Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 183: Die öffentliche Familie

In schlechter Verfassung

Die Familienpolitik in Deutschland,

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 47-60

Familien bestehen aus Kindern und Frauen, meistens auch aus Männern. Als Familienpolitik im engeren Sinne sollten allein solche Maßnahmen gelten, die Eltern und Kindern das Leben erleichtern. Dies ist jedoch weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart unbedingt der Fall. Das, was sich in den letzten Jahrzehnten an gesetzgeberischen Maßnahmen in Bezug auf die Familie beobachten lässt, ist zunächst als Geschichte der Befreiung der Frauen aus feudalen ehelichen Verhältnissen zu lesen, die im Familienrecht erst Mitte der 1970er Jahre abgeschlossen war (I). Im Sozial- und Steuerrecht, das die Existenzbedingungen von Familien in besonderer Weise gestaltet, sind zwei Entwicklungen zu beobachten: Einerseits wurde dort die Hausfrauenehe ökonomisch flankierend abgesichert, andererseits ist ein System weiter ausgebaut worden, das die staatliche Umverteilung auf die erwerbstätige und die alte Generation beschränkt und die Existenzsicherung von Kindern nicht in ihr System eingestellt hat. Trotz eines verfassungsrechtlichen Schutzauftrages für Ehe und Familie ist damit ein Abgabensystem entstanden, das Kinderlosigkeit belohnt und Familien stranguliert. Die ökonomische Verfassung vieler Familien ist daher mittlerweile so desaströs, dass sie zunehmend Gegenstand öffentlicher Debatten ist (II). Hoffnung macht das Bundesverfassungsgericht, das mit einer gleichheitsrechtlichen Betrachtung auch die strukturelle Benachteiligung der Familien im Verhältnis zu kinderlosen Personen in den Blick nimmt (III). Neuerdings ist in Deutschland eine offensiv beworbene Familienpolitik zu beobachten, die bei näherer Betrachtung in eine Elternpolitik und eine Kinderpolitik unterschieden werden muss. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels soll es Müttern – unter dem Stichwort der Vereinbarkeit von Familie und Beruf -ermöglicht werden, ebenso wie Männer berufstätig zu sein. Sogar Männer werden erstmals mit den sog. Vätermonaten Gegenstand von Familienpolitik. Da Kinder auf Grund des seit den 1970er Jahren bestehenden und sich mittlerweile selbst potenzierenden Geburtenrückgangs zwischenzeitlich zu einem knappen gesellschaftlichen Gut geworden sind, liegt heute in der juristischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion ein neuer Fokus auf Kinderrechten und auf Kinderförderung. Dahinter verbirgt sich allerdings nicht selten die Vorstellung, Kinder auch an ihren Eltern vorbei fördern zu können (IV.).

I. Famili­en­po­litik als Emanzi­pa­ti­ons­ge­schichte

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stellte die Ehe für Frauen in rechtlicher Hinsicht ein persönliches Herrschaftsverhältnis dar: Sie waren verpflichtet, im Hauswesen des Mannes Dienste zu leisten. Der Ehemann besaß das Alleinentscheidungsrecht in allen ehelichen Angelegenheiten. Außerdem war dem Mann in seiner Eigenschaft als Vater bei Meinungsverschiedenheiten in der Erziehung der Kinder per Gesetz der „Stichentscheid“ zugesichert. Das persönliche Abhängigkeitsverhältnis der Frau gründete nicht zuletzt auf ihrer ökonomischen Abhängigkeit: Mit der Eheschließung ging ihr Vermögen in die Verwaltung des Mannes über, der fortan den Nutznieß daraus ziehen konnte. Damit nicht genug: Der Ehemann besaß auch ein umfassendes Recht auf die Arbeitskraft der Frau: Diese war verpflichtet, in seinem Geschäft mitzuarbeiten, ferner hatte er die Befugnis, einen von ihr eingegangenen Arbeitsvertrag fristlos zu kündigen. Diese Eheordnung war weitestgehend zwingendes Recht, konnte also nicht von den Ehegatten vertraglich in ihrem Sinne gestaltet werden (Ramm, 1968: 44). Sozialrechtlich wurde dieses Ehekonzept durch die unbedingte Witwenrente, die beitragsfreie Mitversicherung der Ehefrau in der Krankenversicherung und durch das Ehegattensplitting flankiert.

Ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur rechtlichen Gleichstellung von Frauen war die Einfügung von Art. 3 Absatz 2 – Männer und Frauen sind gleichberechtigt – gegen den erbitterten Widerstand der Mehrheit des Parlamentarischen Rates in das Grundgesetz von 1949. Hieran setzte die Rechtsprechung des BVerfG an, das jedoch zunächst noch von der Existenz funktional-biologischer Unterschiede ausging (Sacksofsky, 1996: 23 ff.) sowie das Gleichberechtigungsgesetz von 1958, das die Pflicht zur Hausfrauenehe zwar lockerte, aber nicht vollständig aufgab. Die Reste der patriarchalen Eheordnung wurden erst mit dem 1. Eherechtsreformgesetz beseitigt, das am 1. 7. 1977 in Kraft getreten ist. Seitdem verzichtet das Eherecht auf ein verbindliches Eheleitbild. Hausarbeit und Erwerbsarbeit sind nun der freien Disposition der Ehegatten anheim gegeben. Damit wurde der Frau zum ersten Mal seit Entwicklung der Industriegesellschaft ein dem Mann ebenbürtiges Recht eingeräumt, einer außerhäuslichen Arbeit nachzugehen. Mit der Reform des Scheidungsrechts wurde ein erklärtes Ziel der Reformdiskussionen verwirklicht, dass nun nicht mehr allein die Frauen als die i.d.R. ökonomisch Abhängigen für eheliches „Fehlverhalten“ mit dem Entzug des Sorgerechts und des Unterhalts bestraft werden konnten. Der sozialdemokratische Gesetzgeber ging seinerzeit davon aus, dass die Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit in unverminderter Stärke anhalten und dass es langfristig zu einer Angleichung der Erwerbsquoten von Männern und Frauen kommen würde (BMJ, 1974: 21).

Wenn Mütter zunehmend erwerbstätig sind, kommen jedoch die alten sozialrechtlichen Ausgleichsmechanismen, mit denen die Gesellschaft die reproduktive Arbeit in den Familien finanziell abgesichert hat, immer weniger zum Tragen: ihre Ansprüche aus der Witwenversorgung reduzieren sich, sie zahlen selber Krankenversicherungsbeiträge und die Wirkungen des Ehegattensplittings schmelzen ab. Seit Mitte der 1980er Jahre sind deshalb Regelungen entstanden, die nicht länger kompensatorisch an der Hausfrauenehe ansetzen, sondern an der Erziehungsleistung selber (Lenze, 1989: 251). So sind am 1.1.1986 das Bundeserziehungsgeldgesetz sowie die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung in Kraft getreten[1]. In der Gesetzesbegründung wurde seinerzeit – in Zeiten sich verfestigender Massenarbeitslosigkeit – unverhohlen mit der Möglichkeit spekuliert, dass viele Arbeitnehmerinnen anschließend nicht wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und damit „die beschriebene Entlastung des Arbeitsmarktes auf Dauer eintritt“[2]. Offensichtlich von ganz anderer Motivation ist nun das zum 1.1.2007 in Kraft getretene Elterngeldgesetz geprägt, das als Lohnersatzleistung für ein Jahr konzipiert ist und – in Anbetracht des absehbaren Fachkräftemangels – auf die schnelle Wiedereingliederung der Mütter in den Arbeitsmarkt abzielt (s.u.).

II. Die struk­tu­relle Benach­tei­li­gung der Familien im Steuer- und Abgaben­system

Obwohl Ehe und Familie gem. Art 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, hat es das sog. Familiengrundrecht nicht verhindern können, dass ein Steuer- und Abgabensystem entstanden ist, das zu den familienfeindlichsten der gesamten OECD gehört.

Wird das Steuerrecht betrachtet, so fällt auf, dass die Ehe als eine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft betrachtet wird mit der bekannten Folge, dass sich durch das Ehegattensplitting die steuerliche Belastung von verheirateten Paaren gegenüber unverheirateten Paaren verringern lässt – zumindest in den Konstellationen, in denen einer der beiden Ehegatten ein geringeres Einkommen erwirtschaftet als der andere. Ein Familiensplitting existiert in Deutschland nicht, so dass eine Familie mit drei oder fünf Kindern zunächst genauso viel Steuern zahlt wie ein kinderloses Ehepaar, obwohl von dem in „individualistischer Engführung“ am Markt erzielen Arbeitslohn (Franz-Xaver Kaufmann) mehr Personen leben müssen. Seit den Beschlüssen des BVerfG zum Kindergeld und zu den Kinderfreibeträgen[3] darf allerdings zumindest das sozialhilferechtliche Existenzminimum aller Familienmitglieder nicht mehr besteuert werden. Für den erwachsenen Steuerpflichtigen wird dies durch einen Freibetrag im Steuertarif realisiert. Einkommensmillionäre wie Geringverdiener zahlen erst ab dem ersten Euro, der den Betrag von 7.664 Euro im Jahr übersteigt, den Eingangssteuersatz von 15 Prozent[4]. Das Existenzminimum der Kinder in Höhe von 5.808 Euro im Jahr wird zwar besteuert, die damit zu Unrecht erhobenen Steuern werden aber über das Kindergeld zurückerstattet. In den Worten des BVerfG ist das Kindergeld eine „vorweggenommene Steuervergütung auf den Kinderfreibetrag“[5]. Zwei Drittel der gesamten Kindergeldzahlung in Deutschland ergeben sich aus der Steuerfreiheit des kindlichen Existenzminimums (BMF, 2003: 40). Die Gewährung von Kindergeld suggeriert allerdings, dass es sich bei diesem um eine freiwillige staatliche Leistung handelt – d.h. um Familienförderung.

Erhöht sich das Kindergeld, so zeigt sich die Politik stets als besonders familienfreundlich. Unerwähnt bleibt, dass bislang jedes Mal das BVerfG die Erhöhung verlangt hat, weil die Kosten des Existenzminimums der Kinder gestiegen sind. Dieser Vorgang wird sich im Herbst 2008 wiederholen, wenn die Bundesregierung in dem alle 2 Jahre vorzulegenden Bericht über die Höhe des Existenzminimums zu dem Ergebnis kommen wird, dass sich das notwendige sozialhilferechtliche Existenzminimum der Kinder durch Inflation und gestiegene Verbrauchssteuern erhöht hat. Derzeit wird zu Recht kritisiert, dass das Existenzminimum der Kinder willkürlich niedriger eingestuft wird als das der Erwachsenen, und es wird eine Erhöhung auf ca. 8000 Euro gefordert. Hinzu kommt, dass es sich bislang nur um das überlebensnotwendige Existenzminimum in Anlehnung an die Sozialhilfesätze handelt, Eltern aber ihre familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen nicht an dieser Grenze einstellen dürfen und dies auch in der Regel nicht tun[6]. Im Steuerrecht wäre daher noch viel Gestaltungsspielraum, um die Unterhaltslasten von Eltern angemessener zu berücksichtigen und Familien damit einen größeren Betrag von dem selbst erwirtschafteten Einkommen zu belassen.

Zurzeit ist das Einkommenssteuerrecht allerdings immer noch familienfreundlicher als die sich selbst sozial nennende Sozialversicherung. In der Sozialversicherung nämlich wird das gesamte Existenzminimum der Kinder mit Beiträgen belegt, d.h. Eltern zahlen auch auf diejenigen Bestandteile ihres Einkommens Sozialversicherungsbeiträge, die sie gar nicht zur Verfügung haben, sondern für den Unterhalt der Kinder verwenden müssen. Im Rahmen der Sozialversicherung werden die durch Kinder verursachten existenziellen Kosten immer noch so behandelt wie andere konsumtive Ausgaben der Eltern auch, sei es ein teures Hobby oder ein luxuriöses Auto, obwohl das umlagefinanzierte System auf das Nachwachsen einer ausreichend großen neuen Generation angewiesen ist. Das BVerfG hat dies für die Pflegeversicherung gerügt und eine Änderung auf der Beitragsseite verlangt sowie einen Prüfauftrag auch für die anderen Zweige der Sozialversicherung erteilt[7]. Letzteres hat die Bundesregierung allerdings bereits im November 2004 offiziell abgelehnt (BT-Drucks 15/4375: 4 ff.). Da die meisten durchschnittlich verdienenden ArbeitnehmerInnen höhere Sozialabgaben als Steuern zahlen, wirkt sich die Verbeitragung des Kindesunterhalts bei immer weiter steigenden Sozialversicherungsbeiträgen besonders verheerend für das Familienbudget aus. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Hinzu kommt, dass die Rentenversicherung als offensichtlichste Umverteilungsinstanz zwischen erwerbstätiger und alter Generation die nachwachsende Generation ausblendet. Die Große Rentenreform von 1957 hat mit der Einführung der dynamischen Rente nur die eine Hälfte des sog. Schreiberplans realisiert. Sein Vorschlag, mit Hilfe einer Jugendrente auch eine Umverteilung zwischen erwerbstätiger und junger Generation vorzunehmen, wurde fallen gelassen. Seitdem sind die Menschen von den Konsequenzen ihres generativen Verhaltens befreit – sie können davon ausgehen, dass sie allein mit der Zahlung von Beiträgen ihre Versorgung im Alter sicherstellen können. Sie werden zukünftig von den Kindern anderer mitfinanziert, ohne für diesen Sondervorteil der Ersparnis der Erziehung eigener Kinder in irgendeiner Weise eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Die Konsequenzen des Rückgangs der erwerbstätigen Generation in Form eines verringerten Volumens an Beitragseinnahmen werden durch gleichmäßige Kürzungen auf alle Mitglieder der Altengeneration umgelegt und betreffen auch diejenigen, die zwei und mehr Kinder erzogen haben. Im Gegenteil: Rentner mit eigenen Kindern werden durch die Kürzungen regelmäßig stärker betroffen, da ein kinderloses erwerbstätiges Paar in der Regel höhere Anwartschaften erzielen kann als ein Paar, das für Kinder gesorgt hat. Die Anrechnung von drei Beitragsjahren pro Kind in der Rentenversicherung kann den Verlust an Erwerbspotenz, den Kinder zwangsläufig mit sich bringen, nicht ausgleichen.

Eine weitere, die Familien belastende Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass in den letzten Jahren der Anteil der indirekten Steuern auf Waren und Dienstleistungen enorm gestiegen ist. Inzwischen tragen die Verbrauchssteuern schon mehr zur Finanzierung der Staatsausgaben bei als die direkten Steuern auf Löhne und Einkommen[8]. Die indirekten Steuern sind deswegen grundsätzlich problematisch, weil sie diejenigen besonders hart treffen, die den größten Teil ihres Einkommens für Mittel des täglichen Lebensbedarfes aufwenden müssen. Dies sind generell Geringverdiener, aber insbesondere auch Familien mit Kindern (Grub, 2000: 17). Im Jahr 2003 setzten Paare mit Kindern im früheren Bundesgebiet zwischen 72 und 75 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens für den privaten Konsum ein, in den neuen Ländern und in Berlin-Ost waren es rund 76 Prozent (Münnich: 2006). Damit tragen Eltern über die auf den Unterhalt der Kinder entrichteten Mehrwertsteuern notgedrungen mehr zur Finanzierung des Staatshaushaltes bei als Kinderlose, die dieses Geld sparen oder im Ausland ausgeben können.

Auch unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten sind die eklatanten Verschiebungen zwischen direkten und indirekten Steuereinnahmen des Staates problematisch. So ist die Steuerprogression als Ausdruck der vertikalen Steuergerechtigkeit auch durch das Sozialstaatsprinzip fundiert[9]. Danach wird im Rahmen eines progressiven Steuertarifs auf höhere Einkommen stärker zugegriffen als auf niedrigere. Bei den indirekten Steuern bildet allerdings der private Konsum und nicht das Einkommen die Besteuerungsbasis. Der Anteil des privaten Konsums am verfügbaren Einkommen entscheidet über das Maß der Besteuerung, die dann regressiv verläuft: Je kleiner das Einkommen ist, desto größer ist der Anteil, der für den Lebensunterhalt aufgewandt werden muss, und desto relativ höher ist der indirekte Steuerzugriff. Das Argument, im Konsum komme doch gerade die Leistungsfähigkeit zum Ausdruck, verfängt deshalb nicht, weil selbst auf dem Existenzminimum in erheblichem Maße Verbrauchssteuern lasten, z.B. Energiesteuern. Wenn der Staat seine Ausgaben mehr und mehr aus indirekten Steuern finanziert, dann verliert das Prinzip der gerechten Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im deutschen Steuersystem an Bedeutung (Hickel, 2004: 161).

Selbst die OECD weist darauf hin, dass das deutsche Steuer- und Abgabensystem Gering- und Durchschnittsverdiener im internationalen Vergleich sehr stark belastet. Anders als es der progressive Steuertarif vermuten lasse, sinke die Abgabenbelastung höherer Einkommen wieder, da die Sozialversicherungsabgaben oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen entfallen, bzw. diese Abgaben von Selbständigen und Beamten gar nicht gezahlt werden. Im internationalen Durchschnitt sei vor allem die Abgabenlast für Alleinerziehende mit geringem Einkommen überproportional groß (OECD, 2008: 11). Die hohen Sozialabgaben im Zusammenspiel mit direkten und indirekten Steuern machen bei Gering- und durchschnittlich Verdienenden mittlerweile ca. 75 Prozent des Brutto-Einkommens aus[10], während die 450 reichsten Deutschen im Jahr 2002 eine Steuerlast von durchschnittlich 34 Prozent zu tragen hatten (DIW, 2008: 20).

Dieses System hat zu einer strukturellen finanziellen Unterversorgung von Familien gesorgt. Wenn Eltern im Steuer- und Sozialversicherungssystem gleichbehandelt würden, indem ihre besonderen Bedingungen der Unterhaltsverpflichtung für Kinder eingestellt würden, dann hätte das eine erhebliche finanzielle Dimension für Familien: Würde das Existenzminimum der Kinder auch in der Renten- und Krankenversicherung freigestellt, so würde dies im Schnitt den Familien pro Kind und Jahr durchschnittlich 1.916 Euro mehr von ihrem Bruttoeinkommen belassen[11]. Wenn dann noch den Eltern die Mehrwertsteuer zurückerstattet würde, die sie auf den durchschnittlichen Kindesunterhalt an den Staat entrichten, kämen zusätzliche 1.826 Euro pro Kind und Jahr hinzu. Insgesamt also ein Zuwachs an Nettoeinkommen von durchschnittlich 3.742 Euro pro Jahr und Kind – ohne die zusätzlichen Effekte, die ein Familiensplitting oder höhere Kinderfreibeträge vor allem für die besser situierten Familien hätten. Zusammen mit dem Kindergeld würde dies einen monatlichen Betrag von 460 Euro ergeben, der die Kinderkosten auf einem niedrigen Niveau abdecken würde und der nicht umsonst als Anhaltspunkt für eine Kindergrundsicherung genannt wird.

Damit wären jedoch noch nicht die Opportunitätskosten abgedeckt, die Eltern entstehen, indem sie zu Gunsten der Kindererziehung auf zwei volle Erwerbstätigkeiten verzichten. Diese ökonomischen Verluste spiegeln sich in den Zahlen der Familienforschungsstelle des Statistischen Landesamtes von Baden-Württemberg wider, die errechnet hat, dass ein jüngeres, verheiratetes Paar mit zwei Kindern im Monat netto einen Betrag von 1.667 Euro zusätzlich bräuchte, um das Einkommensniveau eines gleichaltrigen kinderlosen, nicht verheirateten Paares zu erreichen (Eggen, Strantz, 2007: 26). Nach der hier vorgestellten Analyse kann es nicht mehr erstaunen, dass mittlerweile knapp die Hälfte aller Kinder in Deutschland in prekären Einkommensverhältnissen lebt – d.h. in Familien, die mit bis zu 75 Prozent des äquivalenzgewichteten Durchschnittseinkommens auskommen müssen (Statistisches Bundesamt, 2002: S. 587, 591).

III. Gleich­heits­recht­liche Famili­en­po­litik

Die Versuche, die zunehmende Familienarmut zu erklären, lassen sich in einen sozialstaatlichen und einen gleichheitsrechtlichen Ansatz unterscheiden (Lenze, 2005: 289). Der sozialstaatliche Erklärungsansatz führt Kinderarmut in erster Linie auf die Arbeitslosigkeit der Eltern, die Nichterwerbstätigkeit von (allein erziehenden) Müttern und die Veränderungen des Arbeitsmarktes zurück, d.h. auf Niedriglöhne und diverse andere Flexibilisierungsstrategien der Arbeitgeber (Butterwege, Klundt, 2001, 53). Ohne diese Effekte gänzlich in Abrede stellen zu wollen, kann dies jedoch nicht erklären, warum die Armut von Familien – gemessen an der Zahl der Sozialhilfe beziehenden Kindern – auch in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs und der erheblichen Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Müttern seit Mitte der 1960er Jahre immer weiter gestiegen ist und mittlerweile auch die Mittelschicht erreicht hat. Diese ist in Deutschland vom 2000 bis 2006 um rund 5 Millionen Personen geschrumpft. Von diesem Abstieg bei der relativen Einkommensposition sind insbesondere „klassische“ Familienhaushalte betroffen gewesen (DIW, 2008: 107). So richtig es ist, dass zu armen Kindern in der Regel arme Erwachsene gehören, so zutreffend ist es auch, dass viele dieser Erwachsenen nicht arm wären, wenn sie kinderlos wären. Die hier vorgestellte Analyse legt nahe, dass die Kinder selber der Fehler im deutschen Abgabensystem sind.

Ursachen und Wirkungen von Kinderarmut können letztendlich nur mit einer gleichheitsrechtlichen Herangehensweise erkannt werden. Denn das beschriebene Steuer- und Sozialversicherungssystem würde dann kein verfassungsrechtliches Problem aufwerfen, wenn in einer Solidargemeinschaft alle erwachsenen Menschen Kinder bekommen, bis auf diejenigen, die ungewollt kinderlos bleiben. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger im Lebensverlauf Unterhaltspflichten für Kinder trügen, würde insofern Gleichheit herrschen. Es bestünden lediglich soziale Problemlagen bei Geringverdienern mit vielen Kindern. Wenn nun aber ein erheblicher Teil der Menschen lebenslang kinderlos bleibt – und dies könnten in Deutschland bis zu 30 Prozent eines Jahrganges sein[12] – tut sich ein erhebliches Gleichheitsproblem auf: Die Kinderlosen sind Gewinner auf den Güter-, Wohnungs- und Freizeitmärkten, weil sie die Kosten für Kinder sparen und dieses Geld in den Gegenwartskonsum oder die Kapitalbildung stecken können. Gegenwärtig dürfen sie darauf vertrauen, dass sie im Fall von Alter, Krankheit und Pflege von den Kindern der Eltern ihrer Generation finanziell mitgetragen werden, ohne diesen Sondervorteil in irgendeiner Form bezahlen zu müssen. In den Worten des BVerfG: „Damit erwächst Versicherten ohne Kinder im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten“[13].

Das Bundesverfassungsgericht hat daher zu Recht alle kindbezogenen Entscheidungen seit Anfang der 1990er Jahre als Gleichheitsfragen thematisiert und unter den allgemeinen Gleichheitssatz subsumiert und den Gesetzgeber mit sehr kurzer Fristsetzung zur Heilung der Gleichheitsverstöße aufgefordert[14]. Um die materiellen Folgen von Kindern für ihre Familien und damit die Ursachen von Familienarmut zu begreifen, führt nur der horizontale Vergleich weiter, indem Menschen einer Einkommensstufe mit und ohne Kinder verglichen werden. Es verfehlt das Problem grundsätzlich – wie es in der öffentlichen Diskussion üblich ist -, reiche mit armen Familien oder gar reiche Familien mit armen Alleinstehenden zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen.

IV. Die neue deutsche Famili­en­po­litik – Elterngeld und Betreu­ungs­of­fen­sive

Die intensiv beworbene neue deutsche Familienpolitik will unter dem Stichwort der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit dem Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung verschiedene wichtige gesellschaftliche Anliegen verwirklichen: In erster Linie wird die Ansicht vertreten, dass die Geburtenrate steigen wird, wenn Frauen sich nicht länger zwischen Beruf und Familie entscheiden müssen. Als ebenso wichtig wird das Ziel der Armutsbekämpfung durch eine gesteigerte Erwerbstätigkeit von Müttern bezeichnet. Weiterhin sollen sich Frauen endlich vollständig durch Eingliederung in den Arbeitsmarkt emanzipieren können, weil sie fürderhin davon ausgehen können, dass ihre Kinder öffentlich betreut werden. Auch sollen Kinder aus bildungsfernen Schichten durch den Krippenbesuch frühzeitig in ihrer Entwicklung gefördert werden. Nicht zuletzt sollen die Sozial- und Staatskassen von steigenden Beitragseinnahmen profitieren und Renditeverluste der Arbeitgeber durch den drohenden Arbeitskräftemangel abgemildert werden[15].

Wenn Familienpolitik als Politik definiert wird, die Eltern und Kindern das Leben erleichtert, dann besitzen einige der genannten Motive offensichtlich keine besondere familienpolitische Legitimation: Die trifft auf die angebotsorientierte Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitgebern Renditeverluste angesichts der drohenden Verknappung des Arbeitskräftepotentials ersparen soll, ebenso zu wie auf die erhofften sprudelnden Einnahmen für die Kassen der Sozialversicherung und des Steuerstaates. Auch das durchaus sympathische Ziel, der stecken gebliebenen Frauenemanzipation wieder auf die Beine helfen zu wollen, weist keinen genuinen familienpolitischen Hintergrund auf. Es bleiben als relevante Anliegen die Bekämpfung der Armut der Familien durch eine vermehrte Erwerbstätigkeit der Mütter, die Steigerung der Geburtenrate vor allem der akademischen Paare sowie die Frühförderung der Kinder durch den Ausbau der öffentlichen Betreuung. Dazu aber ist Folgendes zu sagen:

Wer die hier vorgestellte Analyse der Familienarmut – die verbesserungswürdige Berücksichtigung von Unterhaltslasten der Eltern im Einkommensteuerrecht, die Verbeitragung des Kindesunterhalts in der Sozialversicherung und die zunehmende Finanzierung des Staatshaushaltes über Verbrauchssteuern – auch nur halbwegs nachvollziehen konnte, der wird die Bekämpfung der Familienarmut nicht in einer zunehmenden Erwerbsstundenzahl der Eltern sehen können, denn das würde bedeuten, dass diesen zugemutet wird, selber gegen die ungerechten Strukturen anzuarbeiten. Nur wenn ein Elternpaar ebenso viel arbeitet wie ein kinderloses Paar, erzielen beide ein gleich hohes Einkommen. Damit wären die Vergleichsgruppen aber immer noch nicht in der gleichen wirtschaftlichen Lage, denn die einen schulden ihren Kindern Unterhalt in Form von Zeit und Geld und die anderen nicht.

Diese Tatsache muss im Steuer- und Sozialrecht abgebildet werden, ehe Eltern auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen hinsichtlich Beruf und Familie treffen können. Ohnehin wird sich nach geltendem Recht das Familieneinkommen durch den zusätzlichen Arbeitseinsatz der Eltern nicht wesentlich erhöhen, denn einem gesteigerten Einkommen der Frauen stehen Verluste aus dem Ehegattensplitting, gesteigerte Beiträge für die Sozialversicherung, höhere Gebühren für die Kinderbetreuung und oft noch Fahrtkosten zur Arbeit gegenüber – ganz abgesehen davon, dass das Leben für alle beteiligten Familienmitglieder erheblich an Stress gewinnt. Erst wenn mit einer Kindergrundsicherung in Höhe von 460 Euro pro Kind und Monat die existenziellen Kinderkosten durch einen Solidaritätszuschlag von denjenigen aufgebracht werden, die noch nicht oder nicht mehr für den Unterhalt von Kindern aufkommen, wäre die verfassungsrechtlich garantierte elterliche Wahlfreiheit ansatzweise realisiert, denn immerhin sind gem. Art. 6 Abs. 2 GG Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Dies verdeutlicht den Vorrang der Eltern bei der Pflege und Erziehung der Kinder, weist aber auch gleichzeitig darauf, dass neben den Eltern auch der Staat Aufgaben und Pflichten bei der Kindererziehung hat[16].

Sinnen und Trachten des neuen Familienleitbildes ist die qualifizierte Akademikerin, die einerseits das in sie investierte Bildungskapital im Beruf amortisieren und andererseits wertvollen Nachwuchs hervorbringen soll. Ob sich die Geburtenrate der akademisch gebildeten Paare durch Elterngeld und Krippenplätze wirklich erhöhen lässt, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen. Es ist jedoch zu vermuten, dass die gut ausgebildete Akademikerin klug genug ist zu wissen, dass das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit der Zurverfügungstellung von Krippenplätzen alles andere als gelöst ist. Die Akademikerin erlebt vielleicht, dass der Stress in der Erwerbsarbeit deutlich zunimmt, dass diejenigen, die Arbeit haben, zunehmend länger und intensiver arbeiten, und sie kann sich ausmalen, dass die Folge gestresste Eltern sind. Es spricht einiges dafür, dass je länger ein Kind am Tag in Institutionen betreut wird, desto stärker die Eltern gefordert sind, sich dem Kind mit Ruhe und Geduld zu widmen, um ein familiäres Kraftfeld zu schaffen, in dem sich das Kind trotz seiner außerhäuslichen Aktivitäten geborgen und beheimatet fühlt. Familie wird unter diesen Bedingungen zu einer „alltäglichen Herstellungsleistung“ (Jurczyk 2004: 153). Vielleicht schaudert es die Akademikerin auch einfach bei dem Gedanken, ihr Kleinkind morgens um 6.30 zu wecken, in die Krippe zu bringen und es dort nach einem anstrengenden Arbeitstag um 16.00 oder gar später wieder abzuholen, um dann zu Hause mit dem Kindsvater noch so etwas wie ein Familienleben zu gestalten[17].

Es bleibt zu fragen, ob die neue deutsche Familienpolitik, die auf die Erwerbstätigkeit der Mütter nach Ablauf des ersten Erziehungsjahres eines Kindes abzielt, wenigstens die frühe Förderung der Kinder aus sozial benachteiligten Familien realisieren kann. Denn der Ausbau der frühen Kinderbetreuung wird gerade auch mit der Notwendigkeit einer „Frühförderung“ für Kinder aus bildungsfernen Schichten begründet. Dafür spricht jedoch wenig: Die Vereinbarkeits-Rhetorik richtet sich eindeutig an die gebildete Mittelschicht mit ein bis zwei Kindern. Im Werbefeldzug des Familienministeriums ging vollkommen unter, dass die gezielte Förderung der Akademikerpaare durch Elterngeld und die öffentliche Subventionierung von Krippenplätzen die finanzielle Situation der Familien der GeringverdienerInnen, der GrundsicherungsempfängerInnen, der studierenden Eltern sowie der Mütter mit vielen Kindern, die sich langfristig gegen eine Erwerbstätigkeit entschieden haben, erheblich verschlechtert hat. Diese Gruppen beziehen nun 12 statt zuvor 24 Monate lang einen Betrag von 300 Euro. Für die gering-qualifizierten Frauen rechnet sich die Erwerbstätigkeit in den ersten Lebensjahren der Kinder nicht. Sie haben nicht die beruflichen Opportunitätskosten, die hochqualifizierte Frauen aufweisen. Während qualifizierte Frauen, auch die Mütter unter ihnen, inzwischen eine fast so hohe Erwerbsquote aufweisen wie Männer, stagniert die Beschäftigung von Müttern mit geringen Qualifikationen (Ostner, 2002: 257). Auch die Wirtschaft ist nicht wirklich an diesen Arbeitskräften interessiert. Allerdings wäre es gerade aus Sicht dieser Kinder indiziert, dass sie früh eine Kindertagesstätte besuchen, um die „Vererbung“ der Bildungsabstinenz zu verhindern. Die Realität sieht jedoch vollkommen anders aus. Obwohl der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab Vollendung des dritten Lebensjahres schon seit 1996 realisiert ist, gehen diese Kinder heute nicht oder erst sehr spät in den Kindergarten. Sie besetzen weder die Ganztagsplätze in der Kindertagesstätte noch die Hortplätze in der nachschulischen Betreuung (Kreyenfeld, 2007: 111), denn all diese Einrichtungen kosten Geld, das ihre Eltern aufgrund ihres geringen Einkommens nicht aufbringen können. Zwar besteht die Möglichkeit der Gebührenbefreiung für GrundsicherungsempfängerInnen, bei arbeitslosen Eltern wird von den Ämtern jedoch häufig kein Bedarf für einen Ganztagsplatz oder für einen frühen Krippenbesuch anerkannt.

Wollte man sozial benachteiligte Kinder wirklich fördern, müsste der Kindergartenbesuch für sie durchgängig kostenlos sein. Aber selbst wenn dies verwirklicht wäre, muss vor überzogenen Erwartungen gewarnt werden: Gerade diese Kinder profitieren nur wenig von allgemeinen Bildungsangeboten (Becker, Lauterbach, 2004: 152 f.). Dieses Ergebnis wird auch durch die US-amerikanischen Erfahrungen mit Interventionsprogrammen zu Gunsten benachteiligter Kinder bestätigt. Langfristige positive Effekte ließen sich nur bei den besonders aufwändigen Maßnahmen nachweisen, die im ersten Lebensjahr begannen, die Familien der Kinder miteinbezogen und bis weit in die Grundschulzeit hineinreichten (Roßbach, 2005: 98ff.). Der Besuch eines Ganztagskindergartens oder einer Ganztagsschule per se bringt damit noch keinen Bildungsgewinn. Um Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern gezielt und individuell zu fördern, müssten neue Konzepte erstellt und sehr viel Geld investiert werden. Von der Qualität der öffentlichen Betreuung ist in der ganzen Vereinbarkeitsdebatte jedoch auffallend wenig die Rede gewesen.

Wenn Familienpolitik Eltern und Kindern das Leben erleichtern soll, dann sollten auch die Bedürfnisse der Kinder in die Betrachtung einbezogen werden. Die sog. Familienförderung spricht bislang unter dem Stichwort der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (bestenfalls) die Interessen der Erwachsenen an, während das Kindeswohl so gut wie gar nicht vorkommt. Verfassungsrechtlich ist dies auch vorgezeichnet, denn das Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 GG bezieht Kinder allenfalls reflexiv mit ein, in dem Sinne, dass das Elternrecht maßgeblich dem Wohl des Kindes diene und „wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes“ sei18. Was jede berufstätige Mutter weiß, ist für deutsche Verfassungsrechtler schlichtweg nicht vorstellbar: Dass sich Eltern- und Kinderinteressen hin und wieder auch strukturell ausschließen können. Dabei ist bekannt, dass Kinder zu der Berufstätigkeit der Eltern ein durchaus ambivalentes Verhältnis haben. Bei älteren Kindern besteht das Bedürfnis nach Zuwendung, Nähe und gemeinsamen Aktivitäten mit den Eltern, aber auch der Wunsch nach autonom gestaltbaren Zeiträumen. Kürzere Zeiten der beruflichen Abwesenheit beider Eltern wurden deshalb bei Befragungen von Kindern durchaus als Chance für eigeninitiierte Handlungen bezeichnet (Jurczyk, 2004: 147).

Ob jedoch Krabbelkinder ab dem 12. Lebensmonat ein genuines Interesse daran haben, längere Zeit des Tages in einer Kinderkrippe zu verweilen, erscheint eher fraglich. Die Frage, ab welchem Alter Kinder regelmäßig außerhäuslich in größeren Gruppen betreut werden und welche Standards diese Betreuung aufzuweisen hat, wird selbst von Psychologen und Pädagogen nicht einheitlich beantwortet. Die internationale Bindungsforschung zeigt, dass die nicht-familiäre Betreuung ab dem 12. Lebensmonat nicht unproblematisch ist, dass jedoch unter optimalen Bedingungen in Krippe und im Elternhaus in den meisten Studien keine langfristigen Schäden für die Kinder nachweisbar sind (Ahnert, 2005; Dornes, 2008: 182; kritischer: Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, 2008: 202). Optimale Bedingungen verlangen einen Betreuungsschlüssel von 1:3 oder maximal 1:4, eine konstante Bezugsbetreuerin, stabile Gruppen sowie last but not least: einfühlsame Eltern. Die Krippenforscherin Ahnert zieht den Schluss, dass das gesamte Zeitbudget für die täglich verbleibenden Interaktionen in der Familie nicht zu knapp ausfallen oder nicht durch Alltagsprobleme übermäßig belastet sein darf (Ahnert, 2005: 30 f.). Das bedeutet, dass eine frühe öffentliche Krippenbetreuung dann dem Kindeswohl nicht abträglich ist, wenn mit einem hohen Einsatz finanzieller Mittel in den Institutionen familienähnliche Bedingungen simuliert werden. Unabhängig von der Frage, ob dies überhaupt realistisch ist, ist doch wohl offenkundig, dass sich eine Krippenbetreuung auf einem solch hohen Niveau auch gesamtgesellschaftlich nur für sehr gut qualifizierte und verdienende Eltern „rechnet“.

Um den Bogen zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zu spannen kann gefragt werden, ob der geplante Ausbau der öffentlichen Betreuung von Kleinstkindern nicht auch als ein Scheitern der Frauenbewegung gelesen werden kann, die ursprünglich angetreten war, Männer hälftig an der Pflege und Erziehung der Kinder zu beteiligen. Nachdem das Ziel der „Zivilisierung des männlichen Ichs“ (Gerhard, 2003: 82) weitestgehend aufgegeben wurde, müssen sich nun Frauen und vor allem Kinder verstärkt an den Markt anpassen. Werden die Kinder aber selber einmal gefragt, dann bewerten sie solche Betreuungsarrangements besonders positiv, in denen beide Elternteile involviert sind. Dies deckt sich mit ihren Angaben, dass vor allem die Abwesenheit der Väter von vielen als Defizit erlebt wird (Jurczyk, 2004: 154f.). Vieles spricht dafür, dass sich in den nächsten Jahren die Erwerbsbeteiligung der Frauen der der Männer angleichen wird. Auch kann niemand ernsthaft etwas gegen eine qualitativ hochwertige öffentliche Kinderbetreuung einwenden.

Familienpolitik in dem hier verstandenen Sinne sollte jedoch dafür Sorge tragen, dass Familiengründungen und Familienleben fernab des Marktgeschehens möglich bleiben (Lenze, 2006: 287). Unabdingbare Voraussetzung dafür aber ist ein Steuer- und Sozialversicherungsrecht, welches die besonderen Bedingungen von Menschen mit Kindern in Rechnung stellt und Eltern in die Lage versetzt, ihre Kinder aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen großzuziehen. Stattdessen scheint sich die Politik allein auf den Ausbau der Kleinkindbetreuung zu konzentrieren: Geplant ist der Einsatz von 12 Milliarden Euro für die bis 2013 anvisierten 750.000 Krippenplätze (Begründung Gesetzesentwurf, 2008: 34). Nach Lage der Dinge werden die Familien über ihre Einkommens- und Verbrauchssteuern aber unweigerlich überproportional an den Kosten der Finanzierung beteiligt und es ist zu befürchten, dass die vorrangigen Korrekturen der Gerechtigkeitsdefizite zu ihren Lasten unerledigt bleiben.

[1] Die in den Folgejahren kontinuierlich weiterentwickelt wurden. So werden heute in der Rentenversicherung drei Beitragsjahre pro Kind gutgeschrieben, auch additiv zu Beiträgen, die in demselben Zeitraum durch Erwerbstätigkeit erworben wurden. Das Bundeserziehungsgeldgesetz wurde ab 1.1.07 vom Elterngeldgesetz als Lohnersatzleistung abgelöst.

[2] BT-Drucks. 10/3792, S. 21.

[3] BVerfGE 82, S. 60 ff. und S. 198 ff.

[4] Dies ergibt für jeden eine einheitliche Steuerersparnis von 1.149,60 Euro im Jahr und 95,80 Euro im Monat.

[5] BVerfGE 108, S. 52, 75.

[6] Nach der Kinderkostenstudie des statistischen Bundesamtes steigen die Ausgaben für Kinder mit dem Alter an: Eltern zahlten 2003, also noch vor der Erhöhung der Mehrwertsteuern, durchschnittlich für Kinder unter sechs Jahre monatlich 468 Euro, für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren 568 Euro und für Kinder zwischen zwölf und achtzehn Jahren 655 Euro. Nicht überraschend ist, dass Eltern mit hohem Einkommen mehr Geld in ihre Kinder investieren als Eltern mit niedrigem Einkommen, Eltern mit einem Kind pro Kind mehr zahlen als Eltern mit drei Kindern und Alleinerziehende am wenigsten Geld für ihre Kinder ausgeben können (Münnich, 2006: 644).

[7] BVerfGE 103, S. 242 ff.

[8] Im Jahr 2002 machten die direkten Steuern auf Löhne und Einkommen 24,6 % der Staatseinnahmen aus. Sie wurden übertroffen von den indirekten Steuern, auf die ein Anteil von 26,5 % entfiel (Die Quellen der Staatseinnahmen, in: Die Zeit vom 15. Mai 2003, S. 21).

[9] BVerfGE 29, S. 402, 412; 32, S. 333, 339; 36, S. 66, 72.

[10] 52,2 % betrugen nach Angaben der OECD 2007 in Deutschland die Steuern und Sozialabgaben vom Bruttolohn (einschließlich der Sozialbeiträge der Arbeitgeber) (FAZ vom 12.03.2008, S. 11), hinzu kommen noch die indirekten Steuern wie z.B. Mehrwertsteuer, Ökosteuern etc.

[11] Berechnet mit einem Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 33% unter Einschluss des „Arbeitgeberbeitrages“. Gleichheitsrechtlich ist auch nur eine Beitragsfreistellung des Kindesunterhalts indiziert, nicht die gesamte Befreiung auch des Existenzminimums der Erwachsenen. Denn die Ungleichheit besteht nur hinsichtlich des Vorhandenseins von Kindern. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch sinnvoll sein kann, das Existenzminimum von Geringverdienern freizustellen. Dies könnte sich aus sozialstaatlichen oder arbeitsmarktpolitischen Gründen ergeben, nicht aus gleichheitsrechtlichen Gründen.

[12] Manche Bevölkerungswissenschaftler schätzen diesen Anteil auf ca. 30 % für die Geburtsjahrgänge der ab 1965 Geborenen (z.B. Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 2001, S. 54) Allerdings ist die Datenlage in Deutschland hierzu alles andere als eindeutig, weil im Mikrozensus bislang nur nach Kindern, die im Haushalt leben, gefragt wird und keine Angaben zur Kinderzahl insgesamt erhoben wurde. Dies wird sich erst für den Mikrozensus 2008 ändern.

[13] BVerfGE 103, S. 242, 264. (Hervorhebung durch A.L.).

[14] BVerfGE 82, 60 ff; 87, 1 ff.; 87, 153 ff.; 89, 346 ff.; 91, 93 ff.; 94, 241 ff.; 103, S. 242 ff..

[15] Zur Befürchtung schrumpfender Kapitalrenditen im Zuge der Verknappung des Faktors „Humankapital“ weist der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft in seiner Publikation „Altersvorsorge und demographischer Wandel: Kein Vorteil für Kapitaldeckungsverfahren?“ darauf hin, dass die wegen der demographischen Entwicklung absehbar steigenden Arbeitslöhne zu einer Senkung der Kapitalrenditen führen könne, dass dies aber u. a. mit einer Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit abgemildert werden könne. Eine ähnliche Stoßrichtung schlägt das Strategiepapier des Bundesministeriums für Senioren, Frauen und Jugend, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und des Institutes der Deutschen Wirtschaft, Köln, von November 2004 ein.

[16] BVerfGE 24, 119, 135 f.

[17] Iris Radisch (2007: 139 ff.), die neben der Erziehung von drei Kindern eine beachtliche Karriere hingelegt hat und mit Sicherheit keine Vertreterin einer rückwärtsgewandten Familienideologie ist, beschreibt in ihrem Buch „Die Schule der Frauen“ sehr plastisch die emotionalen Kosten, die die frühe Ganztagsbetreuung für Eltern und Kinder mit sich bringen kann.

[18] BVerfGE 72, S. 122, 137.

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