Besser als ihr Ruf
Zur Kriminalitätsentwicklung bei nichtdeutschen und deutschen Jugendlichen
aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 89-103
Eine am 20. Dezember 2007 von einer Überwachungskamera gefilmte Gewalttat zweier junger Männer hat in den darauf folgenden Wochen die öffentliche Debatte zur Jugendgewalt in Deutschland stark bestimmt. Bei den Tätern handelte es sich um zwei junge Migranten türkischer bzw. griechischer Herkunft. Da der Film mit der extrem brutalen Gewaltszene über Tage hinweg in vielen Nachrichtensendungen gezeigt wurde, entstand schnell die These, die Ausländerkriminalität sei die zentrale Bedrohung für unsere innere Sicherheit. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch behauptete, dass jede zweite Gewalttat, die von Jugendlichen bzw. Heranwachsenden begangen wird, auf das Konto von Tätern mit Migrationshintergrund gehe. Die Konsequenz müsse sein, Intensivtäter aus Deutschland abzuschieben. Die Instrumentalisierung dieses Themas zu Wahlkampfzwecken hat nicht funktioniert; die hessische CDU hat im Vergleich zur Wahl 2003 zwölf Prozentpunkte verloren.
Nichtsdestotrotz bleibt das Thema auch weiterhin in der öffentlichen Diskussion. Dies kann als Ausdruck dafür gewertet werden, dass sich in Deutschland mittlerweile stärker mit den Konsequenzen von Migrationsprozessen beschäftigt wird. Denn nicht zu bezweifeln ist, dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist, in das zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten verschiedene ethnische Gruppen immigriert sind. Die heranwachsende Kinder- und Jugendgeneration verkörpert das Resultat dieser Einwanderungsprozesse, d.h. die ethnische Vielfalt Deutschlands: In einer im Jahr 2005 durchgeführten Schülerbefragung der neunten Jahrgangsstufe in westdeutschen Großstädten und Landkreisen haben wir zeigen können, dass über ein Drittel der 15jährigen Jugendlichen einen Migrationshintergrund besitzt (Baier/Pfeiffer 2007). Fast jeder zehnte Jugendliche hat dabei eine türkische Herkunft, jeder zwanzigste eine russische. Freilich existieren hier deutliche regionale Unterschiede, insofern in Großstädten fast die Hälfte der Jugendlichen eine nichtdeutsche Herkunft aufweist, in Landkreisen nur jeder fünfte, in ostdeutschen Gebieten sogar nur jeder zwanzigste.[1]
Mit der Migrationserfahrung bzw. mit dem Migrationsstatus verbinden sich verschiedene physische, psychische und soziale Belastungen. Die Belastungen sind – wie in anderen Disziplinen wie z.B. der Entwicklungspsychologie oder der Gesundheitswissenschaft – auch in der kriminologischen Diskussion seit längerem ein Thema, und zwar im Hinblick darauf, inwieweit sie für die Entstehung kriminellen bzw. gewalttätigen Verhaltens verantwortlich sind (vgl. u.a. Albrecht 2001, Drewniak 2004). Anliegen dieses Beitrages soll es deshalb erstens sein, Informationen darüber zu liefern, wie sich die Kriminalität von deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen in den letzten Jahren entwickelt hat. Hierbei greifen wir auf zwei Quellen zurück: die Polizeilichen Kriminalstatistiken (sog. Hellfeld) und wiederholte Schülerbefragungen (sog. Dunkelfeld). Da sich unabhängig von der gewählten Quelle zeigt, dass insbesondere im Bereich der Gewaltdelikte nichtdeutsche Jugendliche häufiger als Täter in Erscheinung treten, soll anschließend untersucht werden, welche Faktoren hierfür verantwortlich sind und welche Entwicklungen sich für diese Faktoren zeigen.
Erkenntnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik
Polizeiliche Kriminalstatistiken sind nur bedingt geeignet, Vergleichsanalysen zur Kriminalitätsbelastung von jungen Migranten und jungen Deutschen vorzunehmen. Da bei der polizeilichen Registrierung von Tatverdächtigen deren Nationalität erfasst wird, nicht jedoch ihre ethnische Herkunft, werden eingebürgerte Jugendliche als Deutsche registriert.[2] Zu beachten ist zudem, dass junge Ausländer nach übereinstimmenden Befunden mehrerer Untersuchungen im Vergleich zu einheimischen jungen Deutschen ein höheres Risiko haben, wegen ihrer Gewalttaten angezeigt und danach dann als Tatverdächtige polizeilich registriert zu werden. Dies gilt insbesondere für die häufige Konstellation, dass Opfer und Täter unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehören (vgl. Wilmers et al. 2002, Mansel 2003, Pfeiffer et al. 2005). Längsschnittanalysen zur polizeilich registrierten Gewaltbelastung von jungen Ausländern und jungen Deutschen werden auch dadurch erschwert, dass es sich bei der wachsenden Gruppe von eingebürgerten jungen Migranten um Personen mit spezifischen sozialen Merkmalen handelt. Damit sie als Mitglied ihrer Familie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, müssen ihre Eltern sozial gut integriert sein und dürfen keine Vorstrafen aufweisen. Als Folge dieser Positivselektion erhöht sich wiederum unter den Ausländern der Anteil derjenigen, die sozialen Randgruppen angehören.
Dennoch sind die Kriminalstatistiken bislang die einzige Datenquelle, die über längerfristige Entwicklungstrends informiert. In Abbildung 1 ist getrennt für deutsche und nichtdeutsche Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre) die Entwicklung im Bereich aller Straftaten sowie in Abbildung 2 die Entwicklung im Bereich der Gewalttaten anhand der Tatverdächtigenbelastungsziffer (TVBZ) dargestellt. Diese Ziffer gibt an, wie viele Jugendliche von 100.000 der Altersgruppe als Täter in Erscheinung getreten sind. Dabei können wir eine Fehlerquelle nicht kontrollieren: Unter den ausländischen Tatverdächtigen befinden sich auch Touristen, Illegale oder andere in Deutschland lebende Personen mit ausländischem Pass, die sich vorübergehend im Land aufhalten. Sie werden nur von der Polizei registriert, nicht aber in der Bevölkerungsstatistik. Die TVBZ fällt bei Ausländern deswegen generell zu hoch aus (vgl. Pfeiffer et al. 2005, S. 17ff). Bei Jugendlichen kommt diesem Verzerrungsfaktor jedoch etwas geringere Bedeutung zu als bei Erwachsenen, weil der Anteil der 14-bis unter 18-Jährigen an dieser Personengruppe relativ niedrig ausfällt.
Betrachten wir zunächst die Trends im Bereich aller Straftaten insgesamt, so zeigen sich für deutsche wie für nichtdeutsche Jugendliche bis 1999 dieselben Entwicklungen: Bei beiden Gruppen steigt die Kriminalitätsrate, wobei der Anstieg bei nichtdeutschen Jugendlichen (10 %) geringer ausfällt als bei deutschen Jugendlichen (40 %). Nach 1999 sinkt bei den nichtdeutschen Jugendlichen die TVBZ für alle Straftaten bis 2007 um 18 %, bei deutschen Jugendlichen bleibt sie weitestgehend konstant (minus 3 %). Dies hat zur Folge, dass der Anteil nichtdeutscher Täter an allen Tätern von 27,6 auf 16,6 % zurückgeht. Während also 1993 noch jeder vierte jugendliche Straftäter ein nichtdeutscher Jugendlicher war, war es vierzehn Jahre später nur mehr jeder sechste.
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Ein ähnlicher Trend in Bezug auf den Anteil nichtdeutscher Täter lässt sich hinsichtlich der Gewaltkriminalität konstatieren, worunter die Delikte Mord/Totschlag, Raub, gefährliche/schwere Körperverletzung und Vergewaltigung subsummiert werden. Im Jahr 1993 hatten noch 30,8 % aller Jugendgewalttäter eine ausländische Herkunft, 2007 waren es 22,6 %. Dennoch ergibt sich bei beiden Gruppen ein Anstieg der TVBZ, der allerdings für nichtdeutsche Jugendliche schwächer ausfällt als für deutsche Jugendliche: 1993 lag die TVBZ für Gewaltkriminalität bei nichtdeutschen Jugendlichen bei 1.605 und bei deutschen Jugendlichen bei 487; 2007 ist sie bei nichtdeutschen Jugendlichen auf 2.962 und bei deutschen Jugendlichen auf 1.086 gestiegen. Dies entspricht bei den nichtdeutschen Jugendlichen einem Anstieg von 85 %, bei den deutschen Jugendlichen hingegen von 123 %. Ein möglicher Grund für die Annäherung der beiden Gruppen könnte sein, dass eine steigende Zahl von in Deutschland lebenden Aussiedlerjugendlichen, bei denen vor allem die Jungen durch eine überdurchschnittliche Gewaltbereitschaft auffallen (Haug/Baraulina/Babka von Gostomski 2008, S. 20ff; Pfeiffer et al. 2005, S. 45ff), in der Statistik als Deutsche geführt werden.
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Obwohl der Anteil nichtdeutscher Gewalttäter über die Jahre deutlich zurückgegangen ist, gehört dieser Delikttyp weiterhin zu jenen Straftaten, die durch einen besonders hohen nichtdeutschen Täteranteil gekennzeichnet sind. Beschränken wir uns auf das Jahr 2007, dann zeigt sich, dass insbesondere die beiden Gewaltdelikte Raub und Vergewaltigung zu einem überproportional hohen Anteil von nichtdeutschen Tätern verübt werden: Während in der Statistik nur 9,6 % der in Deutschland lebenden Jugendlichen als Ausländer ausgewiesen werden, betrug deren Anteil an den Raubtätern 28,3 %, an den als Täter von Vergewaltigungen erfassten Jugendlichen sogar 30,7 %. Noch höher fällt dieser Anteil nur bei den Verstößen gegen das Ausländergesetz (99,0 %) und beim Taschendiebstahl (42,9 %) aus. Allerdings gibt es auch nur ein Delikt in der Kriminalstatistik, bei dem der Anteil nichtdeutscher Täter in etwa dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht: Im Bereich der Sachbeschädigungen betrug dieser Anteil 9,3 % im Jahr 2007. Bei anderen im Jugendalter recht weit verbreiteten Delikten liegt der Anteil 1,5bis 2mal höher als der entsprechende Bevölkerungsanteil (z.B. Betrug: 22,6 %, Ladendiebstahl: 16,3 %, Beleidigungen: 13,7 %, Drogendelikte: 12,0 %).
Die Kriminalstatistik zeichnet damit ein differenziertes Bild zur polizeilich registrierten Kriminalitätsbelastung von nichtdeutschen Jugendlichen. So ist festzuhalten, dass es innerhalb der letzten 14 Jahre nicht zu einem überproportionalen Anstieg der Kriminalität von jungen Ausländern gekommen ist. Ganz im Gegenteil: Die TVBZ- Unterschiede werden schrittweise kleiner. Auf 100.000 nichtdeutsche Jugendliche entfallen 2007 weniger Straftaten als noch 1993, bei deutschen Jugendlichen ist hingegen ein Anstieg festzustellen. Gewaltdelikte werden von beiden Gruppen häufiger ausgeführt. Der Anstieg fällt aber auch hier bei den deutschen Jugendlichen stärker aus. Dennoch hat der Befund weiterhin Bestand, dass Gewaltkriminalität den Kriminalitätsbereich mit einem besonders hohen Anteil nichtdeutscher Täter darstellt, wobei die These, dass jeder zweite tatverdächtige Gewalttäter unter 21 Jahren ein Nichtdeutscher ist, keinesfalls mit der Realität in Einklang steht.
In einer gesonderten Analyse der Kriminalstatistik konnten wir zeigen, dass die türkischen Jugendlichen durch eine besonders hohe TVBZ bei Gewalttaten auffallen. Sie übersteigt die der Deutschen um das 3,5-fache und die aller Nicht-Deutschen um 19 %. Im Ergebnis hatte danach in 2006 gut jeder zehnte von der Polizei wegen eines Gewaltdelikts registrierte jugendliche Tatverdächtige eine türkische Nationalität. Ihr Bevölkerungsanteil liegt in der Altersgruppe dagegen nur bei 3,4 % (vgl. Baier/Pfeiffer 2008). Da in der Polizeilichen Kriminalstatistik aber nur Delikte auftauchen, die angezeigt werden und da insbesondere Jugendgewaltdelikte u.a. auf Grund ihres meist bagatellhaften Charakters häufig im Dunkelfeld verbleiben, erscheint es notwendig, die Befunde der Kriminalstatistik mittels anderer Quellen zu überprüfen. Hierzu können wiederholte Befragungen unter Jugendlichen herangezogen werden.
Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld
Bislang existieren keine deutschlandweit repräsentativen Dunkelfeldbefragungen, sondern nur Erkenntnisse zur Entwicklung der Delinquenz[3] von Jugendlichen in ausgewählten Großstädten. Insofern können die bisherigen Dunkelfeldstudien die Schwachstellen der Kriminalstatistik nicht vollständig beheben. Für Hamburg berichten Block et al. (2007, S. 160f), dass es zwischen 1998 und 2005 vor allem bei den deutschen Jugendlichen zu einer Abnahme der Gewaltbereitschaft gekommen ist: Während 1998 noch 21,3 % der Deutschen mindestens eine Gewalttat begangen haben (Gewaltprävalenz), waren es sieben Jahre später nur noch 15,6 %. Die Mehrfach-Gewalttäterquote (fünf und mehr Gewalttaten) hat sich von 6,0 auf 3,3 % reduziert. Bei einigen Gruppen nichtdeutscher Jugendlicher sind hingegen kaum Veränderungen eingetreten. Von den türkischen Jugendlichen gehörten 1998 37,0 % zu den Gewalttätern, 2005 34,1 % (Mehrfachtäter: von 14,6 auf 11,1 %); bei nichteuropäischen Ausländern betragen die Quoten 26,3 und 27,7 % (Mehrfachtäter: 11,6 und 8,1 %).
Für weitere Städte ermöglichen die Befragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen vertiefende Einblicke in die Entwicklung des delinquenten Verhaltens von deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen. In den Jahren 1998 und 2005 bzw. 2006 wurden jeweils zu Beginn eines Jahres in den Städten Schwäbisch Gmünd, Stuttgart, München und Hannover Jungen wie Mädchen der neunten Jahrgangsstufe (Durchschnittsalter: 15 Jahre) mit einem standardisierten Fragebogen befragt.[4] In Schwäbisch Gmünd wurden immer Vollerhebungen durchgeführt, also alle Jugendlichen neunter Klassen untersucht; in den anderen drei Großstädten wurden Stichproben gezogen, wobei zumindest etwa jeder dritte Schüler einer Jahrgangsstufe erreicht werden sollte.[5] In den einzelnen Gebieten werden für den Trendvergleich dabei nur jene Schüler herangezogen, die über alle Befragungszeitpunkte hinweg in gleichen Schulformen unterrichtet wurden (N=20.062). In München und Schwäbisch Gmünd werden also nur Haupt- und Realschüler sowie Gymnasiasten berücksichtigt, in Stuttgart zusätzlich noch Waldorfschüler, in Hannover Gesamtschüler.[6]
Die ethnische Herkunft wurde zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten teilweise durch unterschiedliche Fragen erfasst. Zur Bestimmung der Herkunft können deshalb nur diejenigen Fragen herangezogen werden, die zu allen Zeitpunkten und in allen Gebieten gestellt wurden. Dabei handelt es sich um die Frage nach der Staatsangehörigkeit bei der eigenen Geburt sowie die Frage nach der aktuellen Staatsangehörigkeit. Wenn bei einer dieser Fragen eine nichtdeutsche Herkunft angegeben wurde, wurde der Befragte entsprechend der Zugehörigkeit als nichtdeutsch klassifiziert.[7] Damit weicht die gewählte Bildungsvorschrift von der Kriminalstatistik ab, da auch Jugendliche als nichtdeutsch klassifiziert werden, die aktuell deutscher Staatsangehörigkeit sind, früher aber einmal eine andere Staatsangehörigkeit besessen haben.
Zu allen Erhebungszeitpunkten und in allen Erhebungsgebieten wurden verschiedene delinquente Verhaltensweisen erfragt. Die Ergebnisse zum Gewaltverhalten sind in der nachfolgenden Abbildung 3 dargestellt. Dabei gehen die Delikte Raub, Körperverletzung, Erpressung und Bedrohung mit Waffen in den Gesamtindex „Gewaltverhalten“ ein; eine vollkommene Entsprechung mit der Kriminalstatistik ist insofern also nicht gegeben. Entgegen den Befunden dieser Statistik weisen die Ergebnisse der KFN-Schülerbefragungen auch keinen Anstieg, sondern einen Rückgang der Jugendgewalt aus. Alle vier Befragungsgebiete zusammen betrachtet zeigt sich, dass deutsche Jugendliche aktuell nur mehr zu 13,8 % angeben, eine Gewalttat in den zurückliegenden zwölf Monaten begangen zu haben; 1998 waren dies noch 17,5 %. Bei den nichtdeutschen Jugendlichen fällt der Rückgang etwas geringer aus (von 25,9 auf 24,4 %). Bei Ausdifferenzierung der einzelnen ethnischen Gruppen zeichnet sich in erster Linie bei den türkischen und jugoslawischen Jugendlichen ein leichter Rückgang der Gewaltbereitschaft ab; bei den osteuropäischen und anderen Jugendlichen8 sind die Täteranteile gleich geblieben. Zu beachten sind die unterschiedlichen Trends in den vier Städten. Für deutsche Jugendliche gilt, dass die Bereitschaft zum Begehen von Gewalttaten überall gesunken ist. Bei nichtdeutschen Jugendlichen zeigt sich solch eine Entwicklung vor allem in Schwäbisch Gmünd und Hannover. In München ist demgegenüber ein leichter Anstieg der Gewaltbereitschaft festzustellen.
Ein Anstieg ist in München auch für den Anteil an nichtdeutschen Mehrfach-Gewalttätern festzustellen: Er hat von 6,1 auf 8,9 % zugenommen; bei den deutschen Jugendlichen hat er hingegen von 4,1 auf 3,1 % abgenommen. Diese negative Entwicklung zeigt sich hauptsächlich bei den türkischen und bei den osteuropäischen Jugendlichen: Der Mehrfach-Gewalttäteranteil der türkischen Schüler hat sich in München von 6,0 auf 12,4 % erhöht, der der osteuropäischen Schüler von 5,0 auf 9,7 %. In Hannover hat sich die Mehrfachtäterquote bei den türkischen Jugendlichen hingegen von 15,3 auf 7,2 % halbiert, in Stuttgart ist sie von 13,4 auf 9,4 % gefallen. Zunehmende Täteranteile bei nichtdeutschen Jugendlichen finden sich in keiner der sonst einbezogenen Städte: In Schwäbisch Gmünd hat sich der Mehrfach-Gewalttäteranteil unter den Nichtdeutschen mehr als halbiert (von 14,1 auf 6,2 %), in Hannover und Stuttgart um mindestens 30 % gesenkt (Hannover: von 10,6 auf 6,4 %; Stuttgart: 10,6 auf 7,5 %). Deutsche Mehrfachgewalttäter sind mittlerweile in allen Städten seltener zu finden.
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Diese im Dunkelfeld zu findende Entwicklung der Gewaltdelinquenz widerspricht der Hellfeldstatistik in doppelter Weise: Erstens belegt sie einen Rückgang der Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen, während die Kriminalstatistik seit Jahrzehnten einen Anstieg der Tatverdächtigenbelastungsziffern (TVBZ) aufweist. Zweitens gelten die positiven Entwicklungen stärker für die deutschen als für die nichtdeutschen Jugendlichen. Im Hellfeld hat sich die Schere zwischen beiden Gruppen sukzessive geschlossen, da die TVBZ für deutsche Jugendliche schneller zunimmt als für nichtdeutsche Jugendliche. Im Dunkelfeld scheint sich die Schere hingegen zu öffnen, da der Abstand zwischen den Deutschen und den Nichtdeutschen im Bereich der Gewaltprävalenz über die Jahre von 8,4 % auf 10,6 % angewachsen ist.[9] In einem Punkt entsprechen sich die beiden Statistiken dennoch: Nichtdeutsche Jugendliche vor allem türkischer und jugoslawischer Herkunft treten deutlich häufiger als Gewalttäter in Erscheinung als deutsche Jugendliche.
Für die erste Divergenz zwischen Dunkelfeld- und Hellfelddaten kann eine veränderte Anzeigebereitschaft verantwortlich gemacht werden. Während bspw. 1998 noch 14,8 % aller Körperverletzungen ohne Waffen der Polizei gemeldet wurden, waren es 2005/06 fünf Prozentpunkte mehr (19,7 %). Auch bei den Raubdelikten und sexuellen Gewalttaten zeigt sich eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft. Dabei hat sich diese vor allem in den Großstädten erhöht (vgl. Baier 2008, S. 17ff). Sowohl für deutsche als auch für nichtdeutsche Jugendliche ist eine solche Veränderung der Anzeigebereitschaft feststellbar. Wenn aber aus einem gleich bleibenden oder leicht sinkenden Dunkelfeld von Jahr zu Jahr ein größer werdender Anteil an Taten ins Hellfeld gelangt, dann erscheint dies in Kriminalstatistiken als Zunahme der Gewalt.
Die zweite Divergenz zwischen Dunkelfeld- und Hellfelddaten ist weniger einfach zu erklären. Vor allem in Bezug auf die deutschen Jugendlichen gehen die Befunde zu beiden Statistiken auseinander. Möglich ist, dass die in der Schülerbefragung als deutsche Jugendliche bestimmte Personengruppe zu wenige Migranten, d.h. Jugendliche mit ehemals nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, enthält. Unterscheiden wir deshalb die deutschen und die nichtdeutschen Jugendlichen nur mehr anhand ihrer aktuellen Staatsangehörigkeit voneinander, ergibt sich ein Rückgang der Gewaltprävalenz bei den deutschen Jugendlichen von 18,2 auf 15,0 % (nichtdeutsch: von 26,5 auf 24,6 %). Die Entwicklung fällt damit etwas weniger dynamisch für die deutschen Jugendlichen aus, nichtsdestotrotz bleibt eine deutliche Divergenz zu den Hellfelddaten bestehen. Eine zweite Erklärung könnte daher lauten, dass sich die Anzeigebereitschaft entsprechend der Herkunft der Täter verändert hat: Wenn bspw. deutsche Täter heute häufiger angezeigt werden als früher, dann würde dies auch den stärkeren Anstieg im Hellfeld erklären. Die empirischen Befunde stützen diese Überlegung. Bei Beschränkung auf Körperverletzungsdelikte zeigt sich in den Daten der Schülerbefragung, dass Täter einer deutschen Herkunft 1998 zu 14,4 % angezeigt wurden, sieben Jahre später bereits zu 22,5 %, für Täter nichtdeutscher Herkunft bzw. für gemischtethnische Tätergruppen gibt es eine solche Entwicklung nicht (nichtdeutsch: 18,5 zu 18,3 %; gemischt: 23,7 zu 24,1 %). Diese Zunahme der Anzeigebereitschaft bei deutschen Tätern hat es sowohl bei den deutschen als auch bei den nichtdeutschen Opfern gegeben. Dies spricht dafür, dass Gewalt von und unter deutschen Jugendlichen heute einer stärkeren Kontrolle unterliegt und auch in diesen Fällen häufiger auf formelle Regelungen der Konfliktverarbeitung zurückgegriffen wird.
Betrachten wir neben den Gewalttaten auch andere Formen delinquenten Verhaltens im Jugendalter, so zeigen sich zwischen Deutschen und Nichtdeutschen weitestgehend kompatible Entwicklungen. Der Täteranteil bei Ladendiebstahl ist bei den deutschen Jugendlichen von 33,3 auf 16,8 % zurückgegangen, bei den nichtdeutschen Jugendlichen von 31,2 auf 17,2 %. Dieser Rückgang fällt höchstwahrscheinlich deshalb so hoch aus, weil in den letzten Jahren die Überwachungstechniken verbessert wurden, die die Möglichkeiten zum Begehen dieser Straftat deutlich reduziert haben. Im Bereich der Sachbeschädigungen ist der Täteranteil bei deutschen Jugendlichen weniger stark von 16,5 auf 12,5 % gesunken, bei nichtdeutschen Jugendliche von 15,8 auf 14,5 %. Damit bestätigt sich der Befund der Kriminalstatistik, dass es bei diesem Delikt keine allzu großen Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen gibt. Dies gilt tendenziell auch für den qualifizierten Diebstahl (Autoeinbruch, Fahrzeugdiebstahl): Dieser wurden 1998 von 6,7 % der deutschen und von 8,6 % der nichtdeutschen Jugendlichen begangen. Sieben Jahre später gilt dies nur mehr für 4,4 % der deutschen und 5,5 % der nichtdeutschen Jugendlichen.
Die Dunkelfeldauswertungen unterstreichen damit erstens, dass sich Jugendliche deutscher und nichtdeutscher Herkunft in erster Linie hinsichtlich der Bereitschaft zum Begehen von Gewaltdelikten unterscheiden. Deshalb wollen wir im letzten Teil des Beitrags die Ursachen der erhöhten Gewaltbereitschaft von Migrantenjugendlichen untersuchen. Zweitens korrigieren die Auswertungen den Hellfeldbefund steigender Jugendgewalt. Generell ist weder bei den deutschen noch bei den nichtdeutschen Jugendlichen eine Zunahme der Gewaltbereitschaft festzustellen. Vielmehr beobachten wir einen veränderten Umgang mit der Gewalt, insofern die Bereitschaft von Gewaltopfern zur Anzeige gestiegen ist. Zugleich verdeutlichen die Auswertungen, dass es durchaus lokale Abweichungen von diesen Generaltrends gibt: In München hat sich der Anteil an Gewalttätern bzw. an Mehrfach-Gewalttätern unter den nichtdeutschen Jugendlichen signifikant erhöht. Stadtspezifische Besonderheiten müssen damit bei der Untersuchung der Ursachen der höheren Gewaltbereitschaft nichtdeutscher Jugendlicher berücksichtigt werden.
Ursachen erhöhter Gewaltbereitschaft nichtdeutscher Jugendlicher
Die Bedingungsfaktoren jugendlichen Gewaltverhalten sind auf Basis zahlreicher kriminologischer Studien inzwischen recht gut bekannt (vgl. z.B. Eisner/Ribeaud 2003). In einer Analyse der Daten der KFN-Schülerbefragung 2005 konnten wir zeigen, dass insbesondere folgende Faktoren von herausgehobener Bedeutung sind: der Kontakt mit gewalttätigen Freunden, der Konsum gewalthaltiger Medienformate, die Zustimmung zu Gewaltnormen, die Erfahrung elterlicher Gewalt (Baier et al. 2006a, S. 260f). Zudem hat sich gezeigt, dass der Besuch von Hauptschulen unter den heutigen Bedingungen als eigenständiger Verstärkungsfaktor von Jugendgewalt gelten muss, was mit der hohen Konzentration belasteter Jugendlicher, die Problemverhaltensweisen voneinander lernen, begründet werden kann (Baier/Pfeiffer 2007a). Freilich sind damit nicht alle Ursachenfaktoren benannt; insbesondere psychologische Faktoren wie ein schwieriges Temperament oder vorkindliche Belastungen (z.B. Zigaretten- oder Alkoholkonsum der Mutter) wären hier weiter zu nennen (vgl. z.B. Beelmann/Raabe 2007, S. 56ff).
Gleichwohl handelt es sich bei den genannten Faktoren um solche, die mittels der wiederholt durchgeführten Schülerbefragungen auf Veränderungen hin untersucht werden können. Leider können dabei zur Veränderung der Einbindung in delinquente Freundesgruppen keine Aussagen getroffen werden, weil entsprechende Fragen erst in Befragungen jüngeren Datums gestellt wurden (vgl. Baier 2008, S. 55ff). Auch der Konsum von Mediengewalt ist nicht zu jedem Erhebungszeitpunkt in allen Gebieten gleichartig erfasst worden, weshalb an dieser Stelle auf die Veränderung der schulischen Integration, der familialen Erziehung und der Einstellungsdimension der Gewaltakzeptanz eingegangen werden soll. Diese Fokussierung wird durch eine weitere Analyse der Schülerbefragung gestützt (Baier/Pfeiffer 2007): Werden Personen verschiedener ethnischer Herkunft verglichen, die ein mittleres Bildungsniveau aufweisen, keine Elterngewalt erlebt haben und gewalthaltigen Männlichkeitsnormen nicht zustimmen, dann ergeben sich keine Unterschiede mehr bzgl. deren Gewaltraten.
Betrachten wir deshalb zunächst die Entwicklung des Schulbesuchs, so zeigen sich die in Abbildung 4 dargestellten Befunde: Weder bei deutschen, noch bei nichtdeutschen Jugendlichen hat es – die Gesamtstichprobe betrachtet – starke Veränderungen gegeben. Deutsche Jugendliche besuchen aktuell etwas häufiger ein Gymnasium (von 47,5 auf 49,9 %) und etwas seltener eine Hauptschule (19,5 auf 18,1 %). Für nichtdeutsche Jugendliche fällt der Trend zu höherer Bildung schwächer aus (Gymnasium: von 20,8 auf 22,0 %), der Trend weg von der Hauptschule etwas stärker (von 51,5 auf 46,7 %). Deutlich wird dabei einerseits, dass nichtdeutsche Jugendliche sehr viel seltener Zugang zu höherer Bildung haben. Wenn aber mit einem Hauptschulbesuch das Risiko eigener Gewalttäterschaft steigt, dann verwundern die höheren Gewaltraten der nichtdeutschen Jugendlichen nicht. Andererseits bestätigt sich dieser Zusammenhang auch indirekt im Vergleich verschiedener Erhebungsgebiete. In Hannover fällt der Trend zu höherer Bildung für beide Gruppen weit stärker aus als in München. Die Hauptschule bleibt dabei für viele Münchener Migranten die wichtigste Schulform; in Hannover wird sie gegenwärtig nur noch von einem Viertel der Migranten besucht. In München hat sich zudem gezeigt, dass die Bildungssituation der türkischen Jugendlichen schlechter wird, also jener Gruppe, bei der 2005 im Vergleich zu 1998 ein signifikanter Anstieg in der Gewaltbereitschaft festzustellen ist. Parallel zu dieser Entwicklung sank der Anteil an türkischen Jugendlichen, die ein Gymnasium besuchen, von 18,1 auf 12,6 %; in Hannover stieg dieser Anteil von 8,7 auf 15,3 %. In Hannover werden zudem mehr Migranten in mittleren Schulzweigen (Real-, Gesamtschule) unterrichtet. Dies dürfte sich positiv auf das Selbstbewusstsein dieser Jugendlichen auswirken, da sie wissen, dass ein möglicher Berufseinstieg auf Basis dieses Schulbesuchs unproblematischer sein wird als bei Besuch einer Hauptschule. Hinzu kommt, dass häufiger Freundschaftsbeziehungen zu deutschen Jugendlichen aufgebaut werden können, die wichtige Unterstützung im Integrationsprozess anbieten. Freundschaften zu Jugendlichen, die sich delinquent verhalten, sind hingegen seltener.[10]
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Entwicklungen, die im Einklang mit der rückläufigen Gewaltbereitschaft von Jugendlichen stehen, können mit Blick auf innerfamiliäre Gewalterfahrungen berichtet werden (Abbildung 5). Eltern, die ihren Kindern Gewalt antun, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind später selbst zu Gewalt greift (Wetzels et al. 2001, Smith/Thornberry 1995). Sie liefern einerseits Verhaltensvorbilder, wie in Konfliktsituationen zu reagieren ist und erzeugen den Eindruck, dass Gewalt ein legitimes Verhalten darstellt. Andererseits kann wiederholte Gewaltanwendung zu Schädigungen in der sozio-emotionalen Entwicklung (z.B. mangelnde Empathiefähigkeit) führen, weil bestimmte Gehirnregionen z.T. irreparabel verletzt werden. Elterliche Gewalt wurde in den Befragungen dabei mit einer 6-Item-Skala erfasst. Es sollte eingeschätzt werden, wie oft die Eltern dem Befragten (1) eine runtergehauen, (2) mit einem Gegenstand nach ihm geworfen, (3) ihn hart angepackt oder gestoßen, (4) ihn mit einem Gegenstand geschlagen, (5) ihn mit der Faust geschlagen oder getreten sowie (6) ihn geprügelt oder zusammengeschlagen haben. Seltene Erlebnisse der ersten drei Kategorien gelten als leichte Züchtigung, häufigere Erlebnisse der ersten drei Kategorien oder Erlebnisse der vierten Kategorie wurden als schwere Züchtigung kategorisiert. Misshandelt wurde ein Kind dann, wenn es Erlebnisse der Kategorien fünf und sechs machen musste.[11]
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Sowohl bei deutschen als auch bei nichtdeutschen Jugendlichen fällt der Anteil an Schülern mit elterlichen Gewalterfahrungen, d.h. es steigt der Anteil derer, die gewaltfrei aufwachsen. Deutsche Jugendliche wuchsen 1998 zu 36,4 % gewaltfrei auf, 2005/06 bereits zu 48,2 % (nichtdeutsche Jugendliche: 35,3 zu 43,3 %). Schüler, die schwer gezüchtigt oder sogar misshandelt wurden, gibt es mittlerweile seltener. Dieser Anteil geht bei den deutschen Jugendlichen dabei stärker zurück (von 28,0 auf 22,4 %) als bei den nichtdeutschen Jugendlichen (von 40,1 auf 33,7 %). Dies mag im Ergebnis dazu führen, dass die Gewaltbereitschaft der Deutschen stärker gesunken ist als die der Nichtdeutschen. Auffällig ist allerdings, dass sich bei beiden Gruppen die rückläufigen Entwicklungen im Wesentlichen auf die leicht und schwer gezüchtigten Jugendlichen konzentrieren; die Misshandlungsquoten haben kaum abgenommen. Die Abbildung 5 macht zudem darauf aufmerksam, dass nichtdeutsche Jugendliche alles in allem 1,5mal häufiger mit schwerer innerfamiliärer Gewalt konfrontiert werden als deutsche Jugendliche. Am höchsten fallen die Quoten für die türkischen Jugendlichen aus: Zum Zeitpunkt der letzten Befragung gaben 36,0 % der türkischen Jugendlichen an, schwer gezüchtigt oder misshandelt worden zu sein, 33,4 % waren es bei den anderen Jugendlichen, bei den jugoslawischen Jugendlichen 31,8 % (deutsch: 22,4 %).
Hinsichtlich der Entwicklung elterlicher Gewalterfahrungen unterscheiden sich die einbezogenen Städte nicht voneinander; ein steigender Anteil gewaltfrei erzogener Jugendlicher ist überall zu finden.12 Dies ist für einen anderen Indikator nicht der Fall: Die Jugendlichen wurden an einer weiteren Stelle des Fragebogens gebeten einzuschätzen, ob ihre Eltern den Einsatz von Gewalt missbilligen würden. Dabei sollten sie sich vorstellen, dass sie mit einem Jugendlichen aus einer anderen Klasse während der Schulpause in Streit geraten wären und daraufhin dem anderen Schüler mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätten. Dieser Schüler hätte einen körperlichen (blutende Nase) und einen materiellen Schaden (zerrissene Hose durch Hinfallen) erlitten. An diese Vignette schloss sich die Frage an, wie schlimm die Eltern es finden würden, wenn sich der Befragte so verhielte. Im Jahr 1998 waren 35,8 % der deutschen Jugendlichen der Meinung, dass die Eltern dies als sehr schlimm einstufen würden, sieben Jahre später waren es 44,6 %. Bei den nichtdeutschen Jugendlichen liegt diese Quote etwas höher: Sie ist von 42,2 auf 47,7 % gestiegen. Interessant ist diesbezüglich, dass sich in München kaum eine Veränderung in den Einschätzungen der Jugendlichen zeigt: 1998 meinten 37,0 % der deutschen und 45,8 % der nichtdeutschen Befragten, dass die Eltern das sehr schlimm finden, 2005/06 waren es 40,0 bzw. 44,4 %. In allen anderen Städten steigt dieser Anteil bei beiden Gruppen.
Eine letzte Auswertung bezieht sich auf die Entwicklung der Gewaltakzeptanz. Diese Einstellung wird als wichtiger Mediator des Gewaltverursachungsprozesses erachtet (vgl. u.a. Fuchs et al. 2005), d.h. als Bindeglied zwischen familialen und schulischen Bedingungen auf der einen und Gewalthandeln auf der anderen Seite. Die Gewaltakzeptanz wurde zu allen Erhebungszeitpunkten mit einer Skala erhoben, die u.a. auf Sturzbecher (1997) zurückgeht. Diese Skala beinhaltet die Stellungnahmen der Schüler zu insgesamt fünf Einzelaussagen, wie z.B. „Ein bisschen Gewalt gehört einfach dazu, um Spaß zu haben“ oder „Der Stärkere muss sich durchsetzen, sonst gibt es keinen Fortschritt“.[13] Der Anteil an gewaltakzeptierenden Jugendlichen ist bei den Deutschen von 13,3 auf 8,8 % gefallen[14], bei den Nichtdeutschen in etwa gleichem Ausmaß von 25,4 auf 17,7 %. In allen Städten verläuft die Entwicklung gleichförmig. Am geringsten fällt der Rückgang bei den osteuropäischen Jugendlichen aus (von 19,6 auf 17,6 %), deutlich höher bei türkischen (von 30,7 auf 21,6 %) und jugoslawischen Jugendlichen (von 27,6 auf 19,3 %). Dies ist konsistent mit den unterschiedlichen Entwicklungen dieser Gruppen beim Gewaltverhalten. Deutlich erkennbar ist erneut, dass nichtdeutsche Jugendliche diese Gewalteinstellungen häufiger internalisiert haben als deutsche Jugendliche.
Zusammenfassung
Die vorgestellten Auswertungen belegen, dass nichtdeutsche Jugendliche häufiger kriminelles bzw. delinquentes Verhalten ausüben als deutsche Jugendliche. Dieser Befund ist aber in mehrfacher Hinsicht zu relativieren: Erstens findet er sich insbesondere beim Gewaltverhalten. Für Sachbeschädigungen gibt es weder im Hellfeld noch im Dunkelfeld erhöhter Täterraten nichtdeutscher Jugendlicher; für Ladendiebstahl gilt dies zumindest im Dunkelfeld. Zweitens existiert auch im Bereich des Gewaltverhaltens keine derartige Überrepräsentanz an nichtdeutschen Tätern, wie dies bisweilen behauptet wird: Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik betrug der Anteil nichtdeutscher Täter in diesem Deliktfeld zuletzt 22,6 %. Drittens lassen sich durchaus positive Entwicklungstrends identifizieren: Im polizeilichen Hellfeld nähern sich Deutsche und Nichtdeutsche im Ausmaß des Gewaltverhaltens an, im Dunkelfeld ist auch bei den nichtdeutschen Jugendlichen ein leichter Rückgang der Gewaltbereitschaft zu beobachten. Dieser Rückgang wird in der Gruppe der Migranten begleitet von einer leicht verbesserten schulischen Integration, von einem selteneren Gewalteinsatz und einer geringer Gewalttolerierung in der Familie sowie von einer rückläufigen Gewaltakzeptanz. Viertens gilt, dass die erhöhte Gewaltbereitschaft nichtdeutscher Jugendlicher Ursachen hat, die durch Präventionsmaßnahmen beeinflusst werden können.
Die Tatsache, dass junge Migranten in Deutschland zurzeit häufiger als junge Deutsche mit Gewalttaten auffallen, ist damit kein unveränderbares Naturgesetz. Wenn ihre hohe Gewaltrate noch weiter reduziert werden soll, muss dafür Sorge getragen werden, dass sich die Rahmenbedingungen des Aufwachsens verbessern. Der Vergleich der Entwicklung in den beiden Städten München und Hannover macht darauf aufmerksam, dass hier insbesondere der schulischen Integration ein hoher Stellenwert zufällt: In Hannover hat sich der Anteil an Migrantenjugendlichen, die mittlere und höhere Abschlüsse erwerben werden, über die Jahre erhöht, in München ist er weitestgehend konstant geblieben. Dies gilt in München auch für die Gewalttäterrate der Nichtdeutschen, während diese Rate in Hannover sinkt. Der Besuch von Realschulen und Gymnasien ist für Migrantenkinder ein entscheidender Indikator dafür, in Deutschland angekommen zu sein. Die zukünftige berufliche Integration hängt davon ab; zudem wird die soziale Integration gefördert, weil in diesen Schulen häufiger Kontakte zu deutschen Mitschülern aufgebaut werden können. Solche Migranten aber, die eine feste Verankerung in der deutschen Gesellschaft gefunden haben, werden nicht häufiger als einheimische Deutsche als Straftäter in Erscheinung treten.
[1] Die Befragungen haben auch im Bundesland Thüringen stattgefunden, in dem 96,3 Prozent der Neuntklässler deutscher Herkunft waren. Allerdings zeigte sich hier in Bezug auf Viertklässler, dass bereits 10,6 Prozent einen Migrationshintergrund besitzen (vgl. Baier et al. 2006), d.h. auch im Osten Deutschlands steigt der Anteil an Migranten.
[2] Eine Ausnahme gilt für junge Aussiedler, bei denen in einigen Bundesländern ergänzend zur Angabe, dass sie als deutsche Tatverdächtige registriert worden sind, auch noch erfasst wird, dass es sich bei ihnen um Aussiedler handelt und aus welchem Land sie nach Deutschland zugewandert sind (vgl. Pfeiffer et al. 2005).
[3] Im Folgenden wird statt von Kriminalität von Delinquenz gesprochen, da in Dunkelfeldstudien auch jene Verhaltensweisen erfasst werden, die als potenziell kriminalisierbar gelten, aber nicht im Hellfeld dokumentiert sind.
[4] Eine Ausnahme stellt München 1998 dar, da die Befragungen hier erst im Oktober erfolgten.
[5] Auch die Befragung 2006 in Hannover stellt eine Vollerhebung dar.
[6] Vgl. zu weiteren methodischen Aspekten der Studie und zur Stichprobenzusammensetzung Baier (2008).
[7] Problematisch an dieser Bestimmung der Herkunft ist, dass zwischen 1998 und 2005/06 Veränderungen in den Möglichkeiten des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit stattgefunden haben. Inwieweit diese Veränderungen Auswirkungen auf das Berichten der eigenen Staatsangehörigkeit haben, lässt sich nur schwer abschätzen. Etwas unerwartet zeigt sich, dass sich der Anteil nichtdeutscher Jugendlicher in der Stichprobe zumindest in Stuttgart und Schwäbisch Gmünd seit 1998 signifikant verringert hat, in München und Hannover ist er gleich geblieben (Baier 2008, S. 46f). Es ist nicht auszuschließen, dass sich mittlerweile mehr Migranten, die in Deutschland geboren wurden, auch bereits bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zuschreiben – obwohl dies in den seltensten Fällen den Tatsachen entsprechen dürfte – und damit nicht als Migranten im Datensatz zu identifizieren sind. Ein besserer Weg der Bestimmung der Herkunft wäre die Abfrage der Staatsangehörigkeit der Eltern bei deren Geburt (vgl. Baier/Pfeiffer 2007); dieser Weg wurde aber erst ab München 1998 beschritten.
[8] Zu den „anderen“ Jugendlichen wurden jene nichtdeutschen Jugendlichen zusammengefasst, die in so geringer Anzahl in der Stichprobe vorkommen, dass die Bildung eigener Gruppen nicht sinnvoll erscheint.
[9] Auch hier ist allerdings erneut zu beachten, dass die Städte sich in dieser Entwicklung nicht unwesentlich unterscheiden: In Schwäbisch Gmünd hat sich die Schere sogar geschlossen, in Hannover sind die Abstände konstant geblieben.
[10] Vgl. zur Rolle der Freundschaftsbeziehungen zur Erklärung ethnischer Unterschiede im Gewaltverhalten Rabold und Baier (2008).
[11] Erfragt wurden diese Erlebnisse einmal für die Kindheit, d.h. in Bezug auf die Zeit vor dem zwölften Lebensjahr; ein zweites Mal wurden diese Erlebnisse in Bezug auf die zurückliegenden zwölf Monate erfragt. In die hier präsentierte Auswertung gehen die Angaben zu beiden Zeiträumen ein, wobei die jeweils stärkste Übergriffsform erfasst wurde. Hat ein Befragter also in der Kindheit Misshandlungen erfahren, in den letzten zwölf Monaten aber keine derartige Gewalt erlebt, dann fällt er in die Gruppe misshandelter Personen.
[12] Eine Ausnahme stellt die Gruppe der nichtdeutschen Jugendlichen in Hannover dar, bei der dieser Anteil seit 1998 nicht gestiegen ist. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass dieser bereits 1998 deutlich über den entsprechenden Anteilen der anderen Städte gelegen hat.
[13] Die anderen Items lauten: „Wenn ich zeigen muss, was ich drauf habe, würde ich auch Gewalt anwenden.“, „Ohne Gewalt wäre alles viel langweiliger.“ und „Wenn mich jemand provoziert, dann werde ich schnell gewalttätig.“ Es konnte von „1 – stimme gar nicht zu“ bis „4 – stimme völlig zu“ geantwortet werden. Die Reliabilität dieser Skala kann zu allen Erhebungszeitpunkt als gut eingeschätzt werden (Cronbachs Alpha mindestens .80).
[14] Für diese Gruppierung wurde die Skala an ihrem theoretischen Mittelwert von 2,5 getrennt.
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