte sich eine Symbiose zwischen Demokratie und Marktwirtschaft ein, die dort ihre größte Gesellschaftsfähigkeit erhielt, wo eine soziale Marktwirtschaft entstand. Demokratie und Kapitalismus erschienen nicht nur miteinander vereinbar, sondern sogar als eine notwendige Symbiose. Joseph A. Schumpeter, einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, schrieb in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, dass sich die kapitalistische Gesellschaft, unter der Voraussetzung, dass das sie tragende Bürgertum die demokratische Ordnung akzeptierte – „in ihrem Zenit durchaus für die Aufgabe eignete, die Demokratie zum Erfolg zu führen”. Doch in zwei Beziehungen verliere der Kapitalismus „rapid die Vorteile, die er besaß”: wenn sich das „politische Leben fast ganz in einen Kampf von Interessengruppen” auflöst, und wenn Praktiken, „die nicht im Einklang mit dem Geist der demokratischen Methode stehen, so wichtig geworden sind, dass sie ihren modus operandi verzerren.” Genau das ist heute der Fall, und dieser Zustand ist auch noch vertraglich abgesichert. Es geht bei der hier angesprochenen Schlüsselfrage nicht um mehr Markt- oder Plan, mehr Privat-oder Staatswirtschaft und deren jeweiligen Vorrang, sondern längst um die Frage: demokratischer Verfassungsstaat oder universeller Liberalisierungsökonomismus.

Es muss in der Selbstbestimmung eines demokratischen Gemeinwesens liegen, unter welchen Umständen, nach welchen Kriterien, in welchen Differenzierungen es seine wirtschaftlichen Verhältnisse gestaltet: ob alles privatisiert oder alles verstaatlicht wird, ob alles dereguliert oder was alles reguliert werden soll, welche Dienstleistungen öffentlich und welche privat sind, welche Wirtschaftstätigkeiten zu fördern und zu schützen sind und welche nicht, und welche Umweltschutz- und Agrarinitiativen über internationale Abkommen hinaus ergriffen werden. Die Abwägung, was einem Gemeinwesen schadet oder nutzt, was falsch oder richtig ist, muss einer freien — und demokratisch korrigierbaren — Mehrheitsentscheidung überlassen bleiben. Die politischen Institutionen eines Staates müssen ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund der gegebenen internen und äußeren Verhältnisse treffen. Zudem stehen alle vor der Aufgabe, internationale Verträge zu entwickeln, die sicherstellen, dass die freie Selbstbestimmung eines Gemeinwesens nicht zu Lasten anderer geht.

Die Kernforderung, die sich daraus ergibt, mag ungewöhnlich (oder polemisch) klingen; sie ist aber eine — vielleicht die einzige — die derzeit in allen Ländern der Welt mehrheitsfähig ist: Die Wiedereinführung der parlamentarischen, gewaltengeteilten Demokratie! Die demokratische Verfassung als politisches Grundsatzprogramm! Diese Forderung begründet sich daraus, dass die Demokratie nicht ein ästhetisches Anliegen für die Gesellschaft, sondern eben Grundlage der Politik ist, und keinesfalls ein aus-tauschbares Instrument. Mit welchen Inhalten die Demokratie gefüllt wird, und welche Instrumente dafür gewählt werden, darf und muss nicht vorgeschrieben werden. Die politische Konsequenz ist, die europäische und die globale Politik vom dogmatischen Kopf auf die praktischen Füße zu stellen, und natürlich auch die innerstaatliche.

Neue Risiken im 21. Jahrhundert

Nur die Wiederherstellung der Selbstbestimmung der Gemeinwesen in den weitläufigen Fragen der Organisierung ihrer wirtschaftlichen Existenzsicherung wird es möglich machen, dass Paradoxon zu überwinden, das zu dem sozialen Jahrhundertthema wird: dass der fortschreitenden wissenschaftlich technischen Produktivitätsrevolution eine wach-sende Weltbevölkerung gegenübersteht, so dass zur Befriedigung der Waren- und Dienstleistungsbedürfnisse der Gesamtheit der Menschen immer weniger Erwerbstätige gebraucht werden. Diese Entwicklung untergräbt unaufhaltsam alle sozialen Sicherungssysteme der Gesellschaften und erfordert eine grundlegende Neuorientierung der politischen und sozialen Ordnungssysteme und ihrer Finanzierungsformen. Andernfalls sind soziale und politische Stabilität immer weniger zu gewährleisten. Was wird aus den Gesellschaften, wenn die totale Ausnutzung des technischen Fortschritts — in der Herbert Marcuse in den 1960er Jahren über optimistisch die Chance zur individuellen „Selbstbestimmung gerade an der Basis der menschlichen Existenz, nämlich in der Dimension notwendiger Arbeit” sah, und damit die zur „radikalsten und vollständigsten Revolution in der Geschichte” — unter den Bedingungen einer sich weiter globalisierenden Unternehmenswirtschaft erfolgt; einer Wirtschaftsform, die tendenziell immer weniger und zugleich schlechter bezahlte Arbeit anbietet und eine ständig wachsende Zahl von Menschen in die Arbeitslosigkeit entlässt. Wie kann erreicht werden, dass dennoch alle Menschen am Mehrprodukt beteiligt werden?

Da ein globales Besteuerungssystem kaum zu realisieren ist, führt an einer grundlegenden Neuausrichtung wirtschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen auf staatlicher Ebene kein Weg vorbei, um eine soziale Balance herstellen und finanzieren zu können. Zum Beispiel durch die Besteuerung aller Waren- und Kapitalströme, oder ein durchgängiges System von nach sozialen und ökologischen Kriterien gestaffelten Verbrauchssteuern und der Besteuerung des Naturverbrauchs; durch die Definition elementarer sozialer Grundbedürfnisse, die Differenzierung nach monetären und nicht monetären sozialen Staatsleistungen und deren regionale Differenzierung. Durch die Neudefinition des öffentlichen Sektors in Bezug auf unumgängliche soziale Dienstleistungen. Durch eine gesellschaftliche Aufwertung und Bewertung ehrenamtlicher Arbeit, und durch öffentliche Arbeitsangebote außerhalb der Marktprozesse. Durch nach wirtschaftlichen und sozialen Kriterien differenzierte Kreditsysteme und vieles mehr. Wie auch immer: Die Staatsbedürftigkeit der Allgemeinheit wird zu- und nicht abnehmen. Es gibt überflüssig gewordene Staatsleistungen, und es wird dafür neue andere geben müssen — etwa öffentliche Saatgutbanken zur Sicherung und Revitalisierung des Naturerbes.

Die Wieder­be­le­bung der demokra­ti­schen Wurzeln

Die demokratische Verfassung, besonders die des deutschen Grundgesetzes, muss nicht geändert werden. Sie muss nur immer wieder mit den von den neuen Herausforderungen gebotenen Inhalten der Politik gefüllt werden. Die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte können insbesondere jedes sozialdemokratische Grundsatzprogramm schmücken. Sie sind bereits ein solches Programm, worauf Anfang der 1960er Jahre der SPD-Politiker Adolf Arndt in Zusammenhang mit dem Godesberger Programm der SPD von 1959 hinwies: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit sie nicht die Rechte anderer verletzt. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das Eigentum, das zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Die Sozialstaatsverpflichtung. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Verantwortung für die künftigen Generationen. Die Rolle der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Die Rolle der Parteien in der politischen Willensbildung des Volkes. Und dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, in Wahlen und Abstimmungen, also auch durch Volksabstimmungen.

Das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes ist keines der Gleichheit der sozialen Resultate. Es beschränkt die individuelle Freiheit, wenn sie zu Lasten anderer und des Gemeinwohls geht. Das entspricht den Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Beschränkung, wie sie von der SPD programmatisch – und als Quintessenz der Ideengeschichte der Aufklärung – formuliert worden sind; und die auch zu Grundwerten der Union und später der Grünen wurden. Die Balance zwischen diesen Werten muss immer wieder austariert werden. Diese ethischen Grundsätze sind mehrheitsfähig. Keine Partei, kein Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien würde sie explizit in Frage stellen. Und dennoch könnte keiner ernsthaft behaupten, dass sie nicht schon verlassen worden wären. Das Ethos war nicht so ausgeprägt, um zu verhindern, dass essentielle Elemente der Staatsgewalt der Wahl durch das Volk und dem Parlament entzogen wurden. Würde in der Verfassung explizit stehen, worüber im einzelnen alles schon nicht mehr frei entschieden werden kann; würde die demokratische Verfassung an die alle Staatsgewalt überwölbenden EU Binnenmarktregeln und WTO-Bestimmungen angepasst werden, indem explizit nieder-geschrieben wird, wo Volkes Wille nicht mehr gilt und ihre gewählten Vertreter nichts mehr zu sagen haben: Allen würden die Schuppen von den Augen fallen, dass das Programm der Verfassung – und damit eine freiheitlich-sozialdemokratische Politik so nicht mehr zu realisieren ist.

* Dieser Beitrag ist ein geringfügig modifizierter Ausschnitt aus dem

Schlusskapitel „Maxima Politica” Die Ideale politischen Handelns aus dem Buch Die Politiker von Hermann Scheer (München
2003). Auf diesem Text basierte sein Eröffnungsreferat auf der Jahrestagung der GUSTAV
HEINEMANN-INITIATIVE am 14. Mai 2004 in Berlin.

nach oben