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Staat - Volk - Leitkultur

Über Säkularisierung als Sakralisierung und ihre Wirkung in der Integrationsdebatte,

aus: vorgänge nr. 183, Heft 3/2008, S. 122-130

„Bei aller Toleranz: Kathedralen müssen größer sein als Moscheen.“ (Edmund Stoiber)

Prolog

Wien, 1882. Friedrich Schmidt, Sohn einer norddeutschen Pastorenfamilie, aus Karrieregründen aber längst zum habsburgischen Katholizismus konvertiert und somit schließlich Dombaumeister von St. Stephan, vollendet sein architektonisches Hauptwerk, das Wiener Rathaus. Er lässt anlässlich des Richtfests einen 3,4 Meter hohen ehernen „Rathausmann“ auf den 98 Meter messenden Turm des Baus hieven und umgeht so listig die Auflage des Kaisers, dass der Rathausturm die 99 Meter hohen Türme der benachbarten Votivkirche nicht überragen dürfe. – Eine späte Genugtuung Schmidts, weil er im Wettbewerb für den Bau der Votivkirche 1854 nur den dritten Platz errungen hatte? Oder ein weithin sichtbares Symbol der Moderne, mit dem Schmidt, Mitglied des Wiener Gemeinderats, die Höherwertigkeit des Volkes betonen wollte? Immerhin dient eine kleine Kopie des Rathausmannes in Form einer Anstecknadel noch heute als Symbol beim Maiaufmarsch der Wiener Sozialdemokratie. Doch überhaupt: Darf denn ein Rathaus höher sein als ein Kirchturm?

Moderne. Neue Götter

Schmidts Zeit war das Fin de siècle, das Ende eines sich von Gott lösenden Jahrhunderts, in dem David Friedrich Strauß die Bibel profanisiert, Charles Darwin die göttliche Erschaffung des Menschen zu einem Märchen Grimmscher Art gewandt, Sigmund Freud Religion zu einer Geisteskrankheit und Friedrich Nietzsche Gott schließlich für tot erklärte hatte. Doch die Moderne hatte zwar den alten Gott entzaubert, dabei aber oftmals nur traditionelle Erlösungsvorstellungen verweltlicht und somit neuen Göttern den Weg bereitet. Auf Grund einer nicht vollständig vollzogenen Säkularisierung erhielt das Projekt der Moderne selbst gnostische Struktur, indem der Glaube an die Vorsehung durch den heilsgeschichtlichen Glauben an den Fortschritt ersetzt und das einheitsstiftende Moment der Kirche sowie die Gemeinschaft vor Gott durch die Zugehörigkeit zur Sprach-, Schicksals- und Volksgemeinschaft bzw. zur internationalen Arbeiterschaft und durch ihre jeweilige Prophetie abgelöst wurden (vgl. Löwith 1949). Die Moderne bewirkte somit zwar die Zurückdrängung von kirchlicher Bindung, die grundsätzliche Religiosität der Menschen blieb aber erhalten und fand andere, eben „moderne“ Ausdrucksformen: Die Apotheosen des Staates, der Nation, des Volkes, gar der Rasse, oder auch des Marktes (vgl. Dellwing 2008: 48 ff.) sind Wirkungen dieser nicht umfassendvollzogenen Säkularisierung und operieren mit biblischer Symbolik und Rhetorik. Über den Umweg des scheinbar Profanen hat religiöses Denken überlebt, auch wenn die Vertreter der Moderne einen Triumphzug der Säkularität gegen dieses „Gefühl der schlechtsinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher 1821) erwartet hatten. Sakrale Elemente kamen zwar in den eschatologischen Erlösungsmythen und Führerkulten von Kommunismus und Faschismus (vgl. Voegelin 1938; Strohm 1997) am deutlichsten zum Tragen, in unserer Gegenwart noch wirkmächtig sind sie aber in den Vorstellungen von „Staat“ und „Volk“, besonders in der zugehörigen Gemeinschafts- und Werterhetorik, die zurzeit eine ungeahnte Renaissance erlebt.

Die Sakralisierung grundsätzlich weltlicher Begriffe und Vorgänge versorgte den modernen, gottverwaisten Menschen mit einem neuen Gemeinschaftsgefühl, neuen Narrativen und neuen Symbolen kultureller Orientierung. Jene modernen Spielarten biblischer Muster prägen das sog. säkulare Zeitalter so vielgestaltig, dass ich mich hinsichtlich des nachfolgenden Argumentationsganges auf zwei Beispiele beschränken werde:

    1. Vater Staat und Volksgemeinschaft[1]: Wendungen wie die eines „Vater Staat“, gleich einem Gottvater, offenbaren bis heute im funktionalen Sinne religiöses Gedankengut, weswegen Wolfgang Reinhard (2007: 8) in der hegelianischen[2] Überhöhung des deutschen Staates „immer noch erhebliche Restbestände einer nahezu religiösen ‚Andacht zum Staate'“ ortet, wobei sich in eben dieser „Staatsgläubigkeit“ (vgl. Sontheimer u. Bleek 1999) das Religiöse im Bereich des Diesseitigen Einfluss verschaffe – Staatsdienst als Gottesdienst (vgl. Hattenhauer 1996). Denn dem modernen Staat wurden Geist und Körper, ja eigener Wille zugesprochen, weshalb ihn schon Hans Kelsen (1949: 191) spöttisch als „god of the law“, als metarechtlichen Makroanthropos bezeichnete und auf die Analogie zwischen Staatspersonifikation und Gottesbegriff hinwies.
      Dieser Apotheose des Staates entspricht der Volkskörper, die völkische homogene Gemeinschaft, die Vorstellung einer substantiellen Ganzheit, die mehr sei als die Summe der Individuen. Während die Aufklärung noch einen normativ-formalistischen Volksbegriff verwendete, der keinerlei deskriptive Kriterien hatte, wandelte sich die Anschauung des Volkes seit der Romantik bis ins 20. Jahrhundert (Herder, Hegel, Puchta, Schmitt et al.) immens: der neue, ikonische Volksbegriff wurde einerseits über materielle, vorgeblich empirisch nachvollziehbare Merkmale wie gemeinsame Sprache und Abstammung, andererseits über intuitiv-spekulative Elemente wie Zusammengehörigkeitsgefühl und Volksgeist gewonnen (vgl. Lepsius 1994: 13 ff.) und war eine Antwort auf den aufklärungs- und modernitätsbedingten Gottes- und damit Gemeinschaftsverlust. Die Volksgemeinschaft, identifiziert mit dem Staat („Volksstaat“), schickte sich an, diese Leere zu füllen, und versprach quasireligiöse Orientierung, indem jenseits der Grenzen des eigenen Volkes und Staates nur Minderwertiges vermutet wurde – hinc sunt leones (vgl. Maus 2001).
      Jener Volksbegriff war nach 1945 verständlicherweise verpönt, wenn auch weiterhin vorhanden und politisch wirkmächtig (vgl. Mancini 1999; van Ooyen 2006; 2008). Was offiziell als post-national(istisch)er Zusammenhalt blieb, war die Andacht zum Staate in Form des Verfassungspatriotismus. Dieser wurde zwar auf Grund seines mangelnden Glaubensgehalts als „blasser Seminargedanke“ gescholten, doch als durchaus gangbar, ja beispielhaft betrachtet. Aber spätestens seit Ende der 1990er Jahre, als Deutschland die Selbstbezeichnung/-erkenntnis „Einwanderungsland“ wagte und dadurch nicht einmal mehr die Illusion eines homogenen Volkes gegeben war, ruft man stattdessen nach einer „Leitkultur“ (seit 2007 auch im Grundsatzprogramm der CSU), nach „modernem Patriotismus“ (u.a. bestärkt durch das Wir-Gefühl der WM 2006) und versucht, einen neuen emotionalen Gemeinschaftsbegriff zu definieren, der abermals ein Gesamtinteresse imaginiert, das höher als die Einzelinteressen gestellt werden soll; diesmal allerdings nicht mehr über die unbehagliche Volks-, sondern über die „aufgeklärte“, aber dennoch beseelte Wertegemeinschaft – in Deutschland, aber ebenso in Österreich oder der Schweiz wie auch auf Ebene der Europäischen Union.
    2. Wertegemeinschaft und Seelensuche[3]: Gefragt nach den Gründen für die Unbeliebtheit der EU antwortete der französische Premier de Villepin (2007) anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Römer Verträge: „The risk was to leave Europe without soul“, und griff damit auf, wofür auch Kommissionspräsident Barroso kurz zuvor bei der Berliner Konferenz Europa eine Seele geben eingetreten war. Diese in EUropäischen Reden nunmehr schon inflationär verwendete Metapher der Seele verweist auf das Begehren nach einem homogenen Element, das die heterogenen Gesellschaften emotional zusammenhält und Sinn stiftet. Weniger über demokratische Teilhabe sucht man die EU heute zu rechtfertigen, denn über die konzeptionell an den Volksgeist erinnernde „Seele Europas“. In der Tendenz ebenso undemokratisch (und die Grenzen Europas wohl v.a. gegen die Türkei definierend) ist das Konzept der Wertegemeinschaft, spricht es doch den Menschen die Fähigkeit ab, sich trotz divergierender Werte zu einigen. Wertfestschreibungen, also „Werte als Grenzwärter einer kollektiven Identität“ (Pollak 2007: 89), verengen zudem den politischen Raum dafür, Wertdiskussionen als solche auszutragen, weswegen Christoph Türcke (2006: 129) meint: „Werte an sich […] sind festgestellte, totgestellte, vergötzte Errungenschaften […] Sich auf ‚Grundwerte‘ versteifen: Das ist schon beginnender Götzendienst. Die europäische Wertegemeinschaft ermuntert sich täglich zu diesem Dienst und merkt gar nicht, wie sehr sie sich dabei mit den Denkmustern jenes theologischen Fundamentalismus anfreundet, gegen den ihre Werte doch ein Bollwerk sein sollen.“ Robert Spaemann (2001) erkennt im Wort „Wertegemeinschaft“ gar nur einen Euphemismus für „Gesinnungsdiktatur“.
      Auftrieb bekommen diese metaphysischen Konzepte durch die sukzessive Entmächtigung bisher vertrauter Identifikations- und Zugehörigkeitskategorien, so dass für Orientierung versprechende Leitwerte und andere beseelte Angebote wieder viele Menschen gewonnen werden können. Nicht zuletzt schöpfen die Seelensuche, die Formulierung einer Wertegemeinschaft sowie die Forderung nach einer Leitkultur und überhaupt das Hochhalten des christlich-humanistischen Erbes ihre Kraft aus dem imaginierten gemeinsamen Anderen, dem Islam. Denn Gott mag tot sein, Allah aber ist es nicht.

Moschee und Minarett: Wider die Leitkultur?

Obwohl man die Existenz eines europäischen Volkes weitgehend verneint, redet man gleichzeitig einer EU-„Familie“ das Wort. Wer in so mancher Argumentation nicht zu dieser Familie (zu „uns“) gehört, ist die Türkei, die immerhin schon seit 1959 um Beitritt ansucht. Ungeachtet des laizistischen Status wird sie mit dem Islam (dem „anderen“) gleichgesetzt, sodass José Casanova (2004: 4) meint, es gäbe „kaum verhohlene Hinweise darauf, dass ein äußerlich säkularisiertes Europa immer noch allzu christlich ist, wenn es darum geht, sich ein muslimisches Land als Teil der europäischen Gemeinschaft vorzustellen.“ Dabei geht es jedoch weniger ums Christentum als Religion, sondern um einen Begriff vom europäischen Volk, der europäischen „Wesenheit“ nach der Logik: Selbst wenn wir Europäer keine tiefgläubigen Christen mehr sind, Muslime sind wir schon gar nicht.

Und wo das andere schon in die Familie (sei es nun die europäische oder die jeweils nationalstaatliche) „eingedrungen“ ist, eröffnet sich ein populistisches Schlachtfeld. Obgleich jene Familienmetapher ebenso wie die Leitkultur-, Kopftuch- und Minarett-Debatten frappant an das Nazi-Ondit vom „Volkskörper“, der durch „artfremde Elemente“ „zersetzt“ würde, erinnert, trägt man diesen Kampf heute ein wenig indirekter, „politisch korrekter“ aus, nämlich anhand einer Stellvertreterdebatte über die Symbolik,[4] denn: „Bei aller Toleranz: Kathedralen müssen größer sein als Moscheen“ (Stoiber 2007). So lässt etwa der Kärntner Landeshauptmann, Jörg Haider (BZÖ), zurzeit das Ortsbildpflegegesetz ändern (von Kritikern auch „Moscheen-Verbotsgesetz“ genannt), das Moscheen als Störung des Ortsbildes deklarieren, deren Bau einer Sonderkommission überantworten – dadurch letztlich verhindert soll. Haider (2007) rühmt sich, dass Kärnten damit „zum europäischen Vorreiter im Kampf gegen den radikalen Islamismus und dem Schutz unserer westlich geprägten Leitkultur“ werde; und er erhält Schützenhilfe z.B. aus der Schweiz, wo die SVP den Verfassungszusatz „Der Bau von Minaretten ist verboten“ fordert und bereits die für die Volksinitiative notwendigen 100.000 Unterschriften gesammelt hat.

Moscheebauten sind in der Interpretation als islamische Hoheitszeichen zum Stein des Anstoßes geworden, werden unter Bemühung alter Bedrohungsszenarien („dritte Türkenbelagerung“) als Symbol der Landnahme interpretiert, gar als „Leuchttürme des Jihad“ (SVP-Nationalrat Oskar Freysinger), was die bislang verfügbaren sakralisierten Identitätskategorien Staat und Volk/Nation nicht mehr nur als durch die Erosion des Nationalstaats gefährdet erscheinen lässt, sondern auch durch das Entstehen einer vermeintlichen Parallelgesellschaft. Richtig weist Werner T. Bauer (2007: 8) auf die Doppelmoral hin, dass unsere Gesellschaft sich zwar als säkular definiert, „dem christlichen Glauben im öffentlichen Leben jedoch einen zentralen Platz zuweist, in den Manifestationen islamischer Religiosität hingegen sofort ein existenzbedrohendes Problem sieht.“ So waren Moscheen als dekorative, orientalistische Landschaftsgestaltung (jardin turc) in Kew Gardens und Schloss Schwetzingen oder Minarette als Kunstarchitektur wie bei der Dresdner Tabakfabrik gern gesehen, solange sie nur ein Trompe-l’oeil darstellten und nicht mehr als einen „Hauch von Orient“ in die gefestigte christliche Mehrheitsgesellschaft brachten, in der die Kirche das Deutungsmonopol innehatte.[5]

Wie anders aber wird Yenidze betrachtet, seit die Dresdner muslimische Gemeinde gewachsen ist und versucht, den Bau für sich zu gewinnen, statt dort „1001-Nacht- Märchenabende“ veranstaltet zu wissen? Warum ist die Frage, ob man leerstehende Kirchen in Moscheen umwidmen kann, in einer angeblich säkularen, sich in Religionsfragen offiziell neutral gerierenden Gesellschaft nicht emotionslos diskutierbar? Etwa weil Integration gar nicht so sehr auf demokratiepolitischer Ebene, als Tun, als aktive Partizipation, sondern vor allem auf kulturalistischer Ebene, als Sein, gefordert wird, wo der verabsolutierte, metaphysische Volksbegriff fortlebt, der auf eine pluralistische Gesellschaft aber unanwendbar ist? Weil die seelenvolle Wertegemeinschaft ähnlich wie einst die Konzepte um Volkstum, Ethnie und Rasse die neue Abgrenzungsfunktion übernehmen soll (vgl. Feichtinger 2007: 34)? Weil es offenbar für neue Staatsbürger nicht reicht, schlicht Gesetze zu befolgen, sondern man auch noch per Gesinnungstest die Werttreue beweisen muss? Immerhin kann Eingebürgerten bei „Gesinnungstäuschung“ gegenüber der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ von deutschem Volk und Staat selbst nach Jahren die Staatsangehörigkeit aberkannt werden, wie das Beispiel eines der PKK nahe stehenden Türken (dann Deutschen, dann wieder Türken…) im Jahr 2004 zeigte. Immerhin sollen sich – geht es nach ÖVP-Minister Johannes Hahn (2008: 6) – Zuwanderer in Österreich „zur Einhaltung von grundlegenden Wertehaltungen verpflichten, darunter die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Frau […]“; und „(w)erden diese Wertehaltungen verletzt, tritt ein Sanktionssystem im Bereich von Leistungen der öffentlichen Hand in Kraft – zum Beispiel bei den Sozial- und Familienleistungen“, denn „(w)er bei uns leben will, muss sich entsprechend unserer Werteordnung verhalten.“ Ein frisch eingewanderter Macho, der seine Frau daheim einsperrt, muss demnach mit finanziellen Sanktionen rechnen, ein ebensolches einheimisches Exemplar nicht? Warum müssen Zuwanderer, besonders Muslime, toleranter, weltoffener und liberaler sein als eingeborene Österreicher? Oder vermutet der Minister reaktionäre Rollenbilder gar nur jenseits der Grenzen des eigenen Volkes – hinc sunt leones?

Beispielhaft für dieses Integrationsverständnis schreibt Udo di Fabio (2005: 183): „Integration heißt, durch das Vorbild guten, kraftvollen Lebens die neu Hinzugekommenen in ihrer kulturellen Orientierung auf die Seite ziehen […] Je vitaler und selbstgewisser die den Orientierungsrahmen bestimmende Gemeinschaft ist, desto größere Integrationsfähigkeit hat sie.“ So haben – wie in jüngster Zeit immer mehr europäische Länder (z.B. Dänemark, Großbritannien, die Niederlande) – auch Österreich und seit September 2008 ebenso Deutschland den Erwerb der Staatsangehörigkeit an die Absolvierung von Tests gebunden, die nicht nur praktische Fragen im Sinne von politischer Bildung zur demokratischen Teilhabe beinhalten, sondern auch konkret kulturelles Wissen abfragen.[6] Außerdem werden mitunter sog. Gesinnungstest verwendet, um die „innere Haltung“ besonders von muslimischen Einbürgerungswilligen zu überprüfen.[7]

Dem Gesetzgeber ist folglich ein inhaltlich beladenes Bild des Volkes immanent, das durch Einwanderungs-, Minderheiten-, und Staatsangehörigkeitsgesetze zurechtgeschneidert und gestützt wird. Zwar ist das völkische Abstammungsprinzip in kürzlich novellierten Gesetzen wie dem StAG abgemildert, doch treten an die Stelle des Loyalitätszeugnisses qua Blutsbande andere Mechanismen wie eben das Abfragen von das Volk als kulturell-geistige Gemeinschaft konstituierenden Heldennamen, historischen Daten oder kulturellen Gepflogenheiten, mit denen das gleichsam familiäre Treueverhältnis zum Staat bekundet werden muss, um dessen Fortbestand, die Schmittsche (1928: 205) „politische Einheit des Volkes“, zu gewährleisten.

In von Migration geprägten politischen Gemeinwesen sollte es aber keiner Einbürgerung als biologistischer „Naturalisierung“, gleich einem Initiationsritus mit Eidesformel (!) als Aufnahme in die (Glaubens-) Gemeinschaft bedürfen, die auf Integration im Sinne der Erhaltung einer fiktiven politischen, aber als natürlich, damit unveränderlichausgegebenen Einheit abzielt, womit Ausländer zum guten Deutschen, Österreicher etc. gemacht werden (vgl. van Ooyen 2006: 21), sondern unter Bewusstmachung des noch immer wirkmächtigen quasireligiösen Staats- und Volksgemeinschaftsbegriffs[8] bedarf es der Öffnung hin zu einem normativ-formalistischen Verständnis, nach dem all jene, die dauerhaft einer Rechtsordnung unterworfen sind, auch in der Rechtssetzung repräsentiert werden (vgl. Valchars 2006). Nach diesem Modell (Inklusion statt Integration) würde es keine Rolle spielen, ob die Moschee den muslimischen Immigranten auch ein Stück Heimatersatz bedeutet, denn „innerhalb dieses Modells der Inklusion [wird] von Personen nicht mehr und nicht weniger verlangt als rechtskonformes Verhalten. Nach diesem Modell der Inklusion könnten Migranten tun und lassen, was sie wollen, sofern sie nicht Recht brechen“ (Werber 2008: 188).

Der vorherrschende kulturelle Integrationszwang zeigt sich exemplarisch am Streit, ob überhaupt und wenn ja, wie hoch gebaut werden dürfe, ob denn ein Minarett höher sein dürfe als ein Kirchturm. Es ist eine Debatte um die Hoheit im öffentlichen Raum, um die Vormachtstellung zwischen „Fremdem“ und „Eigenem“. Dabei sind Symbolsprachen sogar äußerst interpretationsoffen, so dass der Kirchturm auch für einen Agnostiker oder Atheisten das Sinnbild des Eigenen annehmen kann. Der Kirchturm repräsentiert dann weniger den christlichen Glauben, sondern eher den „Westen“, das „Abendland“, jedenfalls alte, vertraute Sicherheiten und verlässliche Werte; er stellt besonders im direkten Vergleich mit dem Minarett einen Prüfstein deutscher, österreichischer etc. Kultur dar, eine „Bindung ohne Glaube“ (Hervieu-Léger 2003).

Doch auch wenn die Bindungskraft des Christentums merklich nachgelassen hat: Religiosität war immer da. Sie hatte bloß im Zeitalter der Fortschrittsgläubigkeit, des Wirtschaftswunders und der Prosperität die Larve des Profanen aufgehabt, so dass viele quasireligiöse Phänomene wie der „Vater Staat“ oder die metaphysische Volksgemeinschaft nicht als solche wahrgenommen wurden. Friedrich Wilhelm Graf (2004) hat die politische Aufgeladenheit von Begriffen wie „Säkularisierung“ eindrücklich nachgewiesen und aufgezeigt, dass gerade in den letzten 200 Jahren, die doch von Aufklärung und Moderne geprägt gewesen seien, religiöse Energien nicht eliminiert waren, sondern andere Ventile gefunden haben. Viele Erscheinungen der Moderne lassen sich nach Graf nur befriedigend verstehen, wenn man diese oft verdrängten und umgeleiteten religiösen Antriebe zur Kenntnis nimmt. Der Niedergang der profanen Ersatzreligionen (Nationalismus, Kommunismus etc.), die Europa für rund zwei Jahrhunderte geprägt haben, führt nun nicht zum Ende der Geschichte durch den Sieg der Moderne – denn diese ist, so auch Hartmut Böhme (2006), viel weniger aufgeklärt, als sie selbst annimmt – sondern wir erkennen schlicht jetzt erst die Fehlannahme des Säkularisierungsparadigmas (vgl. Berger 1967; 1999).

Epilog

Der Machtkampf mittels Symbolen wie dem Minarett ist ein Konflikt um Sichtbarkeit, denn Hinterhof- und Kellermoscheen gibt es schon seit langem. Aktuell wurde die Debatte, weil Europa zurzeit ein „islamisches Coming-out“ (Welzbacher 2008) erlebt: allein in Deutschland sind 184 neue Moscheen im Bau oder in Planung; zudem geht öffentlicher Raum im Zuge von Privatisierungen im Sinne der Sanierung des öffentlichen Budgets zunehmend für die Allgemeinheit verloren, so dass die noch verbliebenen Lagen umso umkämpfter sind.

Die politische Frage nach dem Anspruch auf Sichtbarkeit wurde in jüngster Zeit kaum so unverhohlen beantwortet wie im kleinen, aber vier Kirchen zählenden Barockstädtchen Bad Vöslau nahe bei Wien: Neben den österreichweit 105 Gebetsräumen gibt es bislang nur zwei Moscheen mit Minarett, jene des bereits 1979 errichteten Islamischen Zentrums in Wien mit einem 32 Meter und jene von Telfs in Tirol mit einem 15 Meter hohen Minarett. In Bad Vöslau wird zurzeit die dritte österreichische Moschee mit Minarett errichtet, allerdings ersonn die Bürgerinitiative – in umgekehrter Analogie zu Friedrich Schmidts Rathausmann-List – einen Kniff: Der Bau erhält zwar ein Minarett, das aber nicht so aussieht, weil es die Gesamthöhe des Gebäudes nicht übersteigt, damit Kuppel und Minarett, so der Bürgermeister, „kein dominantes Aussehen“ haben.

[1] Vgl. zum Volksbegriff näher Ehs 2009.

[2] Hegel (1821: § 258) hatte den Staat als „Gang Gottes in der Welt“ bezeichnet; Ranke (1833) als Antwort auf den Zerfall des mittelalterlichen Universalismus der Kirche und des Hl. Röm. Reiches dt. Nation die (National-) Staaten zu „Gedanken Gottes“ erklärt und damit die Idee des Menschenwerks zurückgewiesen. Mit der Sakralisierung des Staates prägten beide die deutsche Staatsrechtslehre auf Jahrzehnte hinaus.

[3] Mit der Thematik europäischer Seeelensuche setze ich mich in zwei weiteren rezenten Aufsätzen auseinander, siehe Ehs 2008a und 2008b.

[4] Obwohl festgehalten werden muss, dass die Hemmschwelle auch bei Personen, die öffentliche Ämter bekleiden und nicht per se zum rechten Rand des politischen Spektrums zu zählen wären, zu sinken scheint. Das bestätigte etwa die Aussage des niederösterreichischen Landeshauptmanns, Erwin Pröll, der im September 2007 Minarette als „artfremd“ bezeichnete.

[5] Siehe dazu auch die jüngst erschienene Studie über islamischen Einfluss in der Wiener Architektur (Caravias 2008).

[6] Der Test, den vom Land Wien zu betreuende Staatsbürgerschaftswerber zu bestehen haben, fragt etwa nicht nur „Welche politischen Parteien sind derzeit im Wiener Gemeinderat vertreten?“, sondern auch „Wo wohnte Erzherzogin Maria Theresia im Sommer?“.

[7] So hatte z.B. Baden-Württemberg 2005 einen „Gesprächsleitfaden“ für die Einbürgerungsbehörden mit der in den Debatten Berühmtheit erlangten Frage „Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn sei homosexuell. Wie reagieren Sie?“ entwickelt.

[8] Für ein aktuelles Beispiel zur Wirkmächtigkeit der Überhöhung des Staates und des völkischen Gemeinschaftsdenkens siehe van Ooyen 2008.

Literatur

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