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Die Lehren aus dem Afgha­ni­stan-Ein­satz

Die Bundeswehr zwischen Eskalationsdynamik und Parlamentsvorbehalt;

aus: vorgänge Nr. 193, Heft 1/2011, S. 36-44

Die Stufen der Eskalation

Am 28.01.2011 hat der Deutsche Bundestag das Mandat für die deutsche Beteiligung an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) verlängert. Dieses war die 23. Mandatsentscheidung für die Afghanistaneinsätze seit 2001. Acht davon bezogen sich auf die Operation Enduring Freedom (OEF) und 15 auf ISAF. Dabei wurde mit 11 Mandatsbeschlüssen die Beteiligung der Bundeswehr an den militärischen Einsätzen in Afghanistan in den letzten neun Jahren ausgeweitet, und zwar hinsichtlich der Dimensionen „zahlenmäßiger Umfang”, „Größe des Einsatzraumes” und „militärische Intensität”. Dazu kam die Entscheidung der Bundesregierung zur Übernahme der Aufgaben einer Quick Reaction Force in der Nordregion durch die Bundeswehr, die ohne Mandatsänderung erfolgte.

Anfang 2002 umfasste das deutsche Kontingent insgesamt 1.300 Soldaten in zwei Einsätzen – 100 Soldaten der Spezialkräfte als Teil der Operation zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Operation Enduring Freedom – OEF) und 1.200 Soldaten als Teil der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force – ISAF). In den folgenden Jahren wurde der deutsche ISAF-Anteil Schritt für Schritt erhöht und erreichte mit dem Mandat vom Februar 2010 eine Obergrenze von 5.350 Soldaten.

Parallel dazu wurde der Einsatzraum des deutschen ISAF-Kontingents kontinuierlich ausgeweitet (die 100 Soldaten im Rahmen von OEF durften von Anfang an im gesamten Land eingesetzt werden). Es war zunächst auf den Großraum Kabul beschränkt, sein Einsatzraum wurde anschließend auf zwei Provinzen im Nordosten des Landes ausgeweitet (Kundus und Feyzabad), danach auf die gesamte Nordregion, in der Deutschland auch die Führung der Koalitionstruppen übernahm, und schließlich – im Falle von besonderen Lagen und zeitlich begrenzt – auf Gesamtafghanistan.[1]

Gleichzeitig entwickelten sich Ausrüstung, Bewaffnung und Einsatzregeln der Bundeswehr immer weiter in Richtung von Kampf und Krieg, von leichter Bewaffnung am Anfang hin zum Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen, Tornado-Aufklärungsflugzeugen und Artillerie.

Tabelle S. 37:  Eskalationsschritte Afghanistaneinsätze
XXXXXXXX

Diese kontinuierliche Ausweitung in drei Dimensionen wird als Eskalation interpretiert, zunächst in einem rein deskriptiven Sinn, dann aber auch normativ. Denn die Entscheidungen zu einer kontinuierlichen Ausweitung der militärischen Beteiligung in Afghanistan waren so nicht beabsichtigt, wie auch der ehemalige Bundesverteidigungsminister von 2002-2006, Dr. Peter Struck, in einer TV-Reportage 2010 einräumte. Er erklärte: „Dass wir in die Situation geraten können, wie die Sowjetunion dort oder die Briten als Besatzungsmacht, das hat niemand im Kopf gehabt, niemand. Wir haben auch gedacht, wir sind in zwei oder drei Jahren da draußen.“[2]

Es stellt sich die Frage, wie diese Eskalation zu erklären ist, insbesondere vor dem Hintergrund der formal starken Position des Deutschen Bundestages (,‚Parlamentsarmee“).

Die Motive der Erstentscheidungen:
Solidarität mit den USA und den Vereinten Nationen

Die Wurzeln dieser nicht beabsichtigten Eskalationsdynamik lagen nach den Ergebnissen einer umfassenden Analyse des Autors (von Krause 2010) bereits in den Erstentscheidungen von 2001. In der äußerst emotionalisierten Atmosphäre nach dem 11. September hatten die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag den USA (uneingeschränkte) Solidarität zugesichert. Die Bevölkerung stand damals mehrheitlich hinter diesen Erklärungen. Als die USA dann im Rahmen ihres „War on Terrorism” Bündnissolidarität einforderte, war die Bundesregierung bereit, dem zu folgen und sich mit einem kleinen Kontingent von Spezialkräften im Rahmen der Operation OEF auch am Kampfeinsatz in Afghanistan zu beteiligen. Bundeskanzler Schröder erklärte in der OEF-Mandatsdebatte am 16.11.2001: „Wir erfüllen damit die an uns gerichteten Erwartungen unserer Partner und wir leisten das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr noch: Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach.“[3]

Allerdings benötigte der Bundeskanzler zur Durchsetzung dieser Absicht im Parlament — das aufgrund des Konstrukts der „Parlamentsarmee” des Bundesverfassungsgerichts mit einer Vetoposition ausgestattet ist — die Vertrauensfrage. Dadurch wurde verhindert, dass der Deutsche Bundestag seine Kontrollaufgabe vorrangig problembezogen wahrnahm. Vielmehr wurde die Sachentscheidung durch die Frage des Machterhalts der rot-grünen Regierung überlagert.

Knapp drei Wochen später — Anfang Dezember 2001 — wurde auf der UN-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn die Einsetzung einer afghanischen Interimsregierung beschlossen, die durch internationales Militär (ISAF) unterstützt werden sollte. Die Vereinten Nationen riefen die Mitgliedstaaten auf, sich an der Mission zu beteiligen. Die Bundesregierung war aus Solidarität mit der Weltorganisation,[4] aber wohl auch im Hinblick auf ihr mittelfristiges Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat[5] und um eines kurzfristigen Prestigegewinns willen[6], bereit, sich an ISAF zu beteiligen bzw. 12 Monate später sogar deren Führung mit zu übernehmen. Später wurden Eskalationsentscheidungen mit durch die Motivation bestimmt, das deutsch-amerikanische Verhältnis zu kitten, das nach der Nichtbeteiligung Deutschlands am Irak-Krieg stark beschädigt war.[7]

Unpräziser und unrea­lis­ti­scher politischer Zweck

Der Entscheidungsprozess zur Beteiligung an ISAF verlief unter extremem Zeitdruck. Auch wenn durchaus umfangreiche Informationen über die Verhältnisse im Einsatzland verfügbar gewesen wären (vgl. von Krause 2010: 101 ff.), so ist davon auszugehen, dass diese in der kurzen Zeit nicht verarbeitet wurden. Hierin liegt ein Grund, dass Deutschland mit sehr unklaren Vorstellungen in die Einsätze ging. Dieses bestätigte der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Peter Struck, retrospektiv in einem TV-Interview: „Wir sind da schon – das will ich gerne zugeben – etwas blauäugig oder auch etwas naiv an die Sache herangegangen, weil wir davon ausgingen, dass die Afghanen die ausländischen Truppen als Hilfe ansehen und uns für den Wiederaufbau des Landes natürlich freudig begrüßen würden.“[8] Auch fehlte in Deutschland zu der Zeit eine Debatte darüber, was unsere nationalen Interessen sind – und sie fehlt immer noch. Vielmehr wurden und werden Bündnisinteressen ohne weitere Diskussion mit deutschen Interessen gleichgesetzt. Somit bestimmte Multilateralismus bis in die jüngste Zeit hinein maßgeblich die deutschen Entscheidungen.

Die Zielsetzung für die ISAF-Beteiligung – Clausewitz spricht vom „politischen Zweck” – war daher anfangs nur sehr vage beschrieben. Die Bundesregierung formulierte, Deutschland wolle einen „Beitrag zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan” leisten.[9] Diesem weit gefassten politischen Zweck stand eine zunächst sehr begrenzte militärische Zielsetzung gegenüber, nämlich die Unterstützung der Interimsregierung in der Region Kabul.[10] Für mehr hätten die verfügbaren militärischen Kräfte und Mittel auch nicht gereicht.

Deutlich nach den ersten Entscheidungen[11] formulierte dann die Bundesregierung in mehreren „Afghanistankonzepten” ehrgeizige und z. T. unrealistische Zielvorstellungen. Beispiele dafür sind die Fiktion einer starken Zentralregierung, Demokratisierung nach westlichen Vorstellungen sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft, darunter auch „der Rolle der Frauen und der Verwirklichung ihrer Rechte” (vgl. ebenda, S. 1). Dieses entsprach kaum den Gegebenheiten eines Landes, das nach Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg durch völlig zusammengebrochene staatliche Strukturen, tiefe ethnische und regionale Konflikte, eine mittelalterliche Gesellschaft auf dem Lande, Armut, Drogenanbau und ausgeprägte Korruption gekennzeichnet war. In dieser Diskrepanz zwischen politischem Zweck und militärischer Zielsetzung lag der erste Faktor, der eine Eskalationsdynamik in Gang setzte. Denn im Laufe der Zeit wurde klar, dass der breit formulierte politische Zweck nur bei Ausfächerung des militärischen Einsatzes in das Land hinein erreichbar wäre. Hieraus resultierte entsprechender Mehrbedarf an militärischen Ressourcen, der letztlich niemals voll abgedeckt wurde. Erst Ende 2010 erfolgte die Reduzierung dieser weitreichenden Zielvorstellungen, weg von dem – wie Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg es formulierte –„Träumen von einer Westminster-Demokratie“[12] hin zum Eröffnen einer Exit-Option, die als „Übergabe in Verantwortung” bezeichnet wird (Bundesregierung 2010). Dieses lässt „am Horizont” erstmals einen politischen Zweck sichtbar werden, der erreichbar scheint.

Die Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln

Eine dauerhafte Stabilisierung Afghanistans kann nicht allein mit militärischen Mitteln gelingen, sondern bedarf eines umfassenden, vernetzten Ansatzes (Konzept der „Vernetzten Sicherheit“). Dabei kommt nicht-militärischen Instrumenten eine hohe Bedeutung zu. Dieser Ansatz konnte von Deutschland auch in internationale Zielvorstellungen eingebracht werden, wo er als „Comprehensive Approach” bezeichnet wird. Eine Schätzung besagt, dass die militärischen Anteile an der Zielerreichung 20 Prozent und die nicht-militärischen 80 Prozent betragen sollten (vgl. von Krause 2010: 58). Bei der Realisierung der anvisierten Ziele entspricht der Ressourceneinsatz dieser konzeptionellen Vorstellung jedoch in keiner Weise. Vielmehr ist das Verhältnis der militärischen zu den nicht-militärischen Anteilen mit ca. 70:30 nahezu entgegengesetzt (vgl. ebenda: 162 ff.). Dieses drastische Zurückbleiben der nicht-militärischen Missionsanteile führte zunehmend zur Dominanz militärischer Aspekte in den Entscheidungsprozessen — ein zweiter gewichtiger Faktor der Eskalationsdynamik. Forderungen der militärischen Führung der NATO nach mehr Kräften und Mitteln zur Beherrschung einer erodierenden Sicherheitslage lösten immer weitere Eskalationsschritte aus — zunächst im Süden und Osten, ab 2007 auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr im Norden. Deutschland fand sich nach dem Hineinschlittern in die Einsätze auf einer „Rutschbahn” bzw. „schiefen Ebene” wieder.

Die Dominanz der Bundes­re­gie­rung im gesell­schaft­li­chen Diskurs

Die Theorie des Demokratischen Friedens postuliert, dass die Exekutive beim Einsatz von Militär als Mittel der Politik u. a. durch die „Aversion der Bürger” gegen Krieg und durch die demokratischen Institutionen gebremst würde (vgl. z.B. Müller 2002). Solche „Bremswirkungen” sind für die Afghanistaneinsätze bis 2008 jedoch kaum feststellbar.

In der deutschen Gesellschaft herrscht als Teil einer „Zivilmachttradition“[13] die Meinung vor, der Einsatz von Militär sei nur gerechtfertigt, wenn dieser den tradierten Vorstellungen, wie „Verteidigung”, ,Schützen” und „Helfen” entspräche. Die von Verteidigungsminister Peter Struck formulierte Metapher von der „Verteidigung der Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch“[14] kann als bewusstes Anknüpfen an diese Denkweise interpretiert werden. Die deutsche Politik — sowohl Regierung als auch Parlament — war daher bemüht, das Bild der Afghanistaneinsätze so zu „schönen”, dass es diesem vorherrschenden Denken entsprach. Insbesondere vermied man jeden Bezug zu Begriffen wie „Gewalt” und „Krieg”. Dem diente auch die Vorstellung einer strikten Trennung von OEF als „Kampfeinsatz” und ISAF als „Stabilisierungseinsatz” (vgl. Naumann 2008: 8), die spätestens ab 2006 eine Fiktion war.

Weil die Medien an dieser Darstellung zunächst mitwirkten, auch wenn es seit 2003 immer wieder zu Todesopfern unter den deutschen Soldaten kam, und zwar auch durch Kriegshandlungen,[15] wurde die Eskalation nicht durch die öffentliche Meinung gebremst. Seit dem Jahr 2008 wurde in der Gesellschaft dann aber immer mehr bekannt, dass die Soldaten der Bundeswehr mitnichten „bewaffnete Entwicklungshelfer” waren, sondern dass sie kämpften, starben und auch töteten. Höhepunkt dieses „Bewusstseinswandels” waren die Wochen nach der Bombardierung von zwei Tanklastwagen bei Kundus im September 2009. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg formulierte in einem TV-Interview pointiert: „So grauenvoll die Wirkungen des 4. Septembers auch waren, so wichtig ist dieser 4. September mit Blick darauf, welche Defizite wir in dem Afghanistaneinsatz zu erkennen haben und welche möglicherweise lange auch unter Verschluss gehalten wurden […] über alle Parteigrenzen hinweg.[16]

Durch solche Ereignisse wurde der Druck von Medien und Öffentlichkeit so stark, dass die Bundesregierung ihre Position verändern musste. Heute qualifiziert sie den Einsatz völkerrechtlich offiziell als „nicht internationalen bewaffneten Konflikt“[17] Darüber hinaus haben sich inzwischen zunächst der ehemalige Verteidigungsminister und danach auch Bundeskanzlerin Angela Merkel der umgangssprachlichen Formulierung „Krieg” angeschlossen[18], nicht hingegen Außenminister Guido Westerwelle.

In der Öffentlichkeit stieg die Ablehnung der Afghanistaneinsätze durch die Bevölkerung auf inzwischen über 70 Prozent, wobei interessanterweise nach einer Woche intensiver öffentlicher Diskussion nach dem Kundus-Vorfall die Ablehnungsquote kurzfristig signifikant um 12 Prozentpunkte auf unter 60 Prozent gefallen war[19] — ein Indiz dafür, dass verstärkte Information die Akzeptanz der Politik erhöhen kann?[20]

Die Kontroll­schwä­chen des Parlaments

Mit dem „Streitkräfteurteil” von 1994 hatte das Bundesverfassungsgericht — ganz im Sinne der „Theorie des Demokratischen Friedens” — dem Deutschen Bundestag eine vergleichsweise starke Position bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zugewiesen („Parlamentsarmee“). Ist das deutsche Parlament hinsichtlich der Afghanistaneinsätze seiner damit übertragenen Verantwortung gerecht geworden? Hier sind Zweifel angebracht. Zeitdruck, Emotionalisierung und mangelnde Informationsverarbeitung bei den Erstentscheidungen lassen nur einen Schluss zu: Deutschland ist in diese Einsätze hineingeschlittert — und das Parlament hat das nicht verhindert. Dabei fehlte es nicht an warnenden Stimmen. Als Beispiel sei die fast prophetisch klingende persönliche Erklärung des Abgeordneten Helmut Rauber (CDU), Reserveoffizier und zu der Zeit Präsident des Verbandes der Reservisten der Bundeswehr, in der ersten ISAFMandatsdebatte zitiert: „Afghanistan ist zweimal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, besitzt aber mit 25 Millionen Einwohnern gerade mal ein Drittel unserer Größe. Zu glauben, mit circa 5.000 Soldaten Sicherheit in diesem Land zu schaffen und das in einem Zeitraum von 6 Monaten, ist schlicht eine Illusion […]. Jeder Automatismus bei der Entsendung deutscher Truppen ins Ausland ist abzulehnen. Was aber eingefordert werden muss, sind Mindestbedingungen, die sich an den vitalen Interessen Deutschlands ebenso zu orientieren haben wie an einer klaren politischen Konzeption einschließlich einer Exit-Strategie mit einem zeitlichen und finanziellen Rahmen. Wer sich aus Gründen einer Friedensschaffung und Friedenssicherung in Afghanistan engagiert, der muss schon schlüssig die Frage beantworten, warum dann nicht im Nahen Osten, in Kaschmir, in Indonesien, in Angola, in Ruanda, im Sudan, im Kongo, in Sri Lanka usw.“[21] Auch danach erhielten alle beantragten Afghanistanmandate Zustimmung im Parlament. Woran liegt diese „Kontrollschwäche” des Bundestages?

Zum einen übt die Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren über das „Agenda Setting” erheblichen Einfluss aus. Ihr obliegt die Mandatsformulierung, d. h., sie allein bestimmt den Inhalt, der Bundestag kann nur en bloc zustimmen oder ablehnen. Mit der Vertrauensfrage „erpresste” Bundeskanzler Schröder in den Augen vieler Abgeordneter sogar die Koalition bei der OEF-Entscheidung.[22] Zwar hat das Parlament Wege gefunden, kleinere Korrekturen durchzusetzen, z. B. durch informelle Einflussnahme im Vorfeld der Mandatsformulierung, Protokollerklärungen oder begleitende Notizen — wobei die Opposition von diesen inoffiziellen Einflussmöglichkeiten weitgehend ausgeschlossen ist (vgl. von Krause 2010: 185). Die Exekutive dominiert aber deutlich auch den parlamentarischen Prozess. Andererseits ist der „Kontrolleifer” von Koalitionsfraktionen gegenüber „ihrer” Regierung auch gering. Das wirkt sich insbesondere in Zeiten einer Großen Koalition aus. Auch zögert nach Regierungswechseln eine neue Opposition zunächst, von eigenen früheren Entscheidungen abzurücken, so dass Mandatsentscheidungen ein hohes Maß an Pfadabhängigkeit aufweisen. Hinzu kommt, dass im Deutschen Bundestag bei Mandatsdebatten ein Hang zur Detaildiskussion feststellbar ist, es fehlt weitgehend eine übergreifende Diskussion der strategischen Ziele des Engagements und des Standes der Zielerreichung (vgl. auch Naumann 2008: 12.f.). Hearings, wie im US-Senat üblich, vermisst man vollständig. Und schließlich leidet die parlamentarische Kontrolltätigkeit unter einem Spannungsverhältnis zwischen militärischer Geheimhaltung und Öffentlichkeit. Um das plakative Bild weiterzuführen: Auf der schiefen Ebene sind keine „parlamentarischen Bremsspuren” erkennbar.

Die Lehren aus Afghanistan

Aus dem Beispiel Afghanistan sollten eine Reihe von Lehren für künftige Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr gezogen werden:

Zunächst ist bei Erstentscheidungen für Auslandseinsätze — auch bei Emotionalisierung und Zeitdruck — mehr Sorgfalt einzufordern. Durch eine präzise und realistische Zweck- und Zielbestimmung ist ein „Hineinschlittern” in einen Einsatz zu vermeiden. Denn das Beispiel Afghanistan zeigt, wie schwer es ist, aus einem Einsatz wieder herauszukommen, wenn man sich erst einmal auf der schiefen Ebene befindet.

Zum Zweiten sollte die Position des Deutschen Bundestages gestärkt werden, um der Idee der Parlamentsarmee mehr Geltung zu verschaffen. Die beiden Mandate aus 2010 und 2011 deuten zwar darauf hin, dass eine stärkere Ausgewogenheit zwischen Regierung und Opposition zu mehr kritischer parlamentarischer Kontrolle führen kann. So enthält das jüngste Mandat vom 28.01.2011 keine weitere Eskalation, vielmehr wird die Exit-Option betont (allerdings nur in der Mandatsbegründung, nicht hingegen im rechtlich verbindlichen Teil). Um die Position der Opposition aber auch formal zu stärken, sollte die konstitutive Zustimmung des Bundestages zu bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr bei Erst- und Eskalationsentscheidungen an eine qualifizierte Mehrheit gebunden werden — analog der Erklärung des Verteidigungsfalls nach Art. 115a des Grundgesetzes.[23] Dann müsste sich die Regierung im Vorfeld der Formulierung eines Mandats nicht nur mit den Koalitionsfraktionen abstimmen, sondern auch die Opposition einbeziehen, was in der derzeitigen parlamentarischen Praxis kaum erfolgt. Und das Parlament sollte Verfahren für eine strategische Kontrolle der Einsätze entwickeln, z. B. ein umfassendes zivil-militärisches Mandat (vgl. von Krause 2010: 195f.).

Drittens sollten Regierung und Parlament aus dem Afghanistanbeispiel lernen, dass Zielsetzung und Charakter solcher Einsätze mit mehr Offenheit kommuniziert werden müssen, um Rückhalt bei der Bevölkerung zu gewinnen. Für das vermittelte Afghanistanbild trifft das seit 2010 in Ansätzen zu. Allerdings fehlt bei der jetzt erkennbaren Betonung einer künftigen Exit-Option eine überzeugende Begründung für die Weiterführung des Engagements bis dahin. Eine solche müsste aus Sicht des Autors die Bedeutung Afghanistans für die regionale Stabilität betonen, und dürfte nicht auf der verkürzten Argumentation beharren, Deutschlands Sicherheit werde gegen die Taliban in Afghanistan verteidigt. Denn diese sind schon seit Jahren aus dem Land in die Nachbarstaaten verdrängt worden sind.

Viertens ist die überfällige Aufgabe anzugehen, in einer breiten Debatte zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft deutsche Interessen zu definieren und Kriterien für künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr zu formulieren. Dazu sind derzeit noch keine Ansätze zu erkennen. Da sich die Politik seit Jahren vor dieser Aufgabe „drückt”, sollten Wissenschaft und Medien einen solchen Diskurs anstoßen, um die Politik zur Erfüllung ihrer „Hausaufgaben” zu bewegen. Mögen die vorstehenden Überlegungen einen Beitrag dazu leisten.

[1] Vgl. Bundestagsdrucksache 15/5996 vom 21.09.2005, S. 3.

[2] ZDF, Frontal Dokumentation „Sterben für Afghanistan” am 16.03.2010, eigene Transkription.

[3] Bundestagsplenarprotokoll 14/202 vom 16.1 „1.200“1, S. 19857.

[4] Gerhard Schröder schrieb dazu in seinen Memoiren: „Wir hatten gemeinsam mit den Bündnispartnern den Weg zu einem politischen Neuanfang des vom Bürgerkrieg zerstörten Afghanistan militärisch, aber auch politisch abzusichern. Für diesen politischen Neubeginn hatten wir mit der Einladung der UN-Konferenz über die Zukunft Afghanistans auf dem Petersberg bei Bonn selbst die Weichen gestellt. Wir waren dazu prädestiniert, weil die Afghanen gegenüber Deutschland ein besonderes Vertrauen zeigten”. (Schröder 2006: 181).

[5] Vgl. für eine umfassende Darstellung und Kritik dieses Vorhabens Hellinann/Roos 2007.

[6] Christian Hacke wertete die Unterzeichnung des Petersberg-Abkommens als „einen Höhepunkt außenpolitischen Ansehens der Regierung Schröder/Fischer” (Hacke 2005: 9).

[7] Vgl. für einen entsprechenden Beleg vgl. von Krause 2010: 153 f.

[8] ZDF, Frontal-Dokumentation „Sterben für Afghanistan” am 16.03.2010, eigene Transkription.

[9] Antrag der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 14/7930 vom 21.12.2001.

[10] Vgl. Antrag der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 14/7930 vom 21.12.2001, S. 3 f.

[11] Das erste Afghanistankonzept war auf den 0 1.09.2003 datiert (Bundesregierung 2003).

[12] ZDF-Sendung Maybrit Illner, „Nobelpreis für Obama. Lasst uns mit seinem Krieg in Frieden?” am 10.12.2009, eigene Transkription.

[13] Vgl. zum Zivilmachtkonzept Maul! 1990/1991.

[14] Bundestagsplenarprotokoll 15/17 vom 20.12.2002, S. 1314.

[15] Z. B. 07.06.2003 4 tote Soldaten in Kabul, 14.11.2005 1 Toter und am 10.05.2007 3 Tote, jeweils bei/in Kundus (Quelle: Hamburger Abendblatt vom 05.10.2010 „Chronologie: Bisher 36 tote Soldaten in Afghanistan“).

[16] ZDF-Sendung „Die Afghanistan-Lüge”, am 08.04.2010, eigene Transkription.

[17] Bundestagsplenarprotokoll 17/22 vom 10.02.2010, S. 1896 f.

[18] So sprach Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zunächst von „kriegsähnlichen Zuständen” (vgl. Bundestagsplenarprotokoll 17/09 vom 03.12.2009, S. 682), dann davon, dass man „umgangssprachlich von Krieg sprechen” könne (vgl. „Guttenberg spricht von Krieg in Afghanistan” in: Spiegel-Online v. 04.04.2010). Und wenige Tage später folgte ihm Bundeskanzlerin Merkel (vgl. „Nach Guttenberg spricht auch Merkel umgangssprachlich von Krieg` in: Focus Online v. 07.04.2010).

[19] Vgl. ARD – Deutschland TREND Mai 2010.

[20] Dass die Ablehnungsrate danach wieder anstieg, ist auf einen erheblichen Vertrauensverlust bei der Bevölkerung in die Informationspolitik der Bundesregierung zurückzuführen, weil danach Informationen über den Kundus -Vorfall nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit gelangten.

[21] Bundestagsplenarprotokoll 14/210 vom 22.12.2001, S. 20858.

[22] Belege dafür bei von Krause 2010: 184 f.

[23] Die Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr in 5.000 km Entfernung erscheint nicht weniger gewichtig als die zur Verteidigung des eigenen Landes bei einem Angriff, wo die Notwendigkeit zum Einsatz der Streitkräfte eigentlich auf der Hand liegt.

Literatur

ARD–DeutschlandTREND Mai 2010 http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/arddeutschlandtrend/2010/mai/ (Zugriff: 18.02.2011).

Bundesregierung 2003: Das Afghanistankonzept der Bundesregierung vom 01.09.2003. http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_datei/0„2635,00.pdf (Zugriff: 26.08.2009). Berlin 2003.

Bundesregierung 2010: Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung: Das deutsche Afghanistan-Engagement nach der Londoner Konferenz. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/AfghanistanZentralasien/AktuelleArtikel/100126-afghanistan-papier,navCtx=297244.html (Zugriff: 30.01.2010). Berlin 2010.

Hacke, Christian 2008: 60 Jahre Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: Schwarz, Hans-Peter 2008 (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. Köln u. a. 2008, S. 487-510.

Hellmann, Gunther/Roos, Ulrich 2007: Das deutsche Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Analyse eines Irrwegs und Skizzen eines Auswegs. INEF Report 92/2007. Duisburg 2007.

Maull, Hanns W. 1990/1991: Germany and Japan: The New Civilian Powers. In: Foreign Affairs, Jg. 69, H. 5, S. 91-105.

Müller, Harald 2002: Antinomien des demokratischen Friedens. In: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 43, H. 1, S. 46 -81.

Naumann, Klaus 2008: Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburg 2008.

Schröder, Gerhard 2006: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hamburg 2006.

von Krause, Ulf 2010: Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr. Politischer Entscheidungsprozess mit Eskalationsdynamik. Wiesbaden 2010.

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