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Die Aufgabe des Staates

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 131-135

Welch ein Titel! Von Platons „Politeia“ über die „Civitas Dei“ des Augustinus bis hin zu Romano Guardinis „Staat in uns“ schwingt alles mit. Irgendwann hieß es sogar „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“. Auch „Der Weg zur Knechtschaft“ von Hayek gehört ins Bild, und über allem – der schönste und klarste Text zum abendländischen Menschen- und Staatenbild – steht die amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Alle diese Assoziationen streife ich jetzt ab und mache mich an das Projekt „Sarrazin, wie er den Staat sieht.“

Das Leben in Gesellschaft ist Teil der menschlichen Natur und sowohl Existenzbedingung als auch Entwicklungschance. Es ist zugleich Voraussetzung wie auch Treibmittel der menschlichen Arbeitsteilung, die wiederum notwendige Bedingung für jeden zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt ist. Zwischen Gesellschaft und Staat wiederum gibt es gleitende Übergänge. Die Gesellschaft ist ein System impliziter Normsetzungen und sozialer Regeln, nach denen sich die Menschen richten, um ihr Leben nach einer subjektiven Ordnung zu gestalten. Der Staat dagegen ist die den objektiven Ordnungsrahmen setzende Institution, die quasi die Fassung der Gesellschaft bildet.

Historisch, und auch in der heutigen Wirklichkeit, vermischen sich die Quellen der individuellen Sinngebung, der Religion, der gesellschaftlichen Antriebskräfte mit den Legitimationsgrundlagen des Staates. Die säkulare, nicht transzendental begründete Demokratie mit Gewaltenteilung und allen bürgerlichen Freiheiten ist ein sehr abstraktes Konstrukt und Ergebnis einer spezifisch abendländischen Entwicklung, dessen Dauerhaftigkeit und Stabilität kontinuierlich in Frage steht. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialstaats tragen einerseits zur Legitimation dieser Staatsform bei, bringen aber andererseits neue Gefährdungsformen mit sich.

Die Quellen der Religion und die Quellen des Staates lassen sich überhaupt nicht voneinander trennen. In jeder Stammesgemeinschaft – wenn man so will der Urform der staatlichen Organisation – gab es den Häuptling und den Medizinmann, und die Macht des Medizinmanns reichte im Zweifel weiter. Der jenseitige Bezug war offenbar immer nötig, um die staatliche Legitimation über die sanktionierte Anwendung von Gewalt hinauszuheben und so die staatliche Organisation überhaupt erst stabil zu machen.

Ägypten war ein Gottesstaat, in der Gestalt des göttlichen Pharao flossen die weltliche Macht und der Zugang zur göttlichen Wahrheit zusammen. Israel war ein Gottesstaat, das auserwählte Volk hatte nur seinen Pharao in den Himmel verlegt. Das spätrömische Reich sprach dem Kaiser gottähnliche Eigenschaften zu. Dies war zweckmäßig, um den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten, nachdem die Legitimationsgrundlagen der römischen Republik für das Großreich nicht ausreichten. Kaiser Konstantin, der erste christliche Kaiser, bezog seine staatliche Legitimation aus der Bekehrung zum Christengott. Und am 25. Dezember 800, als Papst Gregor im Aachener Dom dem fränkischen König Karl die Kaiserkrone aufsetzte, fand der Dualismus von Häuptling und Medizinmann wieder eine schöne Ausdrucksform. Dies führte später zum Investiturstreit. Als Heinrich IV. im Januar 1077 vor Canossa im Schnee kniete und die Gnade das Papstes erflehte, war für das Mittelalter die Frage entschieden: Die geistliche Macht hatte den Vorrang vor der weltlichen und gab jener erst die Legitimation.

Diese Botschaft beherzigte noch Heinrich VIII, als er anlässlich einer vom Papst verweigerten Scheidung die anglikanische Hochkirche als neue Staatsreligion gründete und sich selbst zu deren Oberhaupt machte. Diese Legitimation des Staates aus dem Jenseits setzte sich fort im Gottesgnadentum des Absolutismus, und noch Kaiser Wilhelm II. begann seine Proklamationen mit der Formel „Wilhelm, von Gottes Gnaden…“

In der Demokratie trat an die Stelle des Gottesgnadentums und anderer transzendentaler Begründungen der unveräußerliche Charakter der Menschenrechte und, als Erbe der Reformation, die unmittelbare Verbindung des Einzelnen zu Gott. Die Legitimität staatlichen Handelns ergab sich damit aus dem Mehrheitswillen und dem transzendentalen Charakter der Menschenwürde. Dies war ein brüchiges Konstrukt, und es wurde umso brüchiger, je gottloser die moderne Welt wurde, denn damit wurden früher als objektiv vorausgesetzte transzendentale Zusammenhänge ins subjektive Belieben gestellt. Eine Welt, die keinen persönlichen Schöpfer mehr kennt, eine Welt, die den Menschen als Teil der belebten Natur, aber nicht mehr als diese transzendierend wahrnimmt, ist letztlich eine Welt, in der sich der Mensch seine Ziele und seine Gesetze selber macht, in der es aber auch keine intersubjektiv rationale Präferenzbildung zwischen unterschiedlichen Zielstrukturen gibt, in der es von daher auch nicht verwerflich sein kann, letztlich mit Gewalt zu entscheiden.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass in den USA die seit 230 Jahren stabile Demokratie von einem intensiven religiösen Leben begleitet wird. Kein Präsidentschaftskandidat hat dort eine Chance, der nicht eine intensive Gläubigkeit vorlebt. Die europäischen Demokratien dagegen sind diesseitiger, großenteils eher heidnisch, aber sie wurden im 20. Jahrhundert stabilisiert durch die schockierende Doppelerfahrung von Nationalsozialismus und Kommunismus.

Auch diese Systeme wussten übrigens um die Notwendigkeit transzendentaler Begründungen und schufen je für sich einen Mythos, der die Menschen auffing und ihnen das Gefühl gab, in einem größeren Sinnzusammenhang zu stehen. Für die kommunistischen Staaten diente der marxistische Geschichtsdeterminismus als Religionsersatz, und Hitler machte sich selbst zur Religion. Es war aber kein Zufall, dass er ständig von der „Vorsehung“ sprach, die seine Schritte begleitete, und kein Zufall war es auch, dass das Koppelschloss der Wehrmachtssoldaten die Inschrift „Gott mit uns“ trug. Auch passte es ins Bild, dass Hitler und Stalin ein jeweils gottähnlicher Status zukam.

Diese tiefe Verunsicherung haben wir aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen: Es gibt keinen strafenden Gott, und alles ist möglich. Die transzendentale Einbindung haben wir nicht mehr, und die lebensweltliche Sicherheit des zufriedenen Tieres fehlt uns auch. Beim Fall der Mauer hatten wir alle den selbstverständlichen Sieg des westlichen Gesellschafts- und Demokratiemodells vorausgesetzt. Weit gefehlt: Die wirtschaftlich erfolgreichen Nationen Ostasiens folgen autokratischen Modellen, während große Teile der islamischen Welt die überwunden geglaubte Verbindung von Religion und Staat und die Unterordnung des letzteren unter die erstere zur Staats- und Gesellschaftsraison machen. Unsere Ersatzgötter sind der wirtschaftliche Erfolg und die soziale Gerechtigkeit, das erste, damit es etwas zu verteilen gibt, und das zweite, damit alle etwas davon haben. In diesem Zusammenhang werden bei uns auch die Aufgaben des Staates diskutiert. Diese Aufgaben haben, das wird aus dem zuvor Gesagten deutlich, keinen objektiven Charakter, sondern der Aufgabenkatalog selbst ist Gegenstand einer politischen Entscheidung ohne einen darüber hinaus gehenden Wahrheitsanspruch.

Manche Aufgaben sind schnell abgehandelt, weil völlig unstreitig: Innere und äußere Sicherheit, Gesetzgebung und Rechtsprechung, verlässlicher Rechtsrahmen für wirtschaftliche Aktivitäten, verkehrliche Infrastruktur, Rettungsdienste für Notfälle, allgemeine Schulpflicht bis zu einem gewissen Mindestbildungsniveau. Dann läuft es schon auseinander, und wir stellen fest, dass bereits westliche Demokratien sehr unterschiedliche Ansätze produzieren: Im reichen Washington D.C. stört es keinen, dass überall Obdachlose, teilweise erkennbar psychotisch gestört, neben den vornehmsten Bürohäusern ihr Quartier auf den Abluftschächten der Klimaanlagen aufschlagen. In Berlin wäre so etwas undenkbar. Bei der Frage nach der Aufgabe des Staates stehen in den westlichen Demokratien eine liberale und eine paternalistische Variante nebeneinander und gehen unterschiedliche Mischformen ein. Die liberale Variante speist sich aus dem Gedankengut der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die den Staat als eine Assoziation von Freien und Gleichen zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ansieht. Die paternalistische Variante hat ihre Quelle im absolutistischen Staat (und letztlich im Feudalsystem), wo der Landesherr Fürsorge und die Landeskinder Treue und Gefolgschaft schuldeten. Wichtig ist, dass es keine objektiven Wahrheiten sind, die den staatlichen Aufgabenkatalog definieren oder zu seiner Klärung beitragen. Auch die moralische Messlatte führt nicht recht weiter, denn vor einer strikt angewandten Moral greift fast alles zu kurz.

Was der Staat tun soll, jenseits von innerer und äußerer Sicherheit und der Gewährleistung des Rechtsfriedens, das müssen wir entscheiden. Was er tun kann, das richtet sich nach den finanziellen Möglichkeiten, über die aber wiederum auch – zumindest teilweise – politisch entschieden werden kann.

In allen Industriestaaten wird über eine zu hohe Abgabenquote geklagt. Deutschland befindet sich hier international mit einer Abgabenquote von 35,7 % des BIP eher im unteren Mittelfeld (s. Abbildung 1).

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Das Alarmierende ist jedoch, dass die anstehenden demografischen Veränderungen – wenn nichts weiter geschieht – die Abgabenquote um 15 Prozentpunkte nach oben treiben. Heute entfallen auf 100 Menschen zwischen 20 und 65 Jahren 32 Menschen über 65 Jahre, dieses Verhältnis, der so genannte Altenquotient, steigt in den nächsten Jahren kontinuierlich an und wird 2050 bei 64 von 100 liegen, sich also verdoppelt haben. (s. Abbildung 2). Betrachtet man die sich aus der relativen Alterung ergebenden Mehrausgaben bei Gesundheits- und Alterssicherung, so wird der Anteil der Sozialausgaben am BIP, das sog. Sozialbudget, von 30,3 % im Jahre 2006 auf knapp 46 % im Jahre 2050 ansteigen (s. Abbildung 3).

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In den letzten Jahrzehnten ergab sich die Staatsverschuldung daraus, dass die gesellschaftliche Konsensbildung regelmäßig zu einer Einnahmequote führte, die niedriger war die Ausgabenquote, oder umgekehrt, dass es keine konsensualen Entscheidungen gab, die das Ausgabeniveau auf das Einnahmeniveau herunterführten.

Das Problem wird sich in den nächsten Jahren rabiat verschärfen, es ist fraglich, ob es so einfach durch eine pragmatische Mischung von Einnahmeerhöhungen und Ausgabekürzungen bewältigt werden kann. Man wird vor diesem Hintergrund den Katalog der staatlicherseits zu gewährleistenden Aufgaben und Ausgaben recht grundsätzlich überprüfen müssen. Der Sozialstaat europäischer Prägung ist hier durchaus in Gefahr, denn nur mit wettbewerbsfähigen Steuern und Sozialabgaben werden wir die ständig schrumpfende Zahl tüchtiger junger Menschen, die für eine ständig wachsende Zahl alter Menschen aufkommen müssen, noch im Lande halten können. In einer globalen Welt, in der zudem alle Englisch können, ist die Mobilität größer denn je. Freiheitsgrade zu beliebig hohen Abgabequoten gibt es nicht mehr. Dies sind Umstände, die die künftigen Diskussionen um die Aufgabe des Staates entscheidend prägen werden.

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