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Ein Erinnern, das einen soll

Rezension

Zwei Bücher vermessen den Gedächtnisraum Europa,

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 136-139

Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses, welches seit seiner Renaissance in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vor allem in den Kulturwissenschaften breite Anwendung fand, ist eng verbunden mit der Suche nach Identität. Identität ist hier bezogen u.a. auf Prozesse der Konstitution, Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Gemeinsamkeiten innerhalb Gruppen, Gemeinschaften und Nationen.

Helmut König, Julia Schmidt, Manfred Sicking (Hg.); Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationaler Erinnerung und gemeinsamer Identität. 169 S., 18,80 Euro.

Natan Sznaider; Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive. 153 S., 16,80 Euro.
Beide: Bielefeld, transcript Verlag 2008.

Merkmal der von Menschen getragenen Identität ist aber zuförderst die Teilung und Akzeptanz gemeinsamer Werte, letztlich die Partizipation an einer gemeinsamen Kultur. Wie kann aber vor dem Hintergrund einer vorwiegend nationalen, bzw. regionalen kulturellen Konstruktion von Identität von einem europäischen Gedächtnis gesprochen werden? Wie ist eine europäische Identität jenseits der jeweiligen nationalen Gedächtnisse möglich?

Die Antworten gestalten sich schwierig und drängen zudem, weil Europa, und hier vor allem das supranationale Konstrukt der EU, zurzeit einen Mangel an Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung der Einzelstaaten erfährt. Fest steht aber auch: Europa diskutiert wieder über seine Identität und ist nicht nur politisch dazu angehalten, Gemeinsamkeiten in der (europäischen) Vielfalt zu suchen, um so eine kulturelle Bodenhaftung für das „Projekt Europa“ zu erlangen. Europäische Identitätssuche ist allerdings so alt wie Europa selbst; sie kann als Prozess niemals abgeschlossen werden. Die Konstruktion einer europäischen Einheit vollzieht sich notwendigerweise über die Interpretation der gemeinsamen europäischen Geschichte, die nur so zu einer jeweils angemessenen Deutung von europäischen Spezifika (wie z.B. der Religion, der modernen Wissenschaft, oder dem Kapitalismus) gelangen kann. Eine solche Interpretationsleistung wird allerdings kaum zu anderen europäischen Spezifika kommen als denen, die bereits zu Beginn des modernen Europas diskutiert wurden. Zu fragen ist daher eher nach den Konstruktionsvorgängen, nach den Inhalten des Gedächtnisses, bzw. dem „Was“ und „Wie“ des gegenwärtigen Erinnerns. Soweit in Kürze die Problemlage eines europäischen Gedächtnisses. Zu fragen ist nun, was die beiden im transcript Verlag erschienenen Bücher zur sozialwissenschaftlichen Aufklärung über Europa beitragen.

Grundlage für den von Helmut König, Julia Schmidt und Manfred Sicking herausgegeben Band „Europas Gedächtnis“ ist die gleichnamige Konferenz in Aachen im Mai vergangenen Jahres. Dem prinzipiellen Problem eines Sammelbandes, in der Vielschichtigkeit die Orientierung zu verlieren und kaum Antworten auf die gemeinsame Fragestellung zu geben, entgeht das Buch zu weiten Teilen. Doch zeigen die Beiträge der einzelnen Autoren, dass theoretische, historische und politische Argumentationen wenn sie erst einmal vermischt sind, kaum für Ordnung im Diskurs sorgen und einen gewissen Schein der Beliebigkeit haben.

Helmut König (Aachen) sieht eine europäische Kultur als ein Sicherheitsnetz, welches bis zu einem bestimmten Grad politische Abstürze auffangen könne. Jedoch erhielt die Europa-Frage nach dem Ende der Ost-West Spannung eine neue Qualität. Er wendet daher den Begriff des Gedächtnisses politisch und fragt nach den politischen Folgen und Funktionen. König stellt dabei die Bedeutung des Gedächtnisses für die Legitimation der politischen Ordnung heraus (König u.a. 2008: 15). Auch wenn man seine Einschätzung des Bedeutungsverlustes des Modells Nation nicht uneingeschränkt teilen muss, sind die Hinweise auf die Entstehung einer „Gedächtnisreligion“ bzgl. der Shoah (ebd.: 26) und die Möglichkeit zu einem komplexeren Bild von Geschichte in einem postnationalen Gedächtnisregime (ebd.: 28) hilfreiche Ansatzpunkte, um die Entstehung eines europäischen Gedächtnisses nachzuvollziehen. Der britische Soziologe Anthony Giddens (London) bietet mit seinen 8 Thesen, die er aus der bruchhaften und regressiven Geschichte Europas ableitet eher ein politisch streitbares Programm, denn eine soziologische Analyse; dies auch, weil ihm Europa ein vordergründig politisches Projekt ist. Im Gegensatz zu König betont er allerdings die anhaltende Bedeutung der Nationalstaaten. Giddens kennzeichnet die EU als Experiment mit Regierungsformen ohne Staat (ebd.: 51). Europa sei eine Chance, insofern es als Reformprojekt verstanden würde. Hierbei will Giddens Europa allerdings von seinen überkommenen Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit befreien (ebd.: 47, 53, 58) und scheinbar allein auf ökonomische Beine stellen.

Der Historiker Thomas Frei (Jena) betont, dass es nicht nur auf die Erinnerung, sondern auch auf die Kenntnis der Geschichte ankomme. Während die Verbrechen der Deutschen den Ausgangspunkt des europäischen Gedächtnisses darstellten, und die Erfahrungen des 2. Weltkrieges als Agens des europäischen Einigungswillen dienten, sei die Zeitgeschichte Erbin eines neuartigen Geschichtsbewusstseins. Der zeigeschichtliche Umgang mit dem Verbrechen der Deutschen wandele sich zwar, so Frei, mit dem generationellen Konstellationswechsel, doch sei die Gefahr der Entkontextualisierung der Holocaust-Erinnerung, vor allem im Blick auf die Globalisierung gegeben. Den französischen Historiker Pierre Nora zitierend stellt Frei dem die Bedeutung der Geschichte entgegen: „Das Gedächtnis trennt, aber die Geschichte eint“ (ebd.: 100).

Etienne François (Berlin) erkennt die Zentralität der Gedächtnisthematik in der Konzentration allein auf die jüngste Vergangenheit. Die Tatsache, dass das europäische Gedächtnis dem nationalen nachgeordnet sei, erweise sich selbst bei transnationalen und europäischen Themen (ebd.: 89). Seine Suche nach einem lieux der mémoire, jenen Orten, in denen sich die europäische Erinnerung kristallisiert, führt François zur Unterscheidung von expliziten (z.B. 1968) und impliziten (z.B. Versailles) Erinnerungsorten (ebd.: 92). Dass eine europäische Dimension der Einstellung zur Vergangenheit an Bedeutung gewinnt, zeigt sich für den Historiker in der zunehmenden Verflechtung der europäischen Länder und Kulturen (ebd.: 94). Merkmale hierfür seien eine neue europäische Dimension der Lehrpläne, aber auch eine Neugestaltung und Neugründung von Museen mit explizit europäischer Ausrichtung.

Adolf Muschg (Zürich) stellt heraus, dass Identität kein Wert an sich und keine produktive Größe sei (ebd.: 109), vielmehr könne auch für Europa gelten, dass es einem Reife- und Zivilisationsprozess unterliege. Identität erweise sich in diesem Kontext als eine kulturelle Errungenschaft, Europa als „Haltung“ (ebd.: 116). Im Rückgriff auf Jacob Burkhard weiß Muschg drei Potenzen (Kultur, Politik und Wirtschaft) für menschliche Organisationen verantwortlich. Die Verallgemeinerung einer Potenz im Namen des Fortschritts eröffne nach Burkhard ein Zeitalter der Barbarei, weshalb Muschg auch klare Worte für die Verbetriebswissenschaftlichung der Geschichte findet.

Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld) setzt sich in seinem Beitrag mit den Grenzen Europas auseinander. Dass bisher keine eindeutigen politischen, kulturellen und geographischen Grenzen Europas festgelegt wurden, mündet für Wehler in das Dilemma von bloßer Freihandelszone oder Vollendung der europäischen Einheit (ebd.: 122). Da ein geographisches Grenzargument nicht befriedigt, führt Wehler ein Bündel weiterer konstitutiver und institutioneller Merkmale auf, die Europa charakterisierten. Um das Projekt der europäischen Einheit am Leben zu erhalten ist es für Wehler wichtig, wenn auch nicht unstrittig, mittels dieser ideensozial- politik- und kulturgeschichtlicher Besonderheiten aufzuzeigen, dass die Türkei nicht nach Europa gehört. Es spreche schlicht gegen die vitalen Interessen des Projektes (ebd.: 132).

Der vor einigen Wochen bei einem Unfall verstorbene polnische Historiker und Politiker Bronislaw Gemerek reflektiert die Trennung von Ost- und Westeuropa, die er bis ins Jahr 1054 zurückführt. Mit der unterschiedlichen Vergangenheit von Ost- und Westeuropa gehe auch eine unterschiedliche Vergangenheitsdeutung einher. Während des kalten Krieges blieb Spielraum für die Entstehung von Mitteleuropa, nach dem kalten Krieg haben sich auch die Perspektiven für eine europäische Integration verschoben, so Gemerek.

Auch Karl Schlögel (Frankfurt/ Oder) rückt Osteuropa ins Zentrum seiner Betrachtungen. Er beschreibt eindrücklich, wie der Osten aus dem Blickwinkel des Westens verschwunden ist. Zudem macht er deutlich, dass der Umbruch von 1989 mit einer langen Inkubationszeit verbunden ist. Trotz der Schwierigkeit des Westens die Geschichte Osteuropas zu verstehen und trotz der Besonderheiten des geschichtlichen Bewusstseins der östlichen Staaten ist die Auseinandersetzung aus Sicht des Osteuropaforschers lehrreich. Nur so lässt sich für Schlögel die Bestimmung des europäisches Gedächtnisses, als Raum für den Strom der Erzählungen (ebd.: 166) verwirklichen.

Der Sammelband liefert erwartungsgemäß kein einheitliches Bild. Auch wenn die Beiträge z. T. merkbar lose nebeneinander stehen, geben sie in summa die wichtigsten Positionen im Diskurs um Europas Gedächtnis wieder. Sie leisten aber auch nicht mehr. Trotz der Vielstimmigkeit mit der die Konturen eines europäischen Gedächtnisses gezeichnet werden, wird mindestens zweierlei deutlich: Zum einen, wie eng das europäische Gedächtnis mit dem Holocaust und den deutschen Verbrechen des zweiten Weltkrieges verwoben ist, zum anderen, dass die Erinnerung trotz ihrer Vielschichtigkeit Lücken aufweist.

Natan Sznaiders „Gedächtnisraum Europa“ knüpft direkt an diesen Aspekten an. Seine jüdische Perspektive kritisiert eine Vision des kosmopolitischen Europas, aus dem das jüdische Gedächtnis verschwunden ist (Sznaider 2008: 7). Für Sznaider gibt es jedoch keine Theorie des Kosmopolitismus ohne eine Praxis kosmopolitischer Menschen. Kosmopolitismus wird von Sznaider als eine neuerliche Trennung von Staat und Nation definiert. Nach Ulrich Beck ist dies ein Staat, der durch ein Nebeneinander von Nationalitäten und durch konstitutionelle Toleranz gekennzeichnet ist (ebd.: 27). Die von Sznaider betonte Praxis des kosmopolitischen Akteurs versteht europäischen Kosmopolitismus und europäischen Partikularismus nicht als sich gegenseitig ausschließende Begriffe. Eine Theorie des Kosmopolitismus kommt nach Sznaider nicht ohne einen Bezug zum Judentum aus, denn die Juden waren es, welche die zweite kosmopolitische Moderne innerhalb der ersten nationalstaatlichen Moderne vorgelebt haben (ebd.: 39, 115). Aus dieser jüdischen Perspektive sind Kosmopolitismus und Partikularismus miteinander zu vereinbaren. Sznaiders Buch ist auch ein Rekurs auf Hannah Arendt, die bereits früh darauf hingewiesen hat, dass unterschiedliche Erinnerungen nicht kompatibel sein können, ohne dass man sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Folglich ist auch für Sznaider die Aufklärung eben nicht die gemeinsam geteilte Geschichte von Juden und Deutschen (ebd.: 85); die Gedächtnisse überschneiden sich nicht. Die aus dem nationalen Container befreite Geschichte könne aber im Gegensatz zur althergebrachten Ruhmesgeschichte endlich auch das in der Vergangenheit geschehene Unrecht beherzigen (ebd.: 69) und so auf postnationale Solidarität zielen. Sznaider setzt die Europadiskussion konsequent in der Nachkriegszeit an und bezieht sich hierbei u.a. auf die Konferenz zum europäischen Geist 1946. Die neue Europaidee entsteht hier aus den Erfahrungen des Krieges, doch auch hier muss Sznaider korrigieren: für die Juden war Europa nach dem 2. Weltkrieg als Alternative kaum denkbar.

Mit fortschreitender Lektüre wird deutlich, dass Europa eingebunden ist in eine Auseinandersetzung mit dem kosmopolitischen Modell Amerikas als möglichem Vorbild. Der Autor zeigt ebenso wie Ahrendt mehr Sympathie für das Modell jenseits des Atlantiks. Letztlich ist sein Buch aber ein Plädoyer, die Geschichte um die kulturellen Grundlagen Europas historisch generativ aus verschiedenen Blickwinkeln sozialwissenschaftlich aufzuschlüsseln – nur so scheint auch ein tieferes Verständnis für das gegenwärtige Ringen um eine Einheit in der Vielheit möglich. Diesem Ansatz ist allemal mehr abzugewinnen als dem Entwurf einer politischen Programmatik.

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