Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 183: Die öffentliche Familie

Geld mit Liebe

Materielle Stärkung der Familie oder Vergesellschaftung ihrer Funktionen?

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 32-46

Seit einigen Jahren wird das Verhältnis von staatlicher Verantwortung und familiärer Eigenverantwortung in der Familienpolitik als spannungsvoll erlebt. Soll der Staat Familien fördern, indem er seine institutionellen Angebote ausbaut oder eher indem er die Familie mit materiellen Zuwendungen unterstützt? Kritiker der ersten Alternative sehen darin eine übertriebene Vergesellschaftung familiärer Aufgaben, Kritiker der zweiten Alternative bemängeln geringe Steuerungs- und mehr Mitnahmeeffekte. Ist diese Alternative, die die politische Debatte prägt, stimmig und wenn ja, wie sollte sie entschieden werden?

Denkbar wäre freilich auch, dass institutionelle Angebote, die professionelle Organisation von Liebe, und materielle Zuwendungen, in der Regel Geld, kombiniert werden können, die in der Frage enthaltene Polarisierung also vermittelt werden kann. Dann wäre die Alternative nicht „Geld oder Liebe“. Allerdings dürfte die Vermittlung nicht einfach sein, ein konfliktfreies „Geld und Liebe“ ist nicht in Sicht. Das gilt gesellschaftlich wie in der Paarbeziehung. Die kultursensible Mikrosoziologie weiß, dass Geld über seine symbolischen Eigenschaften als soziales Beziehungsmittel sich liebender Partner wirkt und in Paarbeziehungen ein Macht- und Ungleichheitsgefälle erzeugt, das über das reine Mehr oder Weniger des Geldes hinausreicht.[1]

Noch vor einer Dekade wurde die Forderung nach einem „Erziehungsgehalt“ (Leipert/Opielka 1998) heftig diskutiert. Vielen Feministinnen erschien sie als konservatives Politikmodell.[2] Unterdessen hat die Politik Fakten geschaffen. Seit 2007 gilt auf Bundesebene ein einkommensabhängiges Elterngeld, in Niveau (67 Prozent des Nettogehalts) und Bezugsdauer (12 Monate plus 2 Vätermonate) an die Sozialversicherungsleistung Arbeitslosengeld I angelehnt, allerdings ohne vorherige Beitragszahlung aus Steuermitteln finanziert. Die Akzeptanz dieser unter einer konservativen Ministerin implementierten materiellen Zuwendung auch in feministischen und gewerkschaftlichen Kreisen erlaubt eine schwache und eine starke Interpretation. Das Bundeselterngeld könnte zum einen als kleinste Gemeinsamkeit der Modernisierung der Familienpolitik durchgehen: für Konservative drückt es die reale, wenngleich zeitknappe Anerkennung der Familienarbeit aus, während das linksliberale Lager vor allem den Anreiz für Frauen lobt, sich maximal ein Jahr vom Arbeitsmarkt zu entfernen. Die starke Interpretation hingegen kann in dieser Maßnahme eher eine Bestärkung des konservativen deutschen Sozialstaatsmodells erkennen, mit kleineren systematischen Irritationen. Das konservative (kontinentale, „Bismarcksche“) Wohlfahrtsregime zeichnet sich durch paternalistische Staatsinterventionen aus, die vor allem die korporative Strukturierung der Sozialpolitik sichern. In deren Zentrum stehen die erwerbszentrierten Sozialversicherungen, die sich am männlichen Ernährermodell orientieren. Die starke Interpretation des Bundeselterngeldes sieht darin vor allem eine Ausweitung der Erwerbszentrierung auf die Familienpolitik, die symbolisch durch die Identität der Leistungen von Arbeitslosengeld I und Elterngeld markiert wird – die Irritation besteht nur darin, am früheren Einkommen bemessene Sozialleistungen erstmals aus Steuermitteln zu finanzieren, auf der Finanzierungsseite ein merkwürdig unthematisierter Systembruch.

Beschlossen wurde durch die schwarz-rote Große Koalition zudem die Ausweitung des Angebots an Kindertagesstättenplätzen für unter 3jährige Kinder unter der Signatur „Krippenoffensive“. Bis 2013 soll das Angebot in den westlichen Bundesländern durch bis zu 700.000 neue Plätze auf das quantitative Niveau Ostdeutschlands angehoben werden. Auch hier findet sich eine breite Modernisierungsallianz von links-feministisch bis konservativ – Letztere zwar zurückhaltend, doch beispielsweise als kirchliche Wohlfahrtsträger hoch engagiert. Die Alternative „Geld oder Liebe“ hält diese Ausweitung für bedroht. So erklärte der Vorstandsvorsitzende des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, Jürgen Heraeus, mehr Kindertagesstätten seien sinnvoller als mehr Kindergeld: „Viele Eltern, die sich über zehn Euro freuen, werden das Geld nicht für Kinder ausgeben, sondern vielleicht in Alkohol oder einen neuen Fernseher stecken.“[3] Ähnliches vermeldete mehrfach der Bundesfinanzminister (SPD), unterstützt von Wissenschaftlern, die vor allen armen Eltern nicht zutrauen, mit Geld vernünftig im Interesse der Kinder umzugehen.

Es ist nicht leicht, in dieser Gemengelage von Annahmen und vielleicht auch Vorurteilen gegenüber den in oder nahe an Armut lebenden Familien einen klaren Blick zu bewahren. Die einfache Lösung erscheint „Geld und Liebe“, mehr Geld für Familien plus mehr soziale Dienstleistungen zur Unterstützung von Familien. Im Folgenden soll deshalb überlegt werden, ob es auch ein „Geld mit Liebe“ gibt, eine systematischere Verknüpfung von Geldleistungen und Dienstleistungen wie Kindertagesstätten, Familienbildung und sonstigen Familienhilfen. Dazu lohnt ein Blick in die alte Mitte Deutschlands, nach Thüringen. Dort hat eine konservative Landesregierung seit 2005 ein Politikprogramm implementiert, das ein hohes Niveau an Kindertagesstättenplätzen mit einem Landeserziehungsgeld sowie einer Landesstiftung zur Förderung der Familienbildung kombiniert.

Die „Thüringer Famili­e­n­of­fen­sive“ als kontro­verses Modell

Die „Thüringer Familienoffensive“ (kurz TFO) stellt eine öffentlich besonders kontrovers diskutierte Politikreform dar. Umstritten ist zweierlei. Zum einen wurde die Finanzierung der Kindertagesstätten von der Objekt- auf die Subjektförderung umgestellt, gefördert werden durch das Land nur noch tatsächlich belegte Plätze. Damit geht, so die Kritiker, eine Verbetriebswirtschaftlichung der Kita-Politik einher, letztlich gehe es nur um Kosteneinsparungen. Zum anderen wurde die Bezugsdauer für das Thüringer Landeserziehungsgeld in Höhe von 150 Euro monatlich (200 für das zweite, 250 für das dritte und 300 Euro für das vierte und weitere Kinder) auf das gesamte dritte Lebensjahr eines Kindes ausgeweitet. Mit dem Besuch einer Kindertagesstätte fließen jedoch pro Kind bis zu 150 Euro des Erziehungsgeldes in die Finanzierung des Kita-Platzes. Das Erziehungsgeld bekommen die Eltern nur dann in voller Höhe, wenn sie ihr Kind selbst betreuen oder von einer Tagesmutter betreuen lassen. Kritisiert wird, dass damit ein Anreiz bestehe, Kinder zu Gunsten von verfügbarem Einkommen nicht in eine Kindertagesstätte zu geben.

Aufgabe eines laufenden Evaluationsprojektes ist es, wissenschaftliche Grundlagen für die Beurteilung dieser Politikreform bereitzustellen.[4] Sozialwissenschaftliche Empirie beruht stets auf theoretischen Konzeptionen.[5] Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf diese Verknüpfung. Zunächst wird die Stellung der Thüringer Familien- und Bildungspolitik im Länderkontext skizziert und exemplarisch aufgezeigt, wie weit reichend die Wahl von Indikatoren und Untersuchungsparametern die Ergebnisse von Politikevaluationen bestimmt. Im zweiten Schritt wird die TFO in den Kontext der familien- und bildungspolitischen Diskussion gestellt. Auch diese Perspektive bekräftigt die Dynamik konzeptioneller Vorentscheidungen in der Politikevaluation. Darüber hinaus wird an dieser Kontextuierung aber auch deutlich, dass die TFO einen auch international beachtlichen Versuch bildet, die Brücke zwischen Familienerziehung und institutionellem Bildungsprozess neu zu justieren – ein ambitiöses Unterfangen, das bislang auch wissenschaftlichen Beobachtern nicht immer verständlich wurde, aber auch nicht als Rechtfertigung dienen kann, über Widersprüche und Fehlsteuerungen hinwegzusehen.

Im Juni 2008 veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung einen in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Jugendhilfestatistik (AKJ Stat) erstellten „Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme“, der für den Freistaat Thüringen ein eher ambivalentes bis kritisches Bild zeichnete.[6] Positiv wird vermerkt, dass Thüringen hinsichtlich der Teilhabequote von Kindern an Maßnahmen der institutionellen „FBBE“ (d.h. frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung) im Bundesdurchschnitt sehr hoch positioniert ist. So seien die vertraglich vereinbarten Betreuungszeiten im Bundesländervergleich „herausragend“: „Von den unter Dreijährigen sind 83 Prozent und von den älteren Kindern 88 Prozent täglich mehr als 7 Stunden in einer KiTa. In TH ist demnach im Bundesvergleich der größte Anteil von Kindern in Ganztagsbetreuung.“ Zudem liegt in Thüringen die „Teilhabequote“ der Zweijährigen bei fast 74 Prozent „und damit über dem Durchschnitt Ostdeutschlands. Zwischen 2006 und 2007 verringerte sie sich allerdings um über 6 Prozentpunkte. Die Teilhabe der Dreijährigen erhöhte sich zwischen 2006 und 2007 um 2,7 Prozentpunkte.“ Die Verringerung im dritten Lebensjahr könnte nun unmittelbar auf die TFO zurückgeführt werden, irritierend erscheint dann allerdings die Erhöhung am Ende des dritten Jahres.

Nach Daten des Statistischen Landesamtes Thüringen stieg zum Stichtag 15.3.2008 die KiTa-Besuchsquote der Zwei- bis Dreijährigen (von 2007 auf 2008) wieder auf 76,1 Prozent, während die Besuchsquote der Dreijährigen auf den Stand 2006 sank.[7] Die Interpretation dieser Daten ist nicht einfach. Zu vermuten sind Probleme der Kohortendefinition, beispielsweise ist es für Kinder, deren zweiter Geburtstag nach Schuljahresbeginn liegt – insbesondere für Kinder mit diesem Stichtag ab April eines Jahres – schwieriger unmittelbar danach eine KiTa- Platz zu erhalten, da die Einrichtungen diese Plätze nicht beliebig frei halten können. Durch die kindbezogene Kostenerstattung in Folge der TFO könnten nun Anpassungseffekte aufgetreten sein (rigidere Belegungsprüfung der Träger usf.), die sich unterdessen pragmatisch lösen ließen.

Im „Spitzenfeld“ liege Thüringen hinsichtlich der Nettoausgaben der öffentlichen Haushalte für diese Maßnahmen. Besonders hervorgehoben wird der Landesanteil, da in Thüringen „im Bundesländervergleich der höchste Finanzierungsanteil von einer Landesebene (ohne Berücksichtigung der Stadtstaaten) gezahlt wird.“ Dies erscheint eine wesentliche Information, zumal in der Diskussion um die TFO häufig ein Rückzug des Landes aus der finanziellen Verantwortung seit 2006 beklagt wurde. Im „Spitzenfeld“ befinde sich Thüringen schließlich auch hinsichtlich des formalen Qualifikationsniveaus des Personals in KiTas, „da fast 94 Prozent des pädagogischen Personals über einen Fachschulabschluss verfügen“.[8]

Kritisch beurteilt die Bertelsmann-Stiftung jedoch die Personalausstattung. Thüringen sei beim Personalschlüssel „sowohl für die Kinder unter drei Jahren als auch bei dem für die Nichtschulkinder über drei Jahren in die Gruppe der Bundesländer einzuordnen, die in den KiTas die schlechtesten Personalschlüssel haben und bei denen demnach deutlicher Verbesserungsbedarf besteht“. Nach Auskunft des Statistischen Landesamtes liegt der Personalschlüssel in Thüringen im Vergleich mit den anderen vier östlichen Bundesländern jedoch an der Spitze. Hier scheint es sich womöglich um ein Ost-West-Thema zu handeln, die hohe Versorgungsquote geht möglicherweise mit einer schlechteren Betreuungsrelation einher. Offen ist, ob die „Krippenoffensive“ der Bundesregierung dieses Problem nun auch in die alten Bundesländer exportiert.

Der in Thüringen – als einem von derzeit (2008) zwei Bundesländern – bereits ab vollendetem zweiten Lebensjahr bestehende Rechtsanspruch auf einen Platz in der FBBE (KiTa bzw. Tagesmutter) und damit der quantitative Ausbaustand der öffentlichen Kinderbetreuung wird, dies legt die Bertelsmann-Stiftung nahe, durch eine geringere Personalausstattung und in der Folge womöglich mit Qualitätsmängeln erkauft. Sie macht folgende Rechnung auf (Abbildung 1):[9]

XXXXXX Grafik
Quelle: Bertelsmann-Stiftung 2008, TH12A
Abbildung 1: Personalschlüssel und Erzieher-Kind-Relation in Thüringen, Bundesvergleich (2006)

Diese Darstellung erscheint allerdings bei genauerer Betrachtung weniger eindeutig. Angesichts des im Bundesländervergleichs weit überdurchschnittlichen KiTa- Besuchs vor allem im dritten Jahr müssten die drei Altersgruppen 0-1, 1-2, 2-3 gesondert ausgewiesen und verglichen werden, um ein Urteil über qualitative Versorgungsengpässe zu erlauben. Entsprechende Daten nennt die Bertelsmann-Stiftung nicht.[10] Dass hier wohl Probleme bestehen, kann an dem im Länderschnitt sehr niedrigen Personalschlüssel zwischen 3 Jahren und Schuleintritt abgelesen werden. Zwar könnte man auch hier einwenden, dass der hohe Ganztagsanteil in Thüringen die Personalwerte verzerre, doch bleibt dann die Frage, ob der Bildungsauftrag auch ganztags wahrgenommen werden kann.

Diese Frage erscheint vor dem Hintergrund des zum 1.8.2008 in Kraft getretenen „Thüringer Bildungsplan für Kinder bis 10 Jahre“ relevant. Der Bildungsplan umgeht Frage und Problem, indem er als „institutionenübergreifend und konzeptneutral angelegt“[11] definiert wird. Aus sozialwissenschaftlicher, politikevaluativer Perspektive erscheint freilich gerade die Verknüpfung pädagogischer und politischer Konzeptionen mit der institutionellen Realität wesentlich.

Insgesamt erscheint die Thüringer KiTa-Politik im Ländervergleich somit quantitativ ambivalent: ein hoher Versorgungsgrad geht mit unklaren Personalausstattungswerten einher. Die Folgen für die Qualität der KiTa-Erziehung sind ebenfalls unklar, belastbare Daten fehlen hierfür im Ländervergleich vollständig. Eine Evaluation der pädagogischen Leistungen von Kindertagesstätten wurde zwar mit dem von Wolfgang Tietze und Mitarbeitern bereits 2002 entwickelten „Nationalen Kriterienkatalog“[12] vorbereitet, doch eine den PISA-Studien wenigstens im Ansatz vergleichbare, prozessorientierte Bewertung der KiTas wurde bisher nicht unternommen. Die in der Presse irreführenderweise als „Baby-PISA“ bezeichnete OECD-Studie „Starting Strong“ (zuerst 2001) beruht in der zweiten Fassung von 2004, an der sich dann auch Deutschland beteiligte, auf dem „Besuch“ und „Besichtigungen“ einer Untersuchungsgruppe in fünf Bundesländern (darunter Thüringen)[13], nicht auf Primärerhebungen wie die etwa zeitgleich veröffentlichten PISA-Studien.

Bereits die Bertelsmann-Studie macht deutlich, dass die Wahl von Indikatoren und Parametern die Bewertung der Thüringer Familien- und Bildungspolitik massiv beeinflusst. Ein Spitzenergebnis erzielt Thüringen in dem im August 2008 präsentierten „Bildungsmonitor 2008“, der vom „Institut der deutschen Wirtschaft Köln“ im Auftrag der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)“ erstellt wurde.[14] Thüringen erreicht darin Platz drei, nach Sachsen und Baden-Württemberg.[15] Allerdings muss auch hier genauer beleuchtet werden, womit die Rangstellung begründet wird. Der Fokus dieses „Bildungsmonitors“ ist rein bildungsökonomisch, er fragt, „in welchen Bereichen des Bildungssystems Handlungsbedarf besteht, um die Bedingungen für Wirtschaftswachstum zu verbessern.“[16] Hierzu werden 13 Fragestellungen herangezogen, die teils klar mit unseren Fragen übereinstimmen (z.B. Betreuungsrelationen in Bildungseinrichtungen), aber auch Dimensionen als Urteilsgrundlage betrachten, über die ein fachlicher Diskurs ratsam erscheint (z.B. Reproduktion von Ingenieuren, „Zeiteffizienz“). Hier besteht die Gefahr, dass ein verengter Blick auf „ökonomisch kostbare Zeit“[17] die zudem individuell sehr unterschiedliche Entwicklungszeit von Kindern übersieht.

Sowohl die Studie der Bertelsmann-Stiftung, vor allem aber die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft stehen in einer seit Ende der 1990er Jahre auch international beachtlichen Konjunktur bildungs- und familienökonomischen Denkens. So beauftragte die rot-grüne Bundesregierung den Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bert Rürup, mit Gutachten zur Entwicklung auch der Familienpolitik.[18] Im Juni 2008 präsentierte das Bundesfamilienministerium eine ebenfalls vom „Institut der deutschen Wirtschaft“ erstellte „Sozialbilanz Familie“, die eine „ökonomische Analyse mit Schlussfolgerungen für die Familienpolitik“ beabsichtigt.[19] Bereits der 5. Familienbericht 1995 hat mit seiner Konzeptualisierung der Familie als Produktionsort von „Humankapital“ und „Humanvermögen“ einer ökonomischen Perspektive das Wort geredet, damals noch stark beeinflusst durch die integrative Perspektive des Familiensoziologen Franz-Xaver Kaufmann. Auch im 7. Familienbericht 2006 versuchten Soziologen wie Hans Bertram und Jutta Allmendinger die bildungs- und familienökonomische Emphase in Teilen der Medien und des Wissenschaftssystems zu mäßigen.[20] Gewiss haben ökonomische Perspektiven wie beispielsweise die Arbeiten des Nobelpreisträgers (2000) James J. Heckman[21] zu den langfristigen Effekten frühkindlicher Bildungsprogramme oder Studien über die Auswirkungen von Mutterschaftszeiten („maternal leave“) auf die Entwicklung kindlicher Leistungsfähigkeit[22] das Wissen um die gesellschaftliche Einbettung von Familie und pädagogischen Institutionen bereichert. Doch sie ruhen auf Parametern, die in anderen Disziplinen gewonnen werden und nur bei Einbeziehung von deren Erkenntnispotential zu gehaltvollen Evaluationen führen. So sind beispielsweise die Ergebnisse der letztgenannten Studie wenig gehaltvoll. Zwar hatten die Einführung des Erziehungsgeldes und seine Ausweitung seit den 1980er Jahren wohl keinen signifikanten Effekt auf Bildungs- und Arbeitsmarktkarrieren der Kinder. Das war aber auch nicht die Zielsetzung jener Politik. In Bezug auf die Kinder sollte sie eher sichere Bindungen unterstützen und damit einen individualisierten, flexiblen Sozialcharakter. Ob das gelang, lässt sich aber nicht aus Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturdaten ablesen.

Die im Auftrag der Thüringer Landesregierung erstellte Studie von André Habisch verortete im Herbst 2005 die TFO im Kontext der Familien- und Bildungspolitik.[23] Bemerkenswert erscheinen dabei drei Argumentationsstränge. Als erstes wird ein ökonomischer Argumentationsstrang verfolgt, in dem die gedankliche Figur der „Konsumentensouveränität“ die Position von Eltern als Teilnehmer auf einem Bildungsmarkt betont. Diese soll durch „Wahlfreiheit“ in einem von Objekt- auf die Subjektförderung umgestellten Bildungssektor erreicht werden. In dieser Perspektive erscheint sowohl die Subjektförderung durch das Thüringer Erziehungsgeld wie die Umstellung der KiTa- Finanzierung auf eine betriebswirtschaftlich bestimmte Nutzungsentgeltkonzeption durchaus sinnvoll. Der zweite Argumentationsstrang bemüht den internationalen Vergleich (Österreich, Finnland, Norwegen) um die Wahlfreiheit zwischen familiärer und institutioneller Kinderbetreuung als einen Königsweg zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Realisierung von Kinderwünschen und damit zur Erhöhung von Fertilitätsraten zu begründen. Der dritte Argumentationsstrang erkennt in der TFO einen „Systemwechsel zu einer Familienpolitik in der Bürgergesellschaft“, wobei vor allem die ordnungspolitische, subsidiäre Dimension betont wird: „Wenn dezentrale Einheiten (Kommunalpolitik, Betreuungseinrichtungen, Eltern) wirklich autonome Entscheidungen fällen sollen, dann müssen sie dazu ‚ermächtigt‘ werden (‚Empowerment‘).“[24]

Dass die Rezeption bei den Akteuren der Thüringer Familien- und Bildungspolitik nicht konfliktfrei erfolgte, kann an zwei Vorgängen exemplarisch gezeigt werden. Die Initiative „Volksbegehren für eine bessere Familienpolitik“ wurde im November 2005 gegründet und verfolgte auf einem hindernisreichen und vorläufig vom Thüringer Verfassungsgericht im Dezember 2007 gestoppten Weg die Zielsetzung: „Wir wollen den rigiden Sparkurs der Landesregierung in der Familienpolitik stoppen. Wir wollen ein Gesetz schaffen, das auch künftig allen Thüringer Kindern eine solide Betreuung in den Kindergärten und Grundschulhorten garantiert. Gleichzeitig wollen wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten, ohne Eltern und Kommunen finanziell zu überfordern.“[25]

Als Vertrauensmann der Initiative tritt ein CDU-Mitglied auf, wohl um zu demonstrieren, dass die Skepsis nicht allein auf die Oppositionsparteien beschränkt ist. Obgleich die Initiative zahlreiche Dokumente vorlegte, scheint die konzeptionelle Kritik über den Verweis auf einen der Landesregierung angelasteten Personalmangel („Mindestens 2000 Erzieherinnen fehlen in Thüringer Kindergärten“[26]) nicht wesentlich hinaus zu gehen. Einen weiteren Hinweis auf die bis in die Exekutive reichende Konflikthaftigkeit gibt die fehlende Erwähnung der TFO in der gesamten Diskussion um den „Thüringer Bildungsplan für Kinder bis 10 Jahre“. Weder im Bildungsplan selbst noch auf der die Diskussion dokumentierenden Homepage des für den Bildungsplan verantwortlichen Konsortiums[27] wird die TFO erwähnt. Da das Thüringer Kultusministerium sowohl für den Bildungsplan wie – gemeinsam mit dem Sozialministerium – für die TFO verantwortlich zeichnet, entsteht der Eindruck, dass Bildungs- und Familienpolitik entgegen der Zielsetzung der TFO seltsam entkoppelt werden.

Die beiden hier exemplarisch erwähnten Vorgänge der Skandalisierung und der Entkopplung können über die konkrete landespolitische Diskussion hinaus als Ausdruck tieferer Konflikte der Familien- und Bildungspolitik – und ungelöster Spannungen zwischen beiden Politikfeldern – interpretiert werden. In einer Diskussion des Siebenten Familienberichts der Bundesregierung beklagte Franz-Xaver Kaufmann die „fehlende Kohärenz der deutschen Familienpolitik“: „Diese Inkohärenz hat im Wesentlichen zwei Gründe: den nur zögerlichen und parteipolitisch umstrittenen Wandel von einem traditionellen zu einem modernisierten Familienbild einerseits und andererseits die Zersplitterung familienpolitischer Kompetenzen zwischen unterschiedlichen Ressorts des Bundes sowie zwischen Bund, Ländern und Kommunen.“[28] Die Unterscheidung von „traditionell“ und „modernisiert“ erscheint freilich grob, insbesondere vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte, wie sie für Thüringen als ein auch durch die DDR- Geschichte geprägtes Land folgenreich bleibt. In Abbildung 2 werden vereinfacht die vier die deutsche Familienpolitik seit der NS-Zeit prägenden Familien- und Familienpolitikkonzeptionen dargestellt.[29] Der deutsche „Sonderweg“ in der Familienpolitik begann mit dem nationalsozialistischen Leitbild des „Natalismus“, einer Unterordnung der Familienpolitik unter bevölkerungspolitische, rassistische Zielsetzungen und differenzierte sich dann in der DDR und der BRD in zwei polare Leitbilder auf. Während in der DDR das Leitbild der „Doppelverdienerehe“ maßgeblich war – das auch in Skandinavien und Frankreich bis heute prägend ist – orientierte sich die BRD am Leitbild der „Versorgerehe“. Mit der deutschen Einheit wurden beide Leitbilder durch ein als „Partnerfamilie“ beschreibbares Leitbild abgelöst. Für die Situation in Thüringen erscheint der deutsche „Sonderweg“ theoretisch wie empirisch folgenreich: sowohl die hohe Versorgungsquote wie die Deutungsmuster der beteiligten Akteure können nur vor dem Hintergrund der DDR-Tradition wie der folgenden Transformationserfahrung verstanden werden.

XXXXXX Tabelle

Diese historisch-normative Rekonstruktion der deutschen Familienpolitik muss zum besseren Verständnis um eine weitere differentielle Typologie ergänzt werden, die von Gøsta Esping-Andersen entwickelte und in der vergleichenden Sozialpolitikforschung breit rezipierte Theorie der „Wohlfahrtsregime“. Wohlfahrtsregime sind komplexe Strukturmuster der Sozialpolitik, insbesondere des Arbeitsmarktes, des Gemeinschaftssystems, vor allem der Familie, und der staatlichen Regulierung selbst. Esping- Andersen unterschied das liberale, das konservative und das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime. Neuerdings wird die Erweiterung von Esping-Andersens Typologie um ein „garantistisches“, am Bürgerstatus und eher universalistischen Teilhaberechten orientiertes Wohlfahrtsregime vertreten:[30]

  • das liberale Regime (Ziel: Leistungsgerechtigkeit) spiegelt sich in der auf die Selbstverantwortung der Versicherten setzenden Gewährleistungspraxis, in der Beschränkung des Umverteilungsvolumens, der vollständigen Entlastung des Faktors Arbeit, der Beitragsbezogenheit der Leistungen und in der Förderung von marktbezogenen Aktivitäten, insbesondere privater Vorsorge;
  • das sozialdemokratische bzw. sozialistische Regime (Ziel: Verteilungsgerechtigkeit) definiert sich über eine umfassende Abdeckung von Lebensrisiken der Marktgesellschaft, den Vorrang der Arbeitsmarktintegration als Teilhabeanspruch, die Einbeziehung der Arbeitgeber in die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit, die – wenngleich begrenzte – Lebensstandardsicherung, die Unterstützung von Vorsorgevereinbarungen der Tarifparteien bzw. der Gewerkschaften, die Umverteilung nach Leistungsfähigkeit und die voll eigenständige Sicherung von Frauen;
  • das konservative Regime (Ziel: Bedarfsgerechtigkeit) kommt zur Geltung in den Prinzipien der Subsidiarität familialen Unterhalts (Ausbildungsgeld, Grundsicherung, evtl. Paarrente), der Bedarfsbezogenheit beitragsunabhängiger Leistungen, der Beitragsbezogenheit fast aller Leistungen, dem Freiraum für berufsständische Formen der Zusatzsicherung und der Stärkung der Familienpolitik, insbesondere der Anerkennung der Familienarbeit als Leistungsäquivalent;
  • das garantistische Regime (Ziel: Teilhabegerechtigkeit) bestimmt die Anlage des Gesamtsystems als universalistische, alle Bürger umfassende Bürger- bzw. Volksversicherung, die Garantie einer Grundrente und eines Grundeinkommens, die Stärkung der Rechte von Kindern und jungen Menschen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme und generell die nicht-diskriminierende Statussicherung.

Der Ertrag dieser typologischen Betrachtung kann darin gesehen werden, dass die auch in den parteipolitischen Positionen enthaltenen Familienpolitikkonzepte gesellschaftspolitisch verortet und damit über die Dualität von „traditionell“ vs. „modernisiert“ hinaus als Varianten der Ordnungspolitik sichtbar werden. Die „Thüringer Familienoffensive“ erscheint in dieser Perspektive als modernisierte Variante im konservativen Regimetyp. Als modernisiert kann sie gelten, weil sie auf der Grundlage einer konservativen Politikkonzeption – mit dem Fokus auf die Anerkennung der Familienarbeit – Elemente der drei anderen Regimetypen einzubeziehen versucht: die liberale Idee der Marktsteuerung, die sozialdemokratische Idee staatlicher Versorgungsgarantie und die garantistische Idee universalistischer Zugänge, unabhängig vom Erwerbsstatus (bspw. im Thüringer Erziehungsgeld im Unterschied zur sozialdemokratischen Konzeption des lohnarbeitsbezogenen Bundeselterngeldes).

Kontroverse Dimensionen der Familien- und Bildungs­po­litik

Gleichwohl ist die konservative, mit DDR-Tradition bewusst brechende Politikgrundlage unverkennbar, was nicht nur die politischen Kontroversen plausibel macht. Die TFO greift in mehrere Dimensionen der Familien- und Bildungspolitik ein:

  • Anerkennung der Familienarbeit: Diese Dimension stellt zweifellos die prägnanteste und kontroverseste Orientierung der TFO dar. Zwar gehört die Anerkennung von Familienarbeitsleistungen als Leistungsäquivalent für die sozialen Sicherungssysteme zum Kernbestand des konservativen Wohlfahrtsregimetypus. Doch wäre es familienpolitikwissenschaftlich verfehlt, den Realgehalt dieser Forderung vorschnell abzutun.[31] Auf der Ebene der Politikimplementation gehört die Einführung des Erziehungsgeldes (1986), die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung wie das Bundeselterngeld (seit 2007) zu Maßnahmen, die die Familienarbeit als gesellschaftliche Arbeit konzipieren. Das Konzept eines „Erziehungsgehalts“ kann dabei als besonders differenzierte und weit reichende Maßnahme gelten.[32] Auf der politischen Ebene muss stutzig machen, dass beispielsweise Christa Müller als Vertreterin der Linkspartei für ein Erziehungsgehalt eintritt.[33] In der internationalen Debatte hat jüngst der an der UC Berkeley lehrende Neil Gilbert ein fulminantes Plädoyer für eine Anerkennung der Familienarbeit formuliert.[34] Diese Dimension verknüpft systematisch die Familienarbeit mit dem Arbeitsmarkt.
  • Familienleitbild: Die Rolle der Familie wird als zentral für die Gesellschaft definiert: „Die Thüringer Familienoffensive unterstützt Familien als die Keimzelle unserer Gesellschaft.“[35] Das Faltblatt der Landesregierung präsentiert auf der Titelseite eine „Normalfamilie“, Vater, Mutter, zwei Kinder. Implizit wird unter der Signatur der „Wahlfreiheit“ dafür plädiert, auch der „Ernährerfamilie“ mit nicht oder teilzeiterwerbstätiger „Hausfrau“ Normalitätsstatus zuzuerkennen und damit das in der BRD bis 1990 dominierte Familienleitbild auch in Ostdeutschland akzeptabel zu machen.
  • Gender Mainstreaming: Daraus ergeben sich im Kontext der Diskussionen um „Gender Mainstreaming“ (Geschlechtergerechtigkeit) frauen- bzw. geschlechterpolitische Positionierungen, die Elisabeth Beck-Gernsheim als Privatisierung der Entscheidung für Kinder, als „Pflicht zur bewussten Entscheidung“ beschreibt: „Und diese Pflicht trifft nun vor allem die Frauen. Sie sind es, die mit dem ‚Störfall Kind‘ verantwortungsbewusst umgehen sollen, damit ihre Chancen im Bildungssystem und in der Berufswelt nicht eingeschränkt werden. Sie sollen Mutterschaft so unauffällig und so effizient wie möglich organisieren – dafür, so die Verheißung, dürfen sie dann auch an den Segnungen der Moderne teilhaben.“[36] Es wird zu untersuchen sein, inwieweit eine Politik der Anerkennung der Familienarbeit diese Privatisierung zuspitzt oder gezielt die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Frauen zur Geltung kommen lässt, nochmals Beck-Gernsheim: „Die Umsetzung vorhandener Kinderwünsche setzt eine Familienpolitik voraus, die den Wandel der Geschlechterverhältnisse nicht abzubremsen versucht, sondern im Gegenteil aktiv unterstützt.“[37]
  • Kindzentrierung: Seit den 1990er Jahren wird zunehmend eine „kindzentrierte Perspektive“ in der Familienpolitik eingefordert[38], teilweise werden „Kinderpolitik“ und „Frauenpolitik“ als individualisierte Alternativen zur Familienpolitik postuliert. Bereits der Begriff „Familienoffensive“ grenzt sich explizit von diesen Tendenzen zu einer „Familienmitgliederpolitik“[39] ab.
  • Bildung nach PISA: Die neuere bildungspolitische Diskussion „nach PISA“ konzentriert sich auf in institutionalisierten Bildungssettings messbare Leistungskennwerte nach dem Modell des Benchmarking.[40] Zwar wird, wie beispielsweise im „Thüringer Bildungsplan“ die „Kooperation mit den Eltern“, eine „Erziehungspartnerschaft“[41] eingefordert, die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses von Familien- und KiTa- bzw. schulischer Erziehung bleibt jedoch in der Regel vage. Die TFO versucht hier zumindest eine Kopplung der Bildungssysteme in der frühen Kindheit, einerseits durch die Verschränkung von KiTa-Finanzierung und Thüringer Erziehungsgeld, andererseits durch die Förderung der Familienbildung (Landesstiftung „FamilienSinn“).
  • Gerechtigkeitsvorstellungen: Es ist Ziel der TFO, der Situation von Familien mit kleinen Kindern gerecht zu werden. Diese Zielsetzung befindet sich im Spannungsfeld von zumindest drei Dimensionen des aktuellen öffentlichen Diskurses um politische Gerechtigkeit: Der Forderung nach „Generationengerechtigkeit“ (d.h. der Reduzierung der sozialpolitischen Benachteiligung von Kindern gegenüber der älteren Generation); der Befürchtung einer Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen zuungunsten sozialökonomisch schwächerer Gruppen und der Verteilungsauseinandersetzung zwischen den westlichen und den östlichen Bundesländern in der Familienpolitik angesichts der unterschiedlichen Versorgungsquoten.
  • Frühkindliche Entwicklung: Die Stärkung der familialen Erziehung in den ersten drei Lebensjahren ist ein ausdrückliches Ziel der TFO. Die Ergebnisse der Bindungsforschung stärken diese Position.[42] In einem Memorandum der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zum Krippenausbau in Deutschland wird betont: „das Kind bindet sich immer, weil es Bindungen braucht, um seelisch zu wachsen. Jeder Krippenwechsel oder Wechsel einer Tagesmutter bedeutet für das Kind eine erneute Erfahrung von Bindungsverlust.“[43] Die Folgerung: „Analog zur ‚Schulreife‘ sollte die ‚Krippenreife‘ für jedes Kind individuell beurteilt werden, um Traumatisierungen zu vermeiden.“[44] Damit diese individuelle Beurteilung möglich wird, sind institutionell gesicherte Freiräume für die Eltern erforderlich. Diese Perspektive war in der deutschen Familienpolitik – vor allem in Westdeutschland – mit dem Vorwurf eines konservativen Familien- und Mutterbildes verknüpft worden. Sie unterscheidet sich durchaus von der im Gutachten von Habisch postulierten „Wahlfreiheit“, die ausschließlich über die „Konsumentensouveränität“ begründet wird. Vielmehr nimmt die bindungstheoretische Perspektive konsequent die Entwicklungs-Interessen der Kinder in den Blick.

Ist Geld mit Liebe möglich?

Die Diskussion des Thüringer Beispiels kann zeigen, dass die Alternative „Geld oder Liebe“ trügerisch erscheint. Die zu Recht geforderte Verschränkung von Familien- und Bildungspolitik macht vor allem deutlich, dass in die frühkindliche Erziehung erheblich mehr gesellschaftliche Ressourcen investiert werden müssen. Während konservative Politik die „Wahlfreiheit“ zwischen familiärer und institutioneller Erziehung betont, in Thüringen auf durchaus hohem Niveau, bleibt die Wahlfreiheit der Erziehenden, vor allem der Mütter, noch immer ein Desiderat. Wir haben eingangs die starke These vertreten, dass das Bundeselterngeld mit der Reform 2007 eine Ausweitung der Erwerbszentrierung auf die Familienpolitik bedeutet. In der weiteren Argumentation konnten wir zeigen, dass das Thüringer Landeserziehungsgeld gegenüber dem Erwerbsverhalten der Eltern neutral scheint. Unklar ist derzeit, ob diese konzeptionellen Differenzen Effekte auf die geschlechtliche Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft und auf den Erziehungserfolg haben werden. Hier ist empirische Forschung nötig. Mary Ann Mason hat mit ihrem Forschungsprogramm „Do Babies Matter?“ einen verzweifelten und zugleich hoffnungsvollen Blick in die demokratiepolitische Wunde gerichtet, wonach Mütter durch ihre Kinder aus respektablen Ausbildungs-und Berufskarrieren gefegt werden: „Während die ‚opting out‘-Story die Aufmerksamkeit der Medien erlangt, besteht die größere und vielleicht wichtigere Story darin, dass weit mehr Frauen in eine amorphe Säule ihrer Profession oder in eine marginalisierte Teilzeit-Spur eingesteuert werden.“[45] Ihre Hoffnung richtet sich auf die jungen Frauen: „Dies kann die Generation werden, die die Arbeitswelt mit der Stimme ihrer Füße ändert, darauf besteht, dass die Arbeitswelt ein Platz für Familien ist, anstelle dass die Familien sich der Arbeitswelt anpassen. Dies kann die Generation werden, dass jede Zeit eine gute Zeit ist, und sein sollte, um ein Baby zu bekommen.“[46] Liebe braucht auch Geld.

[1] Dazu Wimbauer 2003. Die Rede von Liebe im Zusammenhang mit der Produktion sozialer Dienstleistungen geht zurück auf Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Helfenden Beziehungen liegen Kommunikationsmuster zugrunde, die in der christlichen Tradition als „Nächstenliebe“ konnotiert sind. Darüber hinaus gilt für familieninterne wie familienexterne Dienstleistungen, dass sie stets mehrere Funktionen erfüllen; eine wesentliche dabei ist die Herstellung und Sicherung affektiver Bindungen (siehe Opielka 2008: 102ff.). Die geschlechtsspezifische Produktion von Sorge (care, care-work) ist dabei nicht deckungsgleich mit Liebe, der Begriff „care“ wird in der Literatur eher im deskriptiven oder politisch-ökonomischen Sinn gebracht. Hier wird der Begriff Liebe im weiten, soziologischen und theologisch-philosophischen Sinn verwendet. Zur Verwendung des Liebesbegriffs in der geschlechtlichen Arbeitsteilung siehe Krebs 2002.

[2] Stolz-Willig 1998.

[3] Die Welt v. 21.9.2008.

[4] Das Forschungsprojekt wird vom Verfasser gemeinsam mit Michael Winkler (FSU Jena) geleitet (Mitarbeiter: Anja Müller, Matthias Müller, Steffen Grosskopf). Der Endbericht wird im Frühjahr 2009 veröffentlicht.

[5] Ostner 2007.

[6] Bertelsmann-Stiftung 2008 (der Länderbericht enthält keine Seitenzahlen).

[7] Thüringer Landesamt für Statistik 2008: 8f.; hinzu kommen Kinder in Kindertagespflege (0,6% der 2-3jährigen).

[8] Bertelsmann-Stiftung 2008.

[9] ebd., Fragestellung TH 12.

[10] Diese werden auch in Thüringer Landesamt für Statistik 2008 nicht ausgewiesen.

[11] TKM 2008: 10.

[12] Tietze/Viernickel 2007.

[13] OECD 2004: 7.

[14] Plünecke u.a. 2008.

[15] ebd.: 99ff.

[16] ebd.: S. 4.

[17] ebd.: S. 5.

[18] Rürup/Gruescu 2004.

[19] BMFSFJ 2008.

[20] BMFSFJ 2006.

[21] Heckman 2008.

[22] Dustmann/Schönberg 2008.

[23] Habisch 2005.

[24] Habisch 2005: 53.

[25] http://www.bessere-familienpolitik.de

[26] ebd.

[27] http://www.thueringer-bildungsplan.de

[28] Kaufmann 2007: 383.

[29] Dazu ausführlich Opielka 2008: 116ff.

[30] Opielka 2008: 34ff.

[31] Zum Überblick Netzler/Opielka 1998.

[32] Hierzu ausführlich Opielka/Leipert 1998.

[33] Müller 2007, erschienen in einem katholischen Verlag.

[34] Gilbert 2008.

[35] Faltblatt „Thüringer Familienoffensive“ der beiden beteiligten Ministerien, Punkt 8.

[36] Beck-Gernsheim 2008: 29.

[37] ebd.: 31.

[38] Jurczyk/Olk/Zeiher 2004.

[39] Dienel 2002: 44ff.

[40] Winkler 2005.

[41] TKM 2008: 42.

[42] Grossmann/Grossmann 2004.

[43] DPV 2008: 203.

[44] ebd.: 204.

[45] Mason 2008: 90 (Übers. M.O.).

[46] ebd.: 96.

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