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Die Familie im Spannungs­feld von Rechten und Pflichten

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 16-22

„Wie viel Mutter braucht Ihr Kind?“ titelte „Der Spiegel“ vor einigen Monaten und rollte dabei die Frage nach dem Familienideal anhand der Gegenüberstellung von Krippe versus Kinderzimmer neu auf. Das Thema Familie steht seit einiger Zeit auf der politischen Agenda und regt zahlreiche, kontroverse, ja auch ideologische Debatten an. Letztere fokussieren die Reichweite liberaler Erziehung, die Qualität der Familienerziehung, das Versagen von Eltern auf Grund mangelnder Erziehungskompetenz, die Forderung nach Werten und Wertewandel in der Erziehung und nicht zuletzt die Rolle der Mutter. Politisch geht es um Aushandlungsprozesse, in denen Rechte und Pflichten von Eltern und Staat, also die Frage nach Verantwortung für das Aufwachsen, verhandelt werden.

Und vor dem Hintergrund des demographischen Arguments ist auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon lange kein privates Thema mehr. Bund und Länder wollen die Kleinkindbetreuung außerhalb der Familie ausbauen und bis zum Jahr 2013 soll jede Familie einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz haben. Die Vereinbarkeitsthematik, die Frage nach sozialer Mobilität und die Bedeutung der Familie für Bildungskarrieren der Kinder sind Eckpunkte der derzeitigen Familiendebatte, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Dabei zeigen sich sowohl historisch als auch auf der Basis empirischer Daten kontinuierlich wirkende Belastungsfaktoren für Familien, insbesondere wenn sie einen prekären sozialen Hintergrund haben.

Die Familie ist auch im Wohlfahrtsstaat für soziale Risiken besonders anfällig. Nicht nur aus der Familiendynamik an und für sich und auch nicht aus einzelnen gesellschaftlich bedingten Risiken allein resultiert ihre Schwäche. Die Gefährdung von Familien besteht in der Anhäufung riskanter Bedingungen, die auf die Gestaltung des Familienlebens sowie auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit ihrer Mitglieder erheblichen Einfluss ausüben. Nicht zuletzt die historische Forschung zeigt die Kontinuität von Problemlagen sowie deren Auswirkungen auf Kinder. Diese bemerkenswerte Beständigkeit familiärer Belastungsfaktoren korrespondiert insbesondere in Krisensituationen mit einem Schuld zuweisenden politischen Zugriff auf Familien. Das heißt, strukturelle Defizite werden in der politischen Argumentation häufig übergangen und die Kritik auf die inneren Prozesse der Familie gelenkt. So geraten dann beispielsweise die Erziehungsleistungen, die Haushaltsführung, die Gattenliebe in den Blick, wohingegen die sozialen Rahmenbedingungen des Familienlebens wie die Arbeitsverhältnisse der Eltern, das Verhältnis von Schule und Familie, das familiäre Zeitbudget, die materielle Situation, die Wohnung und das Wohnumfeld als gegeben hingenommen werden.

Familie ist im nationalen Wohlfahrtsstaat grundsätzlich auch ein Objekt politischer Interessen und Familienpolitik im hohen Maße von der jeweiligen Arbeitsmarktpolitik abhängig. Zu den familienpolitisch problematischen Annahmen gehören die Annahme der Vollständigkeit der Familie ebenso wie die hierarchische Arbeitsteilung, das Mutterbild, die Verknappung von Zeit, das öffentliche Misstrauen gegenüber den Erziehungsleistungen der Familie sowie Selektion und Segregation. Ihre Bedeutung für die Familie als Institution und Lebensform sowie für die einzelnen Generationen und Mitglieder zeigt sich bis in die Gegenwart. Dies hat beispielsweise die UNICEF-Studie „Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries“(UNICEF 2006) über die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern eindrucksvoll belegt. Folgende Dimensionen als Kategorien für das Wohlbefinden von Kindern wurden untersucht: materielle Lage, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Beziehung zu Eltern und Freunden, Risiken im Alltag und subjektives Wohlbefinden von Kindern.

Diese Dimensionen bildeten auch den Ausgangspunkt für die deutsche Teilstudie, die Hans Bertram durchgeführt hat. Bertram betont ebenfalls die Kontinuität der Probleme des Aufwachsens in Deutschland. Eine wirksame Lösung der sattsam bekannten Schwierigkeiten werde u.a. dadurch verhindert, dass man an deutlich überkommenen Familienbildern und Rollenvorstellungen festhalte (Bertram 2006). Insbesondere kritisiert Bertram das Beharren auf dem Mutterbild der Industriegesellschaft, mit dem sich heutige junge Frauen und Müttern als Maßstab für ihr Handeln konfrontiert sehen. Aus dieser Perspektive werde der berufstätigen Mutter häufig vorgeworfen, sie kümmere sich nicht ausreichend um ihre Kinder (Bertram 2006, S.3). Bertram schlägt angesichts der erfolgreicheren Politik in anderen Ländern, insbesondere in den demokratischen Wohlfahrtsstaaten (Esping-Anderson 1990) einen integrativen Policy Mix vor, welcher neben Beziehungen innerhalb der Familie auch eine verlässliche Umwelt für Kinder sicherstellt, indem nicht nur Familien auf eine neue ökonomische Basis gestellt, sondern gleichzeitig durch ein angemessenes Verhältnis von Zeit-, Geld-, und Infrastrukturpolitik Fragmentierungen bisheriger Unterstützungsleistungen überwunden werden (Bertram 2006, S.11ff).

Familie und Verein­bar­keit

2005 wurden im siebten Familienbericht der deutschen Bundesregierung Wünsche zur Vereinbarkeit aufgelistet: Neben flexibler, verlässlicher und qualitätsvoller Kinderbetreuung zählen dazu ein größeres Engagement der Väter, die Verminderung beruflicher Nachteile für Mütter, eine familienfreundliche Arbeitswelt und mehr Teilzeitangebote (BMFSFJ 2005). Der enge zeitliche und finanzielle Spielraum bei der derzeitigen Ausgestaltung von Teilzeit- und Vollzeitstellen macht deutlich, wie sehr der individuelle Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf strickten und von Einzelnen kaum beeinflussbaren Reglements unterworfen ist. Der quantitative Ausbau und die qualitative Verbesserung der außerfamiliären Kinderbetreuung werden mittlerweile als zentraler Beitrag zur Herbeiführung von Vereinbarkeit gesehen. Zu dieser familien-, bildungs- und sozialpolitischen Forderung gibt es keine Alternative, allerdings ist zu beachten, in welche Komplexität die Bemühungen um Vereinbarkeit darüber hinaus eingebettet sind. Angesichts dessen schlägt der Kindheitsforscher Michael-Sebastian Honig (2006) eine kritische Lesart der Debatte um Vereinbarkeit von Familie und Beruf als einer Erscheinungsform der vorherrschenden Familienrhetorik vor: „Die Vereinbarkeitsrhetorik will einen neuen Normalitäts- und Gerechtigkeitsstandard durchsetzen. Der Ausdruck „Vereinbarkeit“ impliziert, dass Familie und Beruf miteinander vereinbart werden können; er legt nahe zu glauben, es gehe lediglich darum, Hindernisse zu überwinden, die im Prinzip überwindbar wären. Der Wunsch nach Kindern wird dabei vorausgesetzt, ebenso der Wunsch nach Beruf und Familie.“ (Ebd., S. 26, Herv. i. O.)

Honig geht es um die Frage, welches der Normalitätsstandard der Vereinbarkeitsrhetorik ist, und er entfaltet die These, dass sich die Vereinbarkeitsproblematik an den Grenzen der Individualisierung manifestiere. Diese These führt ihn zu einer interessanten Schlussfolgerung, nämlich dazu, die Vereinbarkeitsdebatte ihres Funktionalismus zu entkleiden und stattdessen von der strukturellen Unvereinbarkeit bzw. Unverträglichkeit von Arbeit und Fürsorge auszugehen. Es sei gerade die Unverträglichkeit von work and care, mit der berufstätige Eltern täglich umgehen müssten. Ein Zugang, der strukturellen Unverträglichkeit ein anderes Strukturelement entgegen zu setzen, könnte die entschiedene Qualitätssicherung der betreuenden, erziehenden, ja bildenden Institutionen für Kinder sein.

Die auf Grund verschiedener Phänomene ausgelöste Krise des „Male-Breadwinner“ Modells habe das strukturelle Defizit deutlich gemacht: Quantitativ fehlt es nicht nur in Deutschland an Betreuungsmöglichkeiten, die es den erwachsenen Familienmitgliedern gleichermaßen ermöglicht, ihren Erwerbsberuf auszuüben. Unzuverlässige und unzureichende Betreuungs- und Beschulungszeiten für junge Kinder dafür verantwortlich zu machen, dass in vielen Familien insbesondere die Mütter daran gehindert werden, berufstätig zu sein und wenn sie es sind, dann allenfalls halbtags, was auch ihre Altersversorgung auf tönerne Füße stellt, ist mittlerweile Konsens. Neuere bildungspolitische Programme wie etwa die Einrichtung von Ganztagsschulen greifen eben dieses Defizit auf. Honig geht es in seinen Ausführungen jedoch um einen weiteren grundlegenden Aspekt und – wenn man so will – im eine radikale Fortführung der Vereinbarkeitsfrage: Es gehe nicht nur darum, die Erwerbsarbeit gleichzeitig zur Familie zu ermöglichen, sondern aus Eltern- und insbesondere aus Kindersicht auch darum, die Sorge um andere zu ermöglichen und sich mit dem Spannungsverhältnis von menschlicher Autonomie und Abhängigkeit zu befassen.

Eltern, Bildung und soziale Ungleich­heit

Familie als Ort, an dem sich das Problem der Vereinbarkeit manifestiert, wird derzeit auch als Ort ungleicher Bildungschancen diskutiert. An empirischen Belegen über die Bedeutung des Elternhauses für die Bildungskarrieren von Kindern fehlt es nicht. Eltern, die sich für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder intensiv engagieren, die Lernerfolge begleiten, verständnisvoll und zugewandt ihre Kinder über Lernklippen zu helfen verstehen und die Persönlichkeit des Kindes wertschätzen, sind eine enorme Stütze für den kindlichen Bildungsprozess. Diese Eltern sind es zumeist, die sich auch in den Kindertageseinrichtungen und Schulen ihrer Kinder engagieren und den Kontakt zu den Lehrkräften offensiv suchen und herstellen. Demgegenüber berichten Erzieherinnen und Lehrerinnen von den Schwierigkeiten, bildungsferne Eltern zu erreichen und für eine Vernetzung von Schule und Elternhaus zu gewinnen. Dies hat unterschiedliche Gründe, die genau zu analysieren sind, um möglichst alle Eltern in das schulische Geschehen zu integrieren und damit insbesondere Kinder, die nicht aus dem schulisch aufgeschlossenen Mittelschichtumfeld stammen, bessere Chancen zu eröffnen.

Im Interesse des Kindes gilt es demnach, in der Elternarbeit neue Wege zu erproben. Dies würde auch durch eine flächendeckende Ganztagsgrundschule nicht überflüssig werden, wobei wir bislang von dieser noch weit entfernt sind. Für Grundschulkinder ist die Halbtagsschule mit offenen Nachmittagsangeboten noch die Regel, denn lediglich 13 Prozent der Kinder zwischen acht und elf Jahren besucht in Deutschland eine Ganztagsschule, die Mehrheit der Kinder isst mittags zu Hause und macht auch dort die Hausaufgaben (World Vision 2007). Mehr als 60 Prozent der befragten Kinder hat angegeben, dass sie regelmäßig von den Eltern, meist von den Müttern, bei den Hausaufgaben kontrolliert werden. Die Unterstützung bei den Hausaufgaben ist jedoch wiederum von der sozialen Herkunft abhängig. Kinder aus sozial belasteten Familien erfahren diese Förderung deutlich seltener. Eltern verfügen in Abhängigkeit von ihrer eigenen Bildungsbiographie, ihres gesellschaftlichen Status und ihrer materiellen Ressourcen über unterschiedliche Möglichkeiten und Kompetenzen, Erfahrungs- und Lerngelegenheiten ihrer Kinder zu gestalten.

Welcher soziale Hintergrund für Kinder in Deutschland und ihre schulische und allgemeine Befindlichkeit ein Risiko darstellt, haben die Ergebnisse der World Vision Kinderstudie „Kinder in Deutschland 2007“ gezeigt. Kinder aus den unteren sozialen Schichten, geprägt durch einen niedrigen Bildungsabschluss der Eltern und einen niedrigen sozio-ökonomischen Status, Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Migranten und Kinder aus den neuen Bundesländern haben schlechtere Startchancen. Das liegt auch daran, dass diese Gruppen deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind als andere (World Vision 2007). Diese knappe Skizzierung der Risikogruppen macht deutlich, dass man von einer heterogenen Elternschaft ausgehen und dementsprechend vielfältig das Angebot für Eltern gestalten muss, wenn man alle Väter und Mütter erreichen will. Eine aufschlussreiche Studie aus den USA zeigt ein Grundproblem des Zusammenwirkens von Eltern und Schule auf. Die Kindheitsforscherin Annette Lareau ist in ihrer ethnographischen Studie über „Unequal childhoods. Class, race, and Family Life“ (2003) den unterschiedlichen Erziehungsstilen von Eltern und deren Passung an Institutionen des Bildungs- und Gesundheitssystems wie Schule oder Arztpraxen nachgegangen. Sie arbeitet durch die intensive teilnehmende Beobachtung unterschiedlicher US-amerikanische Familien zwei markante Herangehensweise an Erziehung und Fürsorge für Kinder heraus. Mittelschichteltern organisieren Erziehung und Kindheit als „concerted cultivation“. Das heißt, sie folgen bestimmten Standards der Erziehung und dazu gehören die Bereitschaft, Kinder in Gespräche und Entscheidungen einzubeziehen, elterliche Regeln oder Verbote zu begründen, die Interessen der Kinder zu fördern und sich aktiv an der Schule zu beteiligen sei es an Elternabenden, an Schulaufführungen, bei schulischen Wohltätigkeitsveranstaltungen usw. Hier spielen insbesondere die Mütter eine wichtige Rolle, denn sie sind es, die die Zeit für diese Tätigkeiten aufbringen.

An diesen „Standards of proper Parenting“ orientieren sich allerdings auch die Lehrerinnen und Lehrer, die meist selbst aus der Mittelschicht stammen. Diese Standards leiten insgesamt die dominanten Erwartungen, die in der Schule an Eltern auch unterschwellig herangetragen werden und das Geschehen zwischen pädagogischen Professionellen und Müttern und Vätern beeinflussen. Lareau gelingt es in ihrer Studie, ebenso die Auffassungen von Arbeiterfamilien und armen Familien, die in den USA unter komplett anderen Bedingungen leben, zu rekonstruieren. In diesem Umfeld orientierten sich die Eltern an der Idee des natürlichen Aufwachsens („natural groth“). Hier halten es Eltern für normal, ihre Kinder weitgehend sich selbst zu überlassen und sie haben oft auch keine anderen Möglichkeiten, weil sie familienunfreundliche Arbeitszeiten sowie weite Wege haben und auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Das führt mit dazu, dass sie ihre Kinder in der Freizeit dem „natürlichen“ Umfeld der Nachbarschaft oder den Verwandten überlassen und selten die Gelegenheit haben, an öffentlichen Veranstaltungen der Schule teilzunehmen. Aus Sicht der Kinder bringt das durchaus auch bestimmte Vorteile, weil sie selbst mehr Einfluss und Macht auf die Gestaltung ihrer Freizeit haben, als dies bei privilegierten Kindern der Fall ist.

Lareau verweist darauf, dass Mütter und Väter, die der Idee des natürlichen Aufwachsens folgen, erstens eine klare Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen ziehen, weshalb sie Kinder weniger selbstverständlich in Gespräche und Entscheidungen einbinden würden und Verbote oder Regeln nicht für begründungspflichtig hielten. Elterliche Verantwortung sehen sie in der Fürsorge, aber weniger in der sensiblen Beachtung der Gefühle, Gedanken und Leidenschaften ihrer Kinder. Lareau geht nicht von quasi naturwüchsigen Kulturen aus, sondern von den sozialen Möglichkeiten, die sich aus Arbeitsverhältnissen und dem Bildungshintergrund ergeben. Gerade Eltern, die selbst einen niedrigen Bildungsabschluss haben, verbinden oft negative Erlebnisse mit der Schule und haben entsprechende Hemmschwellen, sich in den Schulen ihrer Kinder aktiv zu engagieren.

Insgesamt ergeben sich deshalb wiederum zwei Typen elterlichen Auftretens gegenüber Lehrkräften oder auch anderen „Autoritätspersonen“ wie beispielsweise Kinderärzten, mit denen Kinder in Kontakt treten: In den Familien der Mittelschicht herrsche ein „sense of entitlement“ vor, hingegen in denen der Unterschicht oder in armen Familien ein „sense of constraint“. Das heißt, Kinder und Eltern aus Mittelschichtfamilien organisieren ihren Umgang mit Institutionen und Professionellen im Sinne eines Anspruchs oder einer Berechtigung auf Unterstützung und Gewährung ihres Anliegens. Dem gegenüber erfahren Unterschichtenfamilien das Schulsystem im hohen Maße als Zwang. Diese Einschätzung führt u.a. dazu, dass sich die Interaktionen zwischen Familien und Institutionen, in denen sich die Kinder aufhalten grundlegend unterscheiden. Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss artikulieren viel seltener Probleme oder Ansprüche gegenüber Professionellen und Professionelle ihrerseits haben Erziehungsvorstellungen und Vorstellungen guter Elternschaft im Kopf, die den Standards der Mittelschicht entsprechen. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass Lehrerinnen und Lehrer in Schulen Elternarbeit mit heterogenen Elterngruppen als Herausforderung erleben und für eine erfolgreiche Einbindung von Eltern mehr Unterstützung und Zeit benötigen, aber möglicherweise auch stärker darauf achten müssen, nicht selbstverständlich die der Mittelschicht entstammenden „Standards of proper parenting“ normativ vorauszusetzen.

Annette Lareau schafft ein Verständnis für die Mechanismen der Ungleichheit und wie sich diese über die soziale Herkunft in das Familien- und Kinderleben einschreiben. Dabei hält sie drei Faktoren für zentral. Erstens zeigen sich an der Organisation des Alltags markante Unterschiede, die wir auch in deutschen Studien finden. Die Frage, wie viel Zeit Eltern mit ihren Kindern verbringen, ist aus Sicht der Kinder ganz entscheidend. Dabei hat die World Vision Studie gezeigt, dass diejenigen Kinder, die über zu wenig Zeit der Eltern klagen, entweder mit arbeitslosen Eltern leben, zwei Vollzeit beschäftigte Eltern haben oder Kinder von Alleinerziehenden sind. Aus diesem Befund kann man schließen, dass eine kontinuierliche Einbindung in das Erwerbsleben beider Elternteile eine Stabilität in den Familienalltag bringt, wenn Eltern ein gutes Betreuungssystem vorfinden und die Frage der Vereinbarkeit nicht allein aus Sicht der Verfügbarkeit für die Erwerbsarbeit diskutiert wird. Die Situation von Alleinerziehenden ist besonders prekär, weil sie bislang zu wenig Unterstützung erfahren, um Erwerbstätigkeit und Erziehung der Kinder zu organisieren. Hier sind auch die Schulen in der Pflicht, einen Beitrag zur Verbesserung der Situation der Kinder von Alleinerziehen zu leisten.

Den zweiten Ungleichheitsfaktor, den Lareau darlegt, bezeichnet sie als „language use“. Dabei handelt es sich um die Art und Weise, wie in Familien mit Kindern gesprochen wird, wie Entscheidungen entstehen und Regeln begründet werden, ob maßgeblich Sprache als Instrument der Disziplin verwendet wird, ob Kinder lernen, ihre Gefühle und Gedanken zu artikulieren und ob sie ermuntert werden, ihre Meinung zu äußern und Ansprüche zu formulieren. Sprache konstituiert, so Lareau, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Eltern und Professionellen, aber auch zwischen Kindern und Professionellen. Wiederum sei auf ein Ergebnis der World Vision Kinderstudie verwiesen: Bei der Frage, wer Wert auf ihre Meinung lege, schneiden bei den Acht- bis Elfjährigen die Mütter besonders gut ab, aber auch diese Erfahrung scheint schichtabhängig zu sein, weil Kinder aus den unteren sozialen Schichten signifikant seltener angeben, dass ihre Auffassung wertgeschätzt würde. Bertrams Ergebnisse aus der Unicef-Studie belegen, dass das Wohlbefinden von Kindern signifikant beeinträchtigt ist, wenn es keine zufriedenstellende Kommunikation im Elternhaus gibt.

Dieser Eindruck wiederholt sich in der Schule: Insgesamt glaubt nur 23 Prozent der Befragten, ihre Klassenlehrerin/ihr Klassenlehrer würde sich für ihre Meinung interessieren und auch hier haben sozial benachteiligte Kinder deutlich häufiger den Eindruck des Desinteresses. Drittens schließlich würde soziale Ungleichheit auch durch die Unterschiede in den Interaktionen zwischen Familien und Institutionen mit bewirkt, was mit biographischen und sozialen Erfahrungen und Passungsverhältnissen zutun hat.

Die Themen Vereinbarkeit von Berufs- und Sorgeanforderungen und die Realität sozialer Ungleichheit machen Familie zu demjenigen Ort, an dem sich derzeit die Aushandlungen von Verantwortungsbereichen, von Pflichten und Rechten manifestieren. Folgt man den empirischen Kindheits- und Jugendstudien so hat die Familie für die Heranwachsenden eine enorme Bedeutung auch weil Kinder und Jugendliche den Erziehungsstil ihrer Eltern häufig positiv einschätzen. Für andere junge Menschen kann Familie eine „gierige Gemeinschaft“ sein, wenn sie einzelnen Mitgliedern nicht ermöglicht, sich in unterschiedlichen Rollen innerhalb der komplexen Gesellschaft zu erleben.

Literatur

BMFSFJ 2005: Siebter Familienbericht. Berlin.

Bronfenbrenner, Urie 1976a: Wer kümmert sich um unsere Kinder. Neufassung. In: Ders.: Ökologische Sozialisationsforschung, S. 131-167.

Esping-Anderson, Gösta 1990: The three worlds of welfare capitalism. Cambridge. Glaubenskrieg ums Kind. In: Der Spiegel 9/2008.

Honig, Michael-Sebastian 2006: An den Grenzen der Individualisierung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als sozialpädagogisches Thema. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Heft 1, S. 25 -36.

Lareau, A. 2003: Unequal Childhoods. Class, Race, and Family Life. Berkeley: University of California Press.

World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt/M.

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