Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 166: Nord-Süd-Konflikt oder Eine Welt? Facetten der Entwicklungspolitik

Kritische Gesell­schafts­the­orie, einfach gewendet

Nancy Fraser und Axel Honneth streiten über Umverteilung und Anerkennung

aus: Vorgänge Nr. 166 ( Heft 2/2004 ), S. 106-108

Man sollte meinen, es gebe in Zeiten der Globalisierung, der neuen Konfliktformen und -formationen anhand kultureller, religiöser, ethnischer oder sonstiger Bruchstellen, den Rezessionstendenzen in der Wirtschaft, dem prekären Sozialstaat und dem Auseinanderdriften von Reich und Arm in den westlichen Gesellschaften dringlicheres als eine Debatte darüber, ob Anerkennung und Umverteilung zweidimensional oder monistisch zu verstehen sind. Schnell drängt sich der Verdacht auf, hier werde eine Frage von der Relevanz scholastischer Dispute verhandelt. Dieser Eindruck jedoch täuscht, denn tatsächlich werden zentrale Fragen von Gerechtigkeit einer tiefgehenden Erörterung unterworfen. Doch was ist der Ertrag einer Debatte, wie sie Nancy Fraser, Professorin an der New School University in New York, und Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, so publikumswirksam mit zwei ausführlichen Expositionen, einer Erwiderung und einer Entgegnung zelebrieren?

Nancy FraserlAxel Honneth: Umverteilung
oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003; 306 S., ISBN 3-518-29060-6; 13,- Euro

Honneth und Fraser sehen sich beide der kritischen Gesellschaftstheorie verpflichtet. Diese hat durch die Arbeiten von Charles Taylor und Axel Honneth, die den Hegelschen Begriff der Anerkennung interpretiert haben, eine neue Dimension gewonnen; Honneth selbst spricht von einer „anerkennungstheoretischen Wende” (132) der Marx’schen Theorietradition. Doch worum geht es bei der Anerkennung? Schauen wir zunächst auf die Auskunft, die wir von Nancy Fraser erhalten. Anders als die Forderung nach Umverteilung, die sich aus unterschiedlichen ökonomischen Lagen ergibt, zielt der Begriff der Anerkennung ihr zufolge zunächst auf die Beseitigung diskriminierender Statusdifferenzen die sich an Geschlecht, ethnischer Herkunft oder sexueller Präferenz festmachen. Anerkennung bedeutet in ihrer allgemeinen Formulierung die Absage an eine Art von kultureller Dominanz jedweder Art und eine Befürwortung von Differenz, Andersheit, kultureller Pluralität. Anerkennung heißt darüber hinaus, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Identität auszubilden und zu leben: sei es in ihrer sexuellen Präferenz, sei es in ihren kulturellen Gebräuchen (sicherlich durchaus innerhalb vernünftiger Grenzen), sei es in der Unterschiedlichkeit der Geschlechterrollen. Anders formuliert: die Tatsache, dass man eine bestimmte Hautfarbe, sexuelle Vorliebe, ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte
kulturelle Prägung hat, darf nicht dazu führen, ausgegrenzt, marginalisiert oder institutionell benachteiligt zu werden. Fraser fasst den Begriff der Anerkennung in dieser einfachen Form auf. Ihr geht es vor allem um identifizierbare gesellschaftliche Gruppen, die ihre Forderung nach Anerkennung politisch formulieren. Dem zur Seite stellt sie die traditionelle Forderung nach Umverteilung. Sie vertritt einen perspektivischen Dualismus, in dem beide Forderungen zusammenwirken, um dem normativen Leitbild partizipatorischer Parität näherzukommen.

Honneth hingegen fasst Umverteilung als einen Unterfall von Anerkennung auf. Für ihn ist der Begriff der Anerkennung das angemessene Mittel, „um soziale Unrechtserfahrungen im ganzen kategorial zu entschlüsseln” (157). Er verlagert die Ursprünge des Wunsches nach Anerkennung zurück in die individuellen Erfahrungen sozialen Unrechts, die eben noch nicht in Form öffentlich sich artikulierender Interessen auftreten. Für Honneth ist die Anerkennungsbegrifflichkeit umfassend, vor politisch, an die Fähigkeit der Individuen gebunden, normativ zu urteilen – sei es in der Erfahrung ökonomischer Ungleichheit oder anderer Formen von Diskriminierung. Soziale Demütigung, Missachtung, also soziale Unrechtserfahrungen im Alltag, all dies ist Ausfluss mangelnder Anerkennung, damit aber letztlich auch beschädigter Identität. Honneth verknüpft seine Überlegungen mit einem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, die an einen „hypothetisch generalisierten Entwurf des guten Lebens” (213) zurück gebunden ist.

Normativer Fluchtpunkt bei Fraser ist dagegen die Idee „partizipatorischer Realität”, wonach aus Gründen der Gerechtigkeit solche gesellschaftlichen Vorkehrungen gemeint sind, „die allen (erwachsenen) Gesellschaftsmitgliedern erlauben, miteinander als Ebenbürtige zu verkehren.” (54f.) Beiden, Fraser wie Honneth, geht es um die Bedingungen der Möglichkeit erfolgreicher sozialer Integration. Fraser sieht diese gelungen, wenn die institutionellen Bedingungen partizipatorische Parität ermöglichen; Honneth dann, wenn eine unbeschädigte Identitätsbildung möglich ist.

Honneth expliziert die Anerkennungsbegrifflichkeit weiter; sie ist für ihn keine historische Konstante, sondern an unterschiedliche historische Anerkennungsregime gebunden. In der bürgerlichen Gesellschaft haben sich drei Anerkennungssphären herausdifferenziert: Liebe als Prinzip wechselseitiger Zuneigung und Fürsorge, das Recht als Anerkennung der Gleichheit jedes Einzelnen unabhängig vom Status, schließlich die Leistung als Begründung ungleichen sozialen Status (wenngleich auch sozialstaatlich eingehegt). Honneth setzt seine Hoffnung auf Veränderung in einen Geltungsüberhang der Anerkennungssphären, der dann gewissermaßen die Verhältnisse zum Tanzen bringen soll, Fraser setzt auf eine „nichtreformistische Reform”, mit der affirmative Anerkennungs- und Umverteilungsformen letztlich auf den Bezugsrahmen (die kapitalistische Gesellschaft) durchschlagen und diese transformieren.

Worin liegt nun die entscheidende Differenz der beiden Ansätze? Bei aller Beteuerung, sich dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie, ja der Repristination kritischer Theorie unter postmodernen, postfordistischen Bedingungen zu verschreiben, werden doch unterschiedliche Politikerfahrungen deutlich. Europa (vor allem Deutschland) ist eben auch ein politischer Raum, in dem selbst die Sozialdemokratie nicht mehr das ist, was sei einstmals zu versprechen vorgab; und die USA ist eine Gesellschaft, in der ein sozialdemokratische Politik nie eine ernsthafte Chance auf Verwirklichung hatte. So spiegelt sich bei Fraser die Sehnsucht nach einem sozialdemokratischen Projekt, versetzt mit dem dernier cri multikulturalistischer und dekonstruktivistischer Diskurse, ein Vertrauen auf institutionelle Arrangements bei der Verfolgung von mehr Gerechtigkeit. Ihr politischer Ansatz ist geprägt von einer Ideologie der Machbarkeit und einer Abwehrhaltung gegen eine rein kulturalistische Betrachtung, in der selbst ökonomische Unterschiede auf weiche, kulturelle Faktoren zurückgeführt werden (können). Honneths Ansatz ist schon durch die Desillusionierung sozial technologischer Arrangements gekennzeichnet; er gräbt tiefer, verbindet Gesellschaftsanalyse und die Dynamik psychologischer Anerkennungserfordernisse, sodass es letztlich gar keines institutionellen Akteurs mehr bedarf, an den Gerechtigkeitsforderungen zu stellen wären: das Überbordende der Anerkennungssphären (die in ihrer spezifischen Ausdifferenzierung einen historischen Fortschritt darstellen) wird die Sache der historischen Vernunft schon expedieren.

So wenig aber Honneth das Entstehen der Anerkennungssphären im Kapitalismus aus den anders gelagerten Anerkennungssphären des Feudalismus oder Absolutismus erklären kann, so wenig überzeugend fällt auch die Hoffnung auf eine systemtranszendierende Kraft des Bedeutungsüberschusses jener Anerkennungssphären aus, die dem Kapitalismus eigentümlich sind. Völlig ausgeblendet bleibt jene Dimension, die schon bei der frühen kritischen Theorie wenig, bei den späteren Frankfurtern kaum, und nach der dialogischen Wen-de der kritischen Theorie bzw. der Anerkennungswende gar nicht mehr thematisiert ist: die der materiellen Basis, der — in der Marxschen Terminologie – Entwicklung der Produktivkräfte, oder, weniger anstößig, der Frage, inwieweit Technologie gesellschaftliche Veränderungen erzwingt, bedingt, formt und gestaltet. Honneth stellt mit Hegel Marx aufden Kopf. Was dabei entsteht, mag zwar gute Theorie sein, hat aber mit den Kräften, die gesellschaftlichen Wandel gestalten, kaum etwas zu tun: die Theorie steht mit beiden Beinen in den Wolken. Fraser lässt zwar anklingen, dass ein Impetus ihrer Überlegungen sei, wie sich unter Bedingungen technologischen Wandels und der Globalisierung Gerechtigkeit formulieren lassen, verbleibt aber letztlich einer sozial technologischen Transformationsstrategie verhaftet, die die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben könnte. Was aber, wenn sich technologische Prozesse der Steuerung entziehen? Was, wenn die Hoffnung nur noch darin bestünde, zu bremsen, zu verlangsamen, umzuleiten? Woher kommt denn eigentlich der Optimismus sowohl bei Fraser als auch bei Honneth, dass gerade die technologischen Imperative so einfach mit den kategorialen Bestimmungen von Gerechtigkeit vereinbar wären? Vor solchen Fragestellungen wirkt die Debatte von Fraser und Honneth wie ein Idyll theoretischer Beschaulichkeit, ein schöner Gedanke, von dem man befürchtet, ihm werde alsbald von einer Bande brutaler Fakten der Garaus gemacht. Der völlige Verzicht auf die Diskussion einer materiellen Basis, das Vertrauen in das Parktischwerden und die Entfaltung des Begriffs (Honneth) bzw. die faktische Kraft des Normativen (Fraser): ist es das, was einer kritischen Theorie noch bleibt? Wenn ja, dann würde sie vermutlich das Schicksal ihrer Vorgänger teilen: intellektuell anregend, auf höchstem Niveau, nur recht unbrauchbar für die Praxis.

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