Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 183: Die öffentliche Familie

Angst essen Seele auf

Wie Kinder mit elterlichen Beziehungsproblemen, Erwartungen und Ängsten überfrachtet werden;

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 104-110

Die moderne Kleinfamilie findet in der sozialen Welt wenig Schutz. Das bindet sie emotional enger aneinander, als es in den vorausgegangenen Jahrhunderten der Fall war. Keine moralische soziale Norm stützt sie, kaum ein Verwandtschaftsverbund, der in Krisen einspringt, kaum verlässliche soziale Gemeinschaften, die für alle Familienmitglieder in gleicher Weise bindend sind und den familiären Zusammenhalt festigen. Familiennachmittage am Sonntag sind in aller Regel „einsame“ Veranstaltungen, die Kleinfamilie bleibt unter sich. Viele Kinder haben an den Wochenenden Mühe, sich mit einem Freund zu verabreden, die Familie wird von Mama oder Papa abgeschirmt. Kaum ein Zusammenspiel von familiären „Innen“ und sozialem „Außen“, auf diese Weise bleibt das „Außen“ – Familien der Freunde, der Berufskollegen, sogar der Verwandtschaft – immer ein wenig fremd, ja, es wird zunehmend als eine potentielle Bedrohung empfunden, der gegenüber eine Familie sich zusammenschließt. Zugleich fließen die medialen Botschaften, die Perfektionsbilder und Glücksversprechungen, die über digitale Medien oder TV transportiert werden, nahezu uneingeschränkt in den familiären „Innenraum“.

Moderne Familien sind Bindungsgemeinschaften, Gefühlsgemeinschaften. Sie sind eng aufeinander bezogen, sozial relativ isoliert, zugleich von einem vielfältig vermittelten (und für den je Einzelnen kaum durchschaubaren) „gesellschaftlichem Ganzen“ abhängig. Diese Bindungsgemeinschaft auf engem Raum ist vielfältig störbar – vgl. dazu II – eine der fortwährenden und fortwährend verdrängten Bedrohungen kommt von einer anonymisierten und wenig durchschaubaren Außenwelt und ihren Abhängigkeiten auf die Familien zu. Je enger das emotionale Feld der Familie, desto intensiver werden solche äußeren Faktoren empfunden und gefürchtet.

I.

Stichwort Bindungsgemeinschaft. Vor dem Hintergrund einer radikal individualisierenden gesellschaftlichen Kultur sind emotionale Bindungen störungsanfälliger denn je. Frau und Mann sind aufgewachsen in einer egozentrierten Bedürfnis-Kultur. Erfüllt der „Partner“ meine jeweiligen Bedürftigkeiten nicht, dann gibt es im Rahmen dieser egozentrierten Ordnungen eigentlich überhaupt keinen Grund, dass ich mit ihm zusammenbleibe. Solche selbstbezogenen Gefühle sind kaum mit einer soziale „Einrichtung“ zu verbinden. Zumal Familie auch gegenläufige Bedürftigkeiten in sich trägt. Dauer und Stabilität versprechen sich junge Eheleute von ihrer gemeinsamen Leben. Weil dieses Versprechen aber eine so unfertige seelische Basis bei beiden Eheleuten hat, auseinander treibende Ich-Befindlichkeiten fortwährend ausgleichen muss, eben deshalb leisten junge Paare ihre Eheversprechen gern im Zusammenhang mit aufwendigen Inszenierungen, zu denen nicht zuletzt der Gang in die Kirche zählt. Was Gott gefügt hat, soll der Mensch nicht trennen sagt der Pfarrer, aber die jungen Brautleute können sich unter der mystisch-christlichen „Einheit der Leiber und der Seelen“ wenig vorstellen, und ich habe oft den Verdacht, dass der Pfarrer auch nicht genau weiß, wovon die Rede ist.

Die emotionale Formulierung für Stabilität heißt Treue. Sie scheint bei jungen Menschen wieder ein hoher Wert zu werden – aber lebbar ist sie in einer medial stimulierten, hoch individualisierten Kultur kaum. „Ich werde dich immer lieben“ war seit je ein gefühlsmäßig überhitzter Satz und entsprach nie der psychischen Realität, aber solche seelischen Unsicherheiten wurden für viele Generationen von sozialer Moral und Kontrolle und einer gewissensgebundenen Verinnerlichung dieser Normen gestützt. Heute gelten Normen, die keinen individualisierenden Charakter haben, nur wenig. Mit ihrer Hilfe werden Bedürftigkeiten ausgedrückt, die tatsächlich eine Sehnsucht nach Bindung und Sicherheit – am besten „bis der Tod uns scheidet“ – erkennen lassen, aber wenig seelische Voraussetzungen dafür, sie auch zu leben. „Du liebst mich nicht mehr“, heißt zunehmend: du erfüllst meine Bedürfnisse nicht. Und was Bedürfnisse sind, lernen Frau und Mann in eindringlicher und äußerst wechselhafter Weise tagtäglich aus Medien mit intensiven Glücksversprechungen.

Die medial-digitale Kultur in globalem Zuschnitt hat eine Bedürfniswelt erschaffen, in der sich das egozentrierte „Selbst“ eines jungen modernen Menschen in vielfältiger, teils widersprüchlicher Weise spiegelt, und alles nennt er „Ich“ und jedes Glücksversprechen, von den digitalen Frauenbildern in der „Brigitte“ bis zu den ebenfalls digitalen Porno-Bildern auf zahllosen Webseiten, ist dazu geeignet, als „mein Bedürfnis“ anerkannt zu werden. Solche zerrissene Bedürftigkeit in einem Selbst, das zunehmend Züge einer Biographie mit selbstreflexivem Zugang verliert, und sich gleichsam als eine Art „Egoismus fast ohne Ego“ darstellt, ist als Grundlage einer Bindungs- und Gefühlsgemeinschaft denkbar ungeeignet. Schon angesichts solcher groben Skizzierungen der psychosozialen Verfassung moderner Familien wundert es, dass überhaupt so viele Beziehungen stabil bleiben oder mindestens aufrechterhalten werden.

Diese Zerrissenheit wird als Not empfunden, auf die es zwei typische Reaktionen gibt, die eine ist das oft genannte „Cocooning“, das Ineinander-Glucken, dessen künstlich selbstbehauptender Charakter allerdings in Paartherapien häufig dann erkennbar wird, wenn sich nach Jahren innigen und die Welt ausgrenzenden Zusammenseins bei relativ leichten Störungen eine kaum mehr überwindbare Distanz zwischen Mann und Frau zeigt, eine abrupte, oft böse Aggressivität, die in ihrer unversöhnlichen Dynamik auf die Vielzahl verdrängter und abgespaltener Kränkungen verweist. Ein weniger in wechselseitig verdichtete Bestätigungsszenarien eingebundene Paarbeziehung hätte an jeder einzelnen dieser Frustrationen, die im Verlauf einer Beziehung unvermeidlich sind, nicht scheitern müssen – der suggestiv selbstbehauptende Charakter, von Ängsten durchzogen, macht eine der Vernunft zugängliche Aufarbeitung der Gefühle oft unmöglich.

Hier zeigt sich ein Dilemma der Familie, in der zum einen die fließenden Außenbindungen kaum mehr gelingen – oft nur über eine Weiterführung der jeweiligen beruflichen Einbindungen, in denen aber immer einer der beiden „außen vor bleibt“ – und zum anderen ein auf Bedürfnisbefriedigung in einem nichtaufschiebbaren Sinn gepoltes Selbst, das jede Frustration als Bedrohung seiner Integrität erlebt und insofern kaum in der Lage ist, Kränkungen auszugleichen oder zu „bearbeiten“, zum dritten die ganz auf solche instabile Gefühlsbindungen angelegte soziale Struktur – das ist das seelische Dilemma moderner Kleinfamilien.

II.

Kinder sind das einzig mögliche „Dritte“, das über Mann-Ego und Frau-Ego hinausreicht. Kinder rücken damit in einer historisch wohl einzigartigen Weise in das Zentrum der modernen Familie. Die Kinder sind Bestätigung einer Gemeinsamkeit, die ansonsten in ihrer inneren Dynamik höchst fragil ist. Damit unterliegt die Beziehung zum Kind der Gefahr der „Idealisierung“, die wiederum von der Realität abgegrenzt, vor einer äußeren Welt fortwährend geschützt werden muss. So entsteht ein typisches Mutter-Vater-Kind Verhältnis, indem beide Eltern eifersüchtig auf die „Einzigartigkeit“, die Besonderheit ihres Kindes im Vergleich und in Rivalität zu allen anderen Kindern achten, die kleinen Begabungen oder vermeintlichen Talente eines Kindes auf Biegen und Brechen fördern, insgesamt das „Dritte“ hochnarzisstisch besetzen, mit der ganzen unbewussten Dynamik des Ausgleichs zahlloser kleiner alltäglicher Beschränkungen. Das Kind muss, schlicht gesagt, ein ganz tolles Kind sein.

Kinder lernen zunehmend zu rivalisieren, bevor sie sich ganz als ein soziales Wesen erlebt haben. Sie werden in vorgeschriebene Lernmuster gedrängt, bevor sie ihren eigenen Charakter von Selbst- und Welterfahrung im komplexen Zusammenfluss erfahren konnten. Kinder stehen unter einem Bestätigungszwang, der ihre seelische Entwicklung im Kleinkindalter auf traumatische Weise stören würde, wenn sie die narzisstisch geprägten Idealisierungen der Eltern nicht früh verinnerlichen würden. Damit haben wir, ohne dies an dieser Stelle en detail ausführen zu wollen, eine der wichtigsten Ursachen für eine ganze Reihe von weitgehenden seelischen und kommunikativen Prägungen und deren Folgen, die gegenwärtig die hoch problematisierten Veränderungen moderner Kinder im Vergleich zu früheren Generationen prägen.

III.

Beispiel: Neben mir im Restaurant eine Familie, junge Eltern, das Kind ist ca. ein Jahr alt und hockt vergnügt quietschend auf seinem hohen Kinderstuhl. Die Eltern sind um das Kleine bemüht, eigentlich ein schönes Bild. Beide beugen sich immer wieder zu ihm herüber, Mama zupft hier und da ein Lätzchen oder einen Kragen zurecht, Papa kaspert mit einem Spielzeugauto auf dem Tisch herum und versucht das Interesse seines Kindes auf sich zu ziehen. Was befremdet trotzdem an diesem recht erbaulichen Bild? Ich brauche eine Weile, bis es mir auffällt: die beiden schauen sich nie an. Nicht ein einziges Mal hat sich ihr Blick, eifrig zu dem Kind hingebeugt, bewusst berührt; war das Anschauen unvermeidlich, wirkten die Blicke beider eher gleichgültig, ganz auf das Kind gepolt. Das Kleine im Mittelpunkt, bei jeder geringsten Äußerung, dem kleinsten Strampeln oder Mäkeln wird es von einem der Eltern hochgenommen oder ihm wird Essbares in den Mund geschoben oder Papa kaspert. Währenddessen scheint es so, als seien der Mann für die Frau und die Frau für den Mann beinahe abwesend.

Für das Kind ist diese Überfocussierung nicht gut: nicht eine Bewegung, nicht ein Geräusch kann es unbeobachtet von sich geben, kann nicht sich selber und seinen vergnügten und missmutigen Lauten nachlauschen, um mit sich und seinen Äußerungen vertraut zu werden – viel zu schnell wird ihm die „Interpretation“ seines Befindlichkeitssignals von Mama oder Papa abgenommen: durch eifriges Reagieren, meist von beiden gleichzeitig. Das Kleine verzieht das Mündchen, was will es damit bedeuten? Ein Fläschchen wird beschwichtigend in den Mund geschoben, Papa macht laut „brumm…brumm“. Vermutlich wusste das einjährige Kind selber nicht, was es mit diesem oder jenem Laut, diesem oder jenem heftigen Körpersignal oder mit seinen fuchtelnden kleinen Händen zum Ausdruck bringen wollte. Kinder lernen aus ihren eigenen Körpergesten und Sprachlauten sich selber zu entziffern, schon wissen die Eltern vor ihm Bescheid und reagieren – wenn es das Wort denn gäbe – „überfeinfühlig“. Immer in Hast, immer ausgleichend, beschwichtigend. Die Kanten seiner Emotionen, Tiefe und Höhe seiner Freude und seines Missmutes lernt das Kind nur abgemildert kennen. Mama war schon vorher da. Überversorgt gluckst das Kleine, wird fahrig, irgendwann beginnt es zu weinen und die Eltern schauen einander an, ratlos, ein wenig hilfesuchend und einer gegen den anderen vorwurfsvoll („Was hast du wieder falsch gemacht“).

Der elterlichen Fürsorge ist die Angst davor anzumerken, dass die Bindung zum Kind und damit die Bindung der kleinen Gemeinschaft insgesamt, gestört und ver-stört sein könnte. Sie haben in ihrer familiären Gemeinsamkeit keinen anderen unbezweifelbaren Halt als das Kind. Es ist die Basis ihrer geringfügigen Kontakte, ihrer schwachen wechselhaften Gefühle, Grundlage allen Kommunizierens und Sprechens. Offenbar werden noch sehr erwachsene Wünsche immer wieder auf das Kind – „ist ein Einkauf gut für das Kind, brauchen wir ein Auto, aber nur eines, das kindgerecht ist, sollten wir miteinander schlafen, solange das Kind im elterlichen Schlafzimmer ist“ – projiziert, im Spiegel seines vermuteten Wohlergehens wird das gesamte Eheleben durchforscht und eingerichtet.

Den Eltern in solchen kollusiven Familien fehlt ein gutes Stück Autonomie. Zu viele Bedürftigkeiten sind offenkundig aufgegeben worden – für das Kind! – und viel zu viele wurden nie gelebt, mindestens nicht ganz zu Ende erlebt. Niemals sind diese jungen Paare ganz angefüllt mir ihren erwachsenen Begierden und Befriedigungen, überall wartet – und lauert! – das Kind, wie ein Menetekel. Alles wird vom Kind mit seiner lauten Präsenz zur Seite gerückt, und beide Elternteile haben ihm offenbar bereitwillig nachgegeben. Ja, das Kind ist unser Band, dann erst kommen die Gefühle, die wir zueinander haben oder mindestens hatten, vielleicht auch nur erhofften oder vom je anderen erwarteten. Das Kind erst integriert die Individualisierungsbestrebungen der Eltern, die sich mit dem Charakter einer Paarbeziehung und einer Familie stets reiben, in ein familiäres Ganzes. So wird das je Individuelle zur Seite geschoben, es gefährdet die fragile Gemeinschaft ja nur, irgendwann zählt zuerst das Kind, dann die Sorgen um das Kind, dann seine Zukunft. Ganz zuletzt erst sind der Vater als Mann und die Mutter als Frau gemeint.

Nein, für das Kind ist das nicht gut. Kaum ist es groß genug, einen Kindergarten zu besuchen und in Kontakt mit anderen Kindern zu treten – ein gewaltiges Abenteuer, in dem sich das kleine Selbst ausweitet auf die Begegnung mit anderen, anderen Willen, anderen Eigenarten, insgesamt auf die Widerständigkeit der realen Welt, die es in seiner Verwöhnung bislang nur äußerst gemildert zur Kenntnis genommen hat, indem die Begegnung und Ungewissheit der „Anderen“, ihrer Zuwendung und Abneigung, bedeutungsvoll werden – kurzum, kaum beginnt es sein soziales Leben, da drängt sich das an seine kleine Existenz gehängte Selbst von Mama und Papa wieder auf. Ohne ihr Kind sind sie ja fast haltlos, weitgehend bindungsleer. Das Kind darf ihr um das Kleine kreisendes Selbst also auf keinen Fall enttäuschen! Die Lern- und Förderpädagogik, die heute schon das Kindergarten-Leben der Kleinsten durchzieht, tut ein Weiteres: Wächst mein Kind schnell genug heran, bewegt es sich feinmotorisch korrekt, nimmt seine Sprachentwicklung einen normalen Verlauf – solche Fragen dringen geradezu unvermittelt in das Selbstgefühl der Eltern ein. Welch eine Erschütterung, wenn das Kind zurückbleibt, die Norm nicht erfüllt, das Bindungsgefüge der Familie ist sogleich in Gefahr.

Zum permanenten Rivalisieren der Mütter mit anderen Müttern, der Väter untereinander und schließlich auch der Kinder untereinander ist es danach nur ein winziger Schritt: Schau nur, Margo schreibt schon das F, warum du erst das B, und warum so unbeholfen. Schau doch nur, der kleine Robert ist auch schon beim F, und er ist doch drei Monate jünger als du! Die Kinder haben eine eigene Sozialität noch gar nicht entfaltet, ihr erwachendes Ich mit Sprache und Berührung, mit Zuneigung und Streit noch gar nicht erworben, da werden sie bereits um Stützung des schwachen Eltern-Selbst ersucht. Sie rivalisieren also, bemühen sich, und haben kaum eine Chance, ihre Mühen der Entwicklung und ihren Eifer auf die Kinder-Gemeinsamkeiten zu beziehen. In dieser Rivalität werden sie seelisch so einsam wie Mama und Papa.

„Little Giants“ heißt die derzeit erfolgreichste Gründung von privaten Kindergärten, sie sind überlaufen und ein erstklassiges Geschäft. Reihenweise werden Kleinkinder Therapeuten oder Psychiatern vorgestellt, um sie anhand einer Normtabelle kindlicher Entwicklungen überprüfen, ihre seelische Stabilität messen, ihre Begabungen gezielt auf Förderung einstellen zu lassen. In privaten Kindergärten lernen Zweieinhalbjährige Chinesisch, sie sollen doch dem globalen Marktgeschehen gewachsen sein. Die neurobiologische Kaffeesatz-Leserei vom „Zeitfenstern“, die sich öffnen und schließen, versetzen Eltern in Panik: was, wenn wir eines der Fenster versäumen? Unsere Schuld wäre nicht mehr abzugleichen!

So vergleichen sie ihre Kinder und die Kinder sich untereinander von Begabung und Lernfortschritt bis zur Kleidung, sogar ein Wettstreit um das am gesündesten ernährte Kind ist in Kindergärten zu beobachten. Die Schwächen des elterlichen Selbstbewusstseins schlagen manchmal unfassbare Kapriolen. Jeder Familientherapeut kann davon und von den unheilvollen Folgen berichten – von den frühkindlichen Ängsten, die nie durch eine emotional verankerte, sondern viel zu früh geförderte, weitgehend nur- instrumentalen Sprache besänftigt, nie durch ungelenkte Körperkontakte, Raufereien und Sich-Vertragen, Niederlagen und Siege gemildert wurden. Sie brechen in Krisenzeiten auf, unbeschwichtigt, und Krisen ereilen moderne Kinder fast unvermeidlich, spätestens, wenn sie in die Grundschule gehen und deren Leistungsparameter und ihren Selektionswahn beängstigend zu spüren bekommen – ich schaffe die Gymnasialempfehlung nicht, vielleicht bin ich kein liebenswertes Kind, Mama ist verstört, Papa ist traurig, die beiden streiten, alles ist meine Schuld. Das sind ihre drängenden Ängste und sie lernen und üben, pauken und strengen sich an und versagen unvermeidlich im nächsten Test: jeder Familientherapeut kennt diese fatale Dynamik, die zu einem großen Anteil die zunehmende Unruhe und Depressionsneigungen der Grundschüler erklärt.

IV.

Abstiegsängste intensivieren diese im isolierten Charakter der modernen Kleinfamilien begründete Neigung zu Unsicherheit, Unruhe und Selbstentwertung, der Kinder ebenso wie der Eltern. Die moderne Familie ist angesichts ihrer Isolation in hohem Maße abhängig von äußeren Einflüssen, denen der Schule und des „Ansehens“ der Kinder, denen der medialen Botschaften, die alle weggedrängten und unmöglich gewordenen Wünsche in perfektionierter Bildgestalt in die Wohnzimmer tragen, und schließlich vom globalen Wirken des Internet, das die Finanzmärkte zusammenschließt, ihre Dynamik explosiv steigert und diese widerspruchsreiche Dynamik mit dem Schicksal von Unternehmen verbindet und bis in das privaten Schicksal von Familien voran drängt. Kaum mehr beziehen sich die Strategien auf den Börsenmärkten auf konkrete Produktionsbedingungen, reale Produktivkräfte und ihre regionalen Umgebungen, sie bewegen sich – im digitalen Datenraum unendlich beschleunigt – in zuvor nie gekannter Verknüpfung unter- und ineinander. „Geld heckt Geld“, prognostizierte schon Marx eine späte Entwicklung des Kapitalismus. Die Unwägbarkeiten der Finanzmärkte schlagen unmittelbar auf die beruflichen und sozialen Verhältnisse durch. Ob ein gut ausgebildeter Diplom-Ingenieur oder ein treu-fleißiger Arbeiter am nächsten Tag noch seinen Arbeitsplatz, seinen Lebensstandard behält oder verliert, entscheidet sich unabhängig von seinem Fleiß, seiner Bildung, seiner Bindung an Arbeit und Unternehmen über anonymisierte Vorgänge auf den Finanzmärkten. Die roten und schwarzen Zahlen der Firmenbilanz sagen nichts aus über die Sicherheit des Arbeitsplatzes und dem damit verbundenen sozialen Standard der Familien. Eine nicht erwartete Strategie an den Börsen, und innerhalb eines Jahres stürzt eine Familie vom gehobenen Mittelstand in die Abhängigkeit staatlicher Unterstützung, die die Drohung des weiteren Abstieges in sich trägt.

Auch solche Ängste, denen durch das eigene Handeln nicht zu begegnen ist, prägen den familiären Innenraum. Zum einen verstärken sie die Neigung, sich in das Familien-„Innen“ zurückzuziehen und alles soziale „Außen“ als prinzipiell feindlich anzusehen.

Zugleich vermehren sie die skizzierten inneren Dynamiken einer Familie. Alles wird jetzt auf das Kind gesetzt, sogar die Absicherung gegenüber den Bedrohlichkeiten der Zukunft – auch deshalb werden die Kinder in unsinnige Förderungen getrieben, in skurrile Bildungskonzepte gezwängt und von Mutter und Vater unaufhörlich „motiviert“, bis das Kinderleben sich selber ganz fremd geworden ist. Das Kind vertritt auch hier die Beschwichtigung elterlicher Ängste, in ihm realisieren Eltern gleichsam symbolisch die Bewältigung anonymer sozialer Bedrohungen. Die Ordnungen des Mütterlichen und des Väterlichen – „le nom du pere“, wie Lacan formulierte – tritt im Bewusstsein des Kindes zurück. Sie versprechen keinerlei Gewissheit und kaum Geborgenheit, die Normvorstellungen der Eltern scheitern am instabilen Charakter der modernen Weltwirtschaft oder könnten jeden Tag daran scheitern. Die Eltern sind ratlos. Ihre Kinder atmen diese Bedeutungsarmut ein.

Viele reißen sich früher, als es ihrer seelischen Verfassung entspricht, vom familiären Milieu los, ihre Gleichaltrigen-Gemeinschaften sind aber geprägt von demselben Geist, an dem ihre Eltern scheiterten – vulgäre und perfekte Glücksversprechen, individualisierte Wünsche, die in merkwürdiger Umkehrung eine Vereinheitlichung quer über dem Globus durchlaufen, Abhängigkeiten vielfältiger Art bei gleichzeitiger hoher Leistungserwartung und Erfolgserwartung – an dem viel zu viele junge Menschen schon in der frühen Pubertät scheitern. Auf diese paradoxe Weise vollziehen sie zuletzt doch – wie es Generationen vor ihnen auch schon taten – das Schicksal ihrer Eltern nach.

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