Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 183: Die öffentliche Familie

Defami­li­a­li­sie­rung oder smarte Ko-Pro­duk­tion?

Zum Verhältnis familialer und öffentlicher Erziehung,

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 23-31

I. Aktuelle Aufge­regt­heiten um Erzie­hungs­not­stände

Seit mehreren Jahren erleben Erziehung und Bildung eine anhaltende Aufmerksamkeit. Bildungspolitik mausert sich neben der Familienpolitik, beides lange Zeit vermeintlich weiche Politikfelder, zu einem Terrain, auf dem man sich auch für höhere Aufgaben profilieren kann. Die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien schulischer Leistungen von TIMSS über PISA hin zu DESI werden breit publiziert und in den Leserbriefen leidenschaftlich kommentiert. Damit korrespondierend wird ein Bild heutiger Kinder, vor allem aus „prekären“ Milieus, gezeichnet, das folgende Kontur aufweist: stundenlang vor dem Fernsehen dahinvegetierend und durch Werbung und Konsum korrumpiert. Es ist ein Porträt, das mit den Ergebnissen aktueller Kindheitsforschung zwar nicht übereinstimmt (s. z.B. die Befunde in Alt 2005-2009), aber immer wieder in Umlauf gebracht wird. Erfolg hat diese Kindheitsrhetorik und die durch sie transportierte „Kinderpanik“ (Guldberg 2008) deshalb, weil die erwachsene Gesellschaft viele Ängste vor neuen Technologien und um wirtschaftlichen Wachstum wie in einem Brennglas auf die Kinder projiziert – und weil diese Katastrophensemantik einen hohen Nachrichtenwert und entsprechend große Auflagen verspricht. Da Erziehung vermehrt öffentlich diskutiert wird, sind die Ansprüche gewachsen. Die Angst, etwas „falsch“ zu machen, ist heute größer denn je. Dies „Richtig-falsch-Bilder“ werden durch die Medien (z.B. „Super Nanny“) propagiert und so die Verunsicherung noch weiter geschürt.

Eine der Gründe für das Reflektieren über das Verhältnis öffentlicher und familialer Sozialisation liegt also in der Wahrnehmung neuer Herausforderungen durch die komplexe Wissensgesellschaft und den als ungenügend eingeschätzten Voraussetzungen hierfür in deutschen Familien und bei deutschen Kindern: Erziehung und Bildung müssten den neuen Anforderungen eines vielfältigen Kompetenzerwerbs zur Behauptung im globalen Wettbewerb angepasst werden, nicht zuletzt durch eine früh ansetzende staatliche Förderung. Gestützt und legitimiert wird diese Argumentationslinie vor allem auch durch den Aufschwung der neuen Bildungsökonomie. Sie weist auf einen großen Ertrag von Investitionen in die frühe Bildung sowie einen sinkenden bei der Bildung im Erwachsenenalter hin und leitet daraus die Forderung ab, die Ressourcen in der Bildungsfinanzierung umzuschichten. Konkret heißt dies, dass Kinder von frühestem Alter an in Krippen und Kindertagesstätten neben Betreuung auch gezielt Erziehung und Bildung vermittelt bekommen sollen. Einerseits diene ihnen dies dazu, im frühen Erwachsenenalter erfolgreich eine gute Arbeitsmarktposition einnehmen und auch verteidigen zu können – andererseits schütze es die Gesellschaft vor den hohen Kosten von Umschulungen und Arbeitslosigkeit.

Eine zweite Begründungslinie ergibt sich, gewissermaßen am anderen Ende des Spektrums, aus den vermehrt bekannt werdenden Fällen von Kindeswohlverletzung, auf das mittlerweile mit einem dichten Netz von Aktionen auf allerhöchster politischer Ebene reagiert wird. Einem nicht unbeträchtlichen Teil von Familien, oftmals ist hier bezeichnenderweise von einer „Dunkelziffer“ die Rede, wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen. Ein Paket von Interventionen soll dann das Kindeswohl sichern.

Eine dritte Argumentationslinie stellt auf dem Hintergrund der als steigend interpretierten Quoten von jugendlicher Delinquenz, Schulschwänzen, Tabak- und Alkoholkonsum die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt in Frage. Aus dieser Krisendiagnose heraus setzt man in erster Linie auf die Vermittlung eines festen Wertekanons, der als Navigationsgerät dafür sorgen soll, dass die abweichenden Verhaltensweisen nicht mehr ausgeübt werden. Auch in dieser Funktion soll die Familie wiederum öffentlich unterstützt werden.

Viertens spielt das Verhältnis öffentlicher und privat-familialer Erziehungen auch in offiziellen Dokumenten der Sozialberichterstattung eine große Rolle. Dabei dominiert die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft die durch PISA und IGLU verstärkte Debatte. Insbesondere der soziale Hintergrund und eine Migrationsgeschichte, so die Ergebnisse, beeinflussen bereits in der Grundschule die kognitiven Leistungen der Kinder, was sich im Sekundarbereich weitgehend fortsetzt (Ehmke et al. 2004; Bos et. al 2004). Dies mündet bei höherem sozioökonomischen Status in bis zu dreimal geringeren Hauptschulquoten und bis zu fünfmal höheren Gymnasialbesuchsquoten. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind dabei in allen Statusgruppen seltener auf dem Gymnasium und häufiger in den niedriger qualifizierenden Schularten zu finden (Bildungsbericht 2008). Durch einen unterschiedlichen Zugang zu Angeboten der Bildung, Betreuung und Erziehung verfestigen sich diese sozialen Ungleichheiten bereits vor der Einschulung, so die DJI-Kinderbetreuungsstudie (Bien et. al 2006). Die Merkmale niedriger sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund und geringe Bildung treten dabei besonders häufig gemeinsam auf, so die Autoren (ebd. S. 290). Dabei können insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Familie von einer qualifizierten institutionellen Betreuung im Vorschulalter profitieren (Roßbach 2005, S. 159). Ein weiterer Faktor, der der Notwendigkeit verstärkter und qualitativ verbesserter institutioneller Förderung Nachdruck verleiht ist die ungleiche Verteilung von Kindern mit besonderem Förderbedarf auf Kindertageseinrichtungen: Jedes dritte Kind mit Migrationshintergrund besucht eine Einrichtung mit einem Migrationsanteil von mindestens 50 Prozent (DJI/AKJ 2008, S. 53). Um sprachliche Benachteiligungen ausgleichen zu können, sind gerade dort gezielte Förderungsprogramme nötig. Wo Familie nicht die notwendige Unterstützung leisten kann, müssen ergänzende institutionelle Angebote greifen, so die aus den Ergebnissen resultierende Argumentation. Mit dem Ziel, die Herkunftsabhängigkeit im Bildungssystem zu verringern, wird der Fokus der Diskussion auf der Entwicklung und Förderung qualifizierter Ganztagsangebote gelegt (BMFSFJ 2006, Helsper/Hummrich 2005: 152). Um soziale Ungleichheiten im Bildungssystem zu reduzieren, sollte Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen demnach verstärkt außerhalb der Familie passieren.

Alle diese Argumentationslinien im Verbund gesehen kann von einer Forderung nach De-Familialisierung der Erziehung und Bildung gesprochen werden, in Gestalt einer Verlagerung der zeitlichen Dominanz von Erziehung und Bildung hin zu den Kindertageseinrichtungen, Schulen und Horten. Parallel zu dieser Verschiebung vollzieht sich auch eine inhaltliche Neuorientierung von Erziehung und Bildung. Das lange Zeit unhinterfragt geltende Ziel der vorschulischen Bildung, die Förderung der gesamten Persönlichkeit des Kindes, wird markant ergänzt, wenn nicht sogar verdrängt, durch eine Reihe von primär auf Schulfertigkeiten zielenden Wissensdomänen und curricularen Elementen (Strehmel 2008), die auch durch einen Trendumschwung in der Entwicklungspsychologie befördert werden: Das Kind wird hier nicht mehr nur als sozial kompetent modelliert, sondern vielmehr als Wissenschaftler in ganz vielen Bereichen, wie auch und gerade in den Naturwissenschaften, entdeckt (Sodian/Thoermer/Koerber 2008).

Die Sozial- und Verhaltenswissenschaften sowie die Professionellen im sozialen Feld spielen in der Betrachtung dieses neu problematisierten Verhältnisses privater und öffentlicher Sozialisation bzw. Bildung und Erziehung eine in sich zwiespältige Rolle. Auf der einen Seite tragen sie zu einer verstärkten Intervention in den Privatbereich bei, indem sie erstens definieren, was „normale Familien“ und „ganz normale Kinder“ (Kelle/Tervooren 2008) sind. Hier deutet sich, angetrieben durch die oben genannten Entwicklungslinien, eine Verschärfung und Verdichtung der öffentlichen Kontrolle an. Diese zielte seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft vor allem auf die „Unterschichten“ ab, wird aber derzeit sukzessive auf der Basis humanwissenschaftlicher Test- und Interventionstechniken (Einschulungstests, Sprachtests, Screenings zur Feststellung früher Entwicklungsrisiken) auf alle Bevölkerungsschichten ausgedehnt. Auf der anderen Seite, und hierzu soll unser Artikel einen Beitrag leisten, geht es um eine kritische Beobachtung der diskursiven und praktischen Verschiebungen im Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Erziehung vor dem Hintergrund des Übergangs von einer fordistischen in eine neoliberale Gesellschaft, die einseitig am Erreichen wirtschaftlicher Ziele orientiert ist.

II. Eltern unter Druck

Die skizzierten Diskurse wären an sich außerhalb akademischer Spezialzirkel nicht weiter relevant. Aber es deutet sich an, dass sie, in vielfach gebrochener und modifizierter Form, in den Gesprächshaushalt von Familien eingehen. D.h. es kann vermutet werden, dass in der überwiegenden Zahl der Familien erstens Bezug auf öffentliche Debatten genommen wird – entweder affirmativ oder kritisch – und dass zweitens insbesondere auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre innerfamilial thematisiert wird.

Ein erstes Indiz für das „Aufschlagen“ der diskursiven Wirbel sind zwei neuere Untersuchungen zur Wahrnehmung von Elternschaft heute. Heutige Eltern sind zum einen stark verunsichert und fühlen sich zum anderen permanent unter Druck:

Mühling/Smolka (2007) stützen sich auf einen Vergleich zweier Befragungen von ca. 1300 Eltern. Ein Vergleich der Werte aus den Jahren 2002 und 2006 zeigt dabei, dass Unsicherheiten bezüglich der Erziehung tendenziell gewachsen sind. Gaben 2002 noch 12,9 Prozent der Befragten an, nie unsicher zu sein, trifft dies 2006 nur noch auf 7,4 Prozent zu. Gleichzeitig ist der Anteil derer, die in Erziehungsfragen immer oder häufig unsicher sind, von 5 Prozent im Jahr 2002 auf den Wert von 11,8 Prozent im Jahr 2006 angestiegen. Gefragt wurde auch, zu welchen Themenbereichen man sich Infos oder Beratung wünsche. Neben dem generellen Befund, dass höher gebildete Eltern ihren Informationsbedarf entschiedener artikulieren, kristallisierte sich hier die Schule als Spitzenreiter der Themeninteressen heraus.

ein Sachverhalt, den man als „Kolonialisierung“ des Familienlebens durch die Schule umschreiben kann.

Schließlich ist als letzter Befund, der nicht nur in Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder festgestellt werden kann, auf eine Verstärkung der Bildungsanstrengungen in den Mittelschichten hinzuweisen: Schon im Vorschulalter, erst recht aber im Schulalter partizipieren Kinder dieser Herkunft an einem reichen Spektrum von Angeboten. Nicht selten sind es zumindest latent pädagogische Motive der Eltern, die hinter dieser Aktivitätspalette stehen (s. dazu Vincent/Ball 2007). Diese Verschulung der Freizeit bedeutet, dass Eltern sich von der Partizipation ihrer Kinder am Ballett oder in der Musikschule oder dem Sportverein die Herausbildung zusätzlicher „skills“ erwarten, die später einmal das Zünglein an der Waage im Konkurrenzkampf spielen könnten, die aber gleichzeitig ihrem Ideal einer möglichst vielseitig gebildeten sozialen Person entsprechen (ebd.).

III. Der ambivalente Status der Familie im neoli­be­ralen Aktivie­rungs­staat

Wie sind diese beiden großen Strömungen, der vielfache öffentliche Ruf nach einer De-Familialisierung von Erziehung und Bildung einerseits und die überragende diskursiv-rhetorische Bedeutung von Bildung und Schule andererseits, einzuordnen und ansatzweise zu erklären? Sie sind, so unsere Interpretation, nicht zuletzt Ausdruck von Widersprüchen der aktuell betriebenen neoliberal motivierten Umbauten der Wirtschaft und des Sozial- und Wohlfahrtsstaates (Schultheis 2006; Steinert 2008) und der parallel damit einhergehenden „Aktivierung“ der Bürger (Dollinger/Raithel 2007). Der Neoliberalismus als neuer Modus der Steuerung von Politik und Wirtschaft nimmt Massenarbeitslosigkeit, Armut, Prekarisierung und Polarisierung der Gesellschaftsstruktur (Dörre 2008) hin. Es werden keine großen Anstrengungen mehr unternommen, den ungleichheitsverschärfenden Entwicklungen mit den traditionellen Mitteln zur Regulation von Ungleichheit entgegenzusteuern – etwa durch eine progressive Besteuerung nicht nur der Einkommen, sondern auch der Vermögen, durch eine breite Streuung der Lohnarbeits-Einkommen durch Arbeitszeit-Verkürzungen und durch eine sozialpolitische Basis, die aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert wird. Stattdessen werden Vermögen, Unternehmensgewinne und hohe Einkommen von Abgaben entlastet, die Lohnarbeits-Einkommen rar gemacht, reduziert und prekarisiert, womit gleichzeitig auch das Drohpotenzial gesteigert wird: Die Angst um den Arbeitsplatz und eine allgemeine Verunsicherung hat in den letzten Jahren bis in die Mittelschichten hinein zugenommen (Burzan 2008). Beides wirkt, wenn auch noch eher subtil auf der Ebene des individuellen Bewusstseins, als Disziplinierungsinstrument.

Politik und besonders die Regierungen sind in diesem Gefüge auf ein verbreitetes Bewusstsein einer gesellschaftlichen Krise angewiesen, um die Bereitschaft zum Verzicht für den Standort und dessen erfolgreiches Bestehen im Prozess der Globalisierung herzustellen. Sie erzeugen daher Ängste und bieten Bilder von schädlichen und gewissermaßen feindlichen Gruppen an, zu deren Abwehr sich alle Rechtschaffenen zusammenschließen sollen. Darunter sind ,Sozialschmarotzer‘ gleichermaßen zu zählen wie gierige Manager, Arme und Kriminelle. Das sind aber auch all diejenigen, die sich „nicht genug anstrengen“, die Erziehung und Bildung „nicht ernst genug nehmen“.

In diesem hier nur in groben Strichen porträtierten neuen Regime kommt der Familie eine ambivalente Rolle zu: Einerseits ist man auf sie aus demographischen und anderen gesellschaftlich-funktionalen Gründen angewiesen. Familienpolitik stößt dementsprechend auf eine neue Resonanz, weil sie erfolgreich auch als genuiner Beitrag für die wirtschaftliche Produktivität gelesen werden kann und auch wird – Familie lohnt sich, auch für die Unternehmen, so die Botschaft (Ostner 2008). Es kommt nicht von ungefähr, dass diese Botschaft vor allem unter Rückgriff auf volks- bzw. wirtschaftswissenschaftliche Expertisen verkündet wird (Leitner 2008). Die hektische Betriebsamkeit beim Ausbau von Kindertageseinrichtungen kann vor dieser Folie deshalb so viel Akzeptanz finden, weil sie die „Vereinbarkeit“ fördert (kritisch zu diesem Terminus Honig 2007) und damit zwar ihren Beitrag zur Arbeitsmarktbeteiligung von Eltern leistet, aber eben nicht, weil es dem Wohlbefinden der Kinder dient.

Andererseits werden der Familie große Defizite attestiert, die im weiteren globalen Wettbewerbsprozess hinderlich sind. Daraus folgt das Bemühen, die Familien in ihren Erziehungs- und Sozialisationsanstrengungen zu unterstützen und zu entlasten. In der Tendenz wird auch hierzulande Erziehung de-familialisiert, wie bereits in Skandinavien oder Frankreich. Dabei fügt sich das Screening von Entwicklungsstörungen, der institutionelle wie inhaltliche Ausbau von Kindertageseinrichtungen und Ganztagsschulen in die Ambivalenz der skizzierten Entwicklungen ein. Wie aber, so die abschließende Frage, kann produktiv mit diesem widersprüchlichen Zugreifen auf familiale Erziehung, mit dieser Verbindung aus permanent unterstellten Defiziten auf der einen und vielfältigen Unterstützungsangeboten auf der anderen Seite, umgegangen werden?

IV. Perspek­tiven jenseits der Human­ka­pi­tal­ma­xi­mie­rung: Aufwachsen als smarte Ko-Pro­duk­tion von privater und öffent­li­cher Erziehung

Unsere Antwort lautet erstens: das Ziel der Bemühungen muss neu definiert werden. Weg von der einseitigen Orientierung auf eine Humankapitalmaximierung im Sinne einer berufsbezogenen schulischen Bildung, hin zu einer Kompetenzförderung im weitesten Sinne, die die Heranwachsenden in ihrer gesamten Lebensführung betrachtet und die immer länger währende Lebensspanne im Blick behält. Bildung erschöpft sich nicht nur in der Verbesserung des funktionalen Wertes des Individuums für die Gesellschaft und ihre Teilsysteme.

Ausschlaggebend – und gleichzeitig die eigentliche Begründung – für vermehrte Anstrengungen zur Förderung eines möglichst hohen allgemeinen Bildungsniveaus der Heranwachsenden ist dessen positiver Effekt auf die Lebensführung und die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen selbst. Konkret zeichnen sich Höhergebildete, auch schon im Jugendalter, durch eine bessere Gesundheit sowie eine höhere Lebenserwartung, größeres zivilgesellschaftliches und politisches Engagement, besseres subjektives Wohlbefinden sowie einen kreativeren Umgang mit Medien aus. Helmut Fend (2007: 20ff) gelangt in einer der aufwändigsten Studien über die Konsequenzen unterschiedlicher Bildungsprofile für den Lebenslauf zu folgender Gesamtbilanz: „In Bezug auf die Lebensführung tritt am deutlichsten hervor, dass Abiturientinnen und Abiturienten im Vergleich zu anderen Abschlussgruppen ein reichhaltiges Leben mit größerer Öffnung zum kulturellen und öffentlichen Leben bevorsteht. Die größten Folgen zeigen sich in dem, was wir im deutschen Sprachraum mit ‚Bildung‘ bezeichnen. Höhere Schulabschlüsse eröffnen größere Chancen der Partizipation an gesellschaftlichen Diskursen. Mit dem kulturell reichhaltigeren Leben ist aber nicht unbedingt ein einfacheres Leben verbunden. So hat sich die ökonomische Eingliederung nicht als einfacher herausgestellt. Die soziale Einbettung in die primären Lebenskreise ist mit steigendem Bildungsniveau eher belastet. Klare Wirkungen zeigen sich schließlich beim Gesundheitsverhalten. Abiturientinnen und Abiturienten rauchen weniger und bewegen sich mehr.“

Bildung ist vor allem eine aktive Teilhabefähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen des Alltags, der Kultur, der Öffentlichkeit und der Politik. Die Kinder und Jugendlichen von heute müssen im Stande sein, mit einer Pluralität und hochgradigen Widersprüchlichkeit von Werten umzugehen, sie müssen sich in kleine und große Gemeinschaften einfügen und ihre eigenen Lebensformen finden können. Dieses großes Programm, dem wir uns alle stellen sollten, so schwer es auch erscheinen mag, wurde von Liebau (2001: 12) auf den Punkt gebracht: „Sie müssen also mit dem eigenen Leben in seinen Möglichkeiten und Grenzen umgehen können. Das ist mehr als in der klassischen Moderne, in der Freuds Definition des kompetenten Erwachsenen, der lieben und arbeiten kann, durchaus Geltung beanspruchen konnte. Angesichts des Zusammenbruchs der alltäglichen Konventionen und Gewohnheiten der ersten Moderne sind Erwachsene heute gefordert als Gestalter ihres eigenen Lebens, gewissermaßen als Künstler ihrer selbst. Darin liegt die zentrale pädagogische Herausforderung der Gegenwart – und nicht in der albernen Frage danach, ob sie sich in der Schule ein bisschen mehr oder weniger Mathematik angeeignet haben.“

Was heißt dies aber zweitens für das hier im Zentrum stehende Verhältnis von familial-privater Erziehung auf der einen und öffentlicher Erziehung auf der anderen Seite? Anstelle einer an Defiziten orientierten De-Familialisierung, die in den nicht selten von den Institutionen diktierten „Erziehungspartnerschaften“ gipfelt, ist eine „smarte Ko-Produktion“ von privater wie öffentlicher Bildung und Erziehung anzustreben und konzeptionell voranzutreiben. Hierzu können wir kein fertiges System entfalten, aber einige hoffentlich inspirierende Fragen: Wie und in welchen Bereichen kann es gelingen, die jeweiligen Bildungsbeiträge des anderen Bereichs sinnvoll aufzunehmen? Wie können die jeweiligen systemischen Voraussetzungen des Lernens in Familie und in den Institutionen des Bildungssystems aufeinander bezogen werden, auch unter Berücksichtigung der dritten Orte, von Jugendhilfe und Vereinen (Rauschenbach 2007)? Und schließlich ist bei dieser Konzeption einer „smarten Ko-Produktion“ von Erziehung und Bildung die Milieuabhängigkeit von Erziehung zu berücksichtigen – nicht zuletzt deshalb, weil sich Eltern unterschiedlicher Milieus auch darin unterscheiden, welchen Beitrag sie jeweils dem öffentlichen oder privaten Bereich zukommen lassen wollen.

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