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Der Berg kreißte und gebar eine Maus

Das neue strategische Konzept der NATO;

aus: vorgänge Nr. 193, Heft 1/2011, S. 45-52

Mit dem im November 2010 verabschiedeten strategische Konzept unternahm die NATO unter dem Motto „Active Engagement – Modern Defence” abermals den Versuch, sich neu aufzustellen und Antworten auf die Frage nach ihrer Rolle in der Welt, ihrer Bedrohungseinschätzung und ihrer Strategie der Sicherheitsgewährung zu geben. Im Vorfeld war das Papier mit viel Aplomb angekündigt worden. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen versprach nichts weniger als eine „roadmap for the next ten years” und einen „Aktionsplan, der in aller Klarheit die konkreten Schritte der NATO vorzeichnen” werde. Das Konzept sei nichts weniger als die Blaupause für die Version NATO 3.0.[1]

Verglichen mit den bombastischen Ankündigungen fiel das Ergebnis bescheiden aus. Das neue Strategische Konzept vermag nicht als Wegweiser zu fungieren. Statt eines konkreten Fahrplans zur Neuausrichtung der Allianz enthält das Dokument ein wenig von allem: eine Rückbesinnung auf die Kernfunktion der Territorialverteidigung und eine Bestätigung der globalen Ausrichtung; ein Bekenntnis zur Kooperation mit Russland und Vorsorge gegen die Risiken, die gemeinhin Russland zugeschrieben werden; ein Bekenntnis zur atomwaffenfreien Welt und zur nuklearen Abschreckung; als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung die Ankündigung einer Rationalisierung und Konsolidierung der Kommandostruktur und zugleich die Beanspruchung neuer Aufgaben, von denen die Raketenabwehr nur die prominenteste, die Cyber- und Energiesicherheit weitere sind. All dies ist Additiv, teils widersprüchlich und voraussichtlich nicht umsetzbar. Vor allem gibt das Konzept der NATO auf Kernfragen wie ihrem Verhältnis zu Russland und ihrem Beitrag zu einer globalen Friedensordnung ungenügende oder sogar falsche Antworten. Konkrete Aussagen zur Zukunft der nuklearen Strategie und Bewaffnung des Bündnisses wurden ganz vertagt.

Die Kernmis­sion: kollektive Vertei­di­gung

Das neue strategische Konzept rückt neben den Aufgaben des Krisenmanagements und der kooperativen Sicherheit die kollektive Verteidigung und damit den Artikel 5 des Washingtoner Vertrages wieder ins Zentrum. Die „größte Verantwortung” der Allianz sei es, „unsere Bevölkerungen vor einem Angriff zu schützen und zu verteidigen“.[2] Dieses Bekenntnis überrascht angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, denn auf Grund fehlender militärischer Bedrohungen des Bündnisgebiets verkümmerte die kollektive Verteidigung immer mehr zu einer Restfunktion. Stattdessen machte die NATO unter der Drohung „out of area or out of business” die Krisenintervention zu ihrer Sache — zunächst unter dem Vorzeichen des Menschenrechtsschutzes und nach 2001 auch der Terrorismusbekämpfung. Der Wandel von einem „statischen” Bündnis zur Verteidigung europäischen Territoriums zu einem „Expeditionsbündnis”, das Streitkräfte global zur Verteidigung der Freiheit einsetze, so der frühere amerikanische Präsident Bush auf dem NATO-Gipfel in Riga 2006, hat sich seitdem noch einmal dramatisch beschleunigt.[3] Waren zur Zeit des Riga-Gipfels ca. 50.000 NATO Truppen jenseits des traditionellen Perimeters im Einsatz, stieg diese Zahl bis zum nächsten Gipfeltreffen in Bukarest 2008 auf 60.000 und erreichte 2010 143.000. Parallel zu diesem Aufwuchs erodierte freilich die öffentliche Zustimmung und politische Bereitschaft zum globalen Krisenmanagement.

Das Bekenntnis zurück zur territorialen Verteidigung ist allerdings in erster Linie nicht dieser Ernüchterung zu verdanken, sondern der Kritik einiger der neuen Mitglieder, die NATO schütze ihre Sicherheit nicht angemessen gegen die Bedrohung eines in ihren Augen seit 2008 deutlicher zu Tage getretenen russischen Revisionismus. Insbesondere sei es ein Fehler gewesen, „nicht mit der eigentlichen Verteidigungsplanung im Sinne des Artikels 5 zu beginnen, nachdem die NATO erweitert worden war“.[4] Dagegen halten die USA unbeirrt an der globalen Orientierung fest und wollen die Zusagen der NATO – Russland Grundlagenakte von 1997 nicht in Frage stellen, keine Nuklearwaffen und keine substantiellen Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren.

Das strategische Konzept versucht nunmehr einen Spagat, indem es einerseits die kollektive Verteidigung in den Mittelpunkt rückt und andererseits deren Bedeutung entgrenzt. War der Begriff der kollektiven Verteidigung traditionell auf die territoriale Integrität und die Verteidigung der Bündnisgrenzen bezogen, kann nach Ansicht von Rasmussen Verteidigung nun vieles bedeuten und überall ihren Ausgang nehmen: „It can start in Kandahar. It can start in cyberspace. And NATO needs to be able to defend across the spectrum.”[5] In diesem Sinne listet das Konzept acht Bedrohungen auf, angefangen von der Verbreitung von Raketen über Cyberangriffe bis zur Energiesicherheit. Diese Entgrenzung erlaubt es, die konkreten Kapazitäten und Maßnahmen ebenfalls in einer übergreifenden Weise festzulegen. So fordert das strategische Konzept den weiteren Ausbau von mobilen und verlegbaren konventionellen Streitkräften, „to carry out both Article 5 responsibilities and the Alliance’s expeditionary operations” (Strategie Concept, 5). In der Substanz bleiben die Maßnahmen der NATO zur Rückversicherung ihrer neuen Mitglieder zwar unterhalb der erwähnten „roten Linie”, gehen aber weit über das Bisherige hinaus, etwa indem unter dem Codewort „Eagle Guardian” Anfang 2010 Notfallplanungen von Polen auf die baltischen Staaten ausgedehnt wurden oder die USA am 9. Dezember 2010 ankündigten, eine Einheit von Kampfflugzeugen in Polen zu stationieren. Angesichts der massiven militärischen Überlegenheit der NATO ist ein Widerspruch zwischen diesen Maßnahmen und der Versicherung des Generalsekretärs, das Bündnis betrachte Russland als Partner, kaum zu kaschieren.

Die wirkliche Mission: Krisen­ma­na­ge­ment

Neben dem Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung, beschloss die NATO ihre Rolle bei counter-insurgency Operationen und bei Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen zu erhöhen. Im neuen strategischen Konzept heißt es dazu, dass sich die NATO engagieren werde, „wo dies möglich und wenn dies erforderlich ist, um Krisen zu verhindern, Post-Konflikt-Situationen zu stabilisieren und den Wiederaufbau zu unterstützen”. Dass die NATO ihre globale Orientierung beibehalten will, stützt sich im Wesentlichen auf zwei Begründungen. Zum einen sei die Sicherheit der NATO-Mitglieder nunmehr auch durch Ereignisse fern ihrer Grenzen bedroht. Zum anderen geschieht dies im Namen der internationalen Stabilität und Sicherheit. Mit dem so angestrebten „Krisenmanagement für das 21. Jahrhundert” gehen zwei grundlegende Anforderungen einher. Zum einen bedürfe es robuster, mobiler, schnell einsetzbarer und durchhaltefähiger konventioneller Verbände, zum anderen der Konzertierung militärischer und ziviler Maßnahmen. Hierfür hat sich in der NATO der Begriff „comprehensive approach”, in der deutschen Fachterminologie der Begriff „vernetzte Sicherheit” eingebürgert. Sie verlangt im Idealfall von den militärischen und den zivilen Kräften — unter Einschluss auch von Nichtregierungsorganisationen —, dass sie ihre Einsätze gemeinsam planen, in komplementären Rollen ausführen und sich wechselseitig unterstützen, um so „die Kohärenz und Effektivität” zu stärken. Und sie folgt der Erkenntnis, dass jegliche Intervention entlang des Konfliktzyklus (Prävention, Vermittlung, Stabilisierung, Wiederaufbau) keinerlei Erfolg verspricht, wenn sie allein auf militärischen Schultern ruht.

Für die NATO ist die zivil-militärische Kooperation kein neues Feld, wie die zahllosen CIMIC-Handbücher und Einsatzregeln dokumentieren. Allerdings sind die Erfahrungen im besten Fall gemischt. Dies hat zum einen bündnisspezifische Gründe, da die NATO etwaigen Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit immer mit äußerster Zurückhaltung begegnet ist. Dass die Allianz an ihrer Führungsrolle unbeirrt festhält, dokumentieren nicht zuletzt die Ausführungen ihres Generalsekretärs. Er wird nicht müde, die NATO als „hub” der globalen Krisenbewältigung zu vermarkten, bei der das „Netz der Sicherheitspartnerschaften” zusammenläuft und die als „Zentrum der Konsultation über internationale Sicherheitsfragen” fungiert, wie er 2010 auf der Münchener Sicherheitskonferenz ausführte. Zum anderen hat es sich in der Praxis als außerordentlich schwierig erwiesen, militärische und zivile Ansätze der Krisenbearbeitung und der Friedenskonsolidierung auf einen Nenner zu bringen. Ohne sich mit den ambivalenten Erfahrungen in Afghanistan ungebührlich aufzuhalten, bekräftigte die NATO in Lissabon dennoch ihren „unverzichtbaren Beitrag” zum internationalen Krisenmanagement und beschloss, ihre Rolle dahingehend aufzuwerten, dass sie nunmehr auch eine „angemessene, aber moderate Einheit zum zivilen Krisenmanagement” einzurichten plant, „um effektiver die Verbindung mit den zivilen Partnern wahrnehmen zu können”.

Abgesehen davon, dass die Europäische Union weit geeigneter ist, um die zivile und die militärische Krisenbewältigung zu integrieren, läuft der „comprehensive approach” der NATO in der Praxis darauf hinaus, die zivilen Anstrengungen der militärischen Logik zu unterwerfen. Kein Wunder, dass die meisten zivilen Akteure, aber auch die Vereinten Nationen vor einer so verstandenen Kooperation mit der NATO zurückschrecken.

Die verpasste Mission: europäische Sicher­heits­part­ner­schaft

Während sich die NATO in der globalen Krisenbewältigung zu den neu usurpierten Rollen bekennt, verlegt sie sich in der europäischen Sicherheit auf allzu tradierte Muster. So beschränkt sie sich weiterhin auf den sehr begrenzten Rahmen einer „kooperativen Sicherheit” mit jenen europäischen Staaten, die dem Bündnis (bislang) nicht angehören. Und sie lässt auch nicht erkennen, wie sie den Widerspruch zu lösen trachtet, „ungeteilte Sicherheit” sowohl für „alle Staaten der Euro-Atlantischen Gemeinschaft” als auch exklusiv für die „NATO-Mitglieder auf beiden Seiten des Atlantik” garantieren zu wollen. Beide Bekenntnisse finden sich in den Lissaboner Verlautbarungen, doch nur eines funktioniert. Dass sich hier ein Widerspruch auftun könnte, findet sich im neuen strategischen Konzept ebenso wenig wie Überlegungen dazu, die beiden konkurrierenden Prinzipien in Einklang zu bringen — die europäische Sicherheit mit oder gegen Russland aufzubauen. Allenfalls auf lange Sicht und letztlich „durch die Integration aller europäischen Staaten, die dies wünschen, in die Euro Atlantischen Strukturen” — also in die NATO — solle ein „Europe whole and free” entstehen können. Das jedoch ist ein gradueller Prozess, und im unausgesprochenen Verständnis der Allianz stellt Russlands Aufnahme nicht den Beginn, sondern im günstigsten Fall den Endpunkt dieses Prozesses dar.

In der Zwischenzeit müssen sich beide Seiten mit dem Bekenntnis begnügen, dass ihre Sicherheit „verflochten” sei. Dieser Hinweis soll noch einmal — bekräftigend — die wechselseitigen Versicherungen unterstreichen, dass sich die beiden Seiten nicht länger bedrohen: „Dies allein trennt die Vergangenheit und die Zukunft der NATO-Russland-Beziehungen”. Allerdings wurde diese Trennlinie nicht erst in Lissabon gezogen, sondern gehört seit zwei Jahrzehnten zum Standardrepertoire der Ost-West-Rhetorik. An den realen Widersprüchen und Spannungen hat dies rein gar nichts geändert, und es sollte mittlerweile auch der NATO geläufig sein, dass qualitativ neue Beziehungen mit Russland mehr verlangen. Doch solange die Kehrseite der „verflochtenen Sicherheit” — das Sicherheitsdilemma — nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn bearbeitet wird, ist jenseits atmosphärischer Aufheiterungen eine nachhaltige Änderung nicht zu erwarten. Wenn etwa die Erweiterung der Allianz — wie in Lissabon — als „substantieller Beitrag für die Sicherheit der Alliierten” dargestellt wird, ist per definitionem die Wirkung für Russland genau umgekehrt.

Leider ist die NATO immer noch weit davon entfernt, substantielle Vorschläge oder gar Konzessionen an Russland zu unterbreiten. Vielmehr begnügt sie sich mit atmosphärischen Ouvertüren, die den „neuen Start” und die „grundlegend neue Phase in den Beziehungen zwischen der NATO und Russland” beschwören. Auch das ist ein vertrautes Muster, das schon bei den Kooperationsgipfeln 1997 und 2002 lediglich dazu taugte, vorübergehend das Klima — und die russische Seite — milde zu stimmen. Heute will die NATO darüber hinaus Russland für die „eigentlichen Bedrohungen” gewinnen — den Terrorismus, die Proliferation, die Piraterie und „zuallererst” Afghanistan. Dies folgt zwar der Logik des tertium datur — wenn Du Deine Differenzen nicht lösen kannst, verlege das Spielfeld —, hat aber immerhin den potentiellen Vorteil, in der Praxis so etwas wie eine Kooperationsroutine zu entwickeln.

Auf der Grundlage der gemeinsam seit 2009 erarbeiteten „Joint Review of 21 Century Common Security Challenges” sollen solche „praktischen Kooperationsprojekte” vor allem auch dazu beitragen, die einzige relevante Kooperationsplattform — den NATO-Russland-Rat — mit jener Substanz auszustatten, die er bislang vermissen ließ. Dass sich allerdings Russland damit zufrieden geben wird, allein die NATO-Agenda abzuarbeiten, steht kaum zu erwarten. Und die ziemlich umstandslose Zurückweisung des moderaten Vorschlags für einen Europäischen Sicherheitsvertrag lässt kaum erwarten, dass sich die NATO russischen Sicherheitsvorstellungen anzunähern geneigt ist. Gleiches gilt für die Gestalt des NATO-Russland-Rats als bloßem Konsultativorgan, der selbst bei gemeinsamen Aktionen weder bindende Beschlüsse fasst noch gar eine operative Bedeutung erlangen konnte.

Die neueste Mission: die Multi­la­te­ra­li­sie­rung der Rakete­n­ab­wehr#

Mit erstaunlich wenig Diskussionen einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine neue Dimension der gemeinsamen Verteidigung: die Abwehr ballistischer Raketen. Damit beansprucht die NATO eine aktive Rolle in einem umwälzenden Transformationsprozess, in dessen Zuge nicht nur die Kooperation mit Russland, sondern auch die nukleare Abschreckung mit ihrer seit 50 Jahren überragenden Bedeutung für die Sicherheitspolitik unter die Räder kommen könnte. Ob die NATO mit ihrer Entscheidung, die amerikanischen Raketenabwehrpläne in Europa als „nationalen Beitrag zur NATO-Architektur der Raketenabwehr” willkommen zu heißen, auch Mitspracherechte über die Ausgestaltung dieser Transformation erhält und ob Länder wie Deutschland destabilisierende Entwicklungen verhindern können, bleibt das große Fragezeichen.

In den USA ist die Raketenabwehr mittlerweile politisch nicht mehr umstritten; fraglich ist allenfalls noch die technologische Umsetzung. Die Entscheidung der Regierung Obama, die amerikanischen Raketenabwehrpläne neu auszurichten, stellt daher auch nur eine graduelle Kursänderung dar. Obama begründete die Abkehr von der einst unter Bush angestrebten dritten Stellung („Third Site“) des nationalen Abwehrsystems (die beiden anderen befinden sich in Kalifornien und Alaska) — bestehend aus einer Radaranlage in Tschechien und zehn in Polen zu stationierenden Abwehrraketen — mit einer veränderten Bedrohungslage. Die in früheren Geheimdienstberichten bereits für 2015 erwartete Entwicklung von iranischen Langstreckenraketen, die auch die USA bedrohen könnten, wurde dahingehend modifiziert, dass sich der Iran auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen konzentriere, die Europa bedrohten. Zu deren Abwehr sei ein dezentraler, in Phasen ausbaufähiger Ansatz („phased adaptive approach“) besser geeignet. Bereits in diesem Jahr sollen erste Exemplare der erprobten Standard Missile 3 -(SM-3) der Variante Block IA auf Schiffen der Aegis-Klasse im Mittelmeer stationiert werden. In weiteren Ausbaustufen würden ab 2015 eine Radaranlage in Südosteuropa, leistungsfähigere Raketen in Rumänien und ab 2018 erneut auch in Polen folgen. Diese Abfangraketen sollen ab 2020 durch eine neu entwickelte Variante (SM-3 Block IIB) ausgetauscht werden, die den Planungen zufolge wiederum über die Fähigkeit zur Abwehr von Interkontinentalraketen verfügen wird.

Dass Obamas Kurswechsel in Moskau dennoch auf verhaltenes Interesse und in vielen westeuropäischen Hauptstädten auf Zustimmung stieß, hängt mit der gleichzeitig verkündeten politischen Neuausrichtung zusammen. Der „phased adaptive approach” soll in Kooperation mit Russland und in multilateraler Zusammenarbeit innerhalb der NATO realisiert werden. Beide Angebote sind allerdings wesentlich nebulöser als die Planung der Abwehrarchitektur selbst. Wie Russland einbezogen werden könnte, ist über symbolische Akte der Kooperation hinaus vollkommen offen. Sicher ist einzig, dass die USA weder zum Technologietransfer bereit sind noch zum Aufbau eines integrativen Abwehrschirms, zu dem Russland zentrale Elemente beitragen könnte. Eine Beteiligung Moskaus an den Entscheidungsverfahren würde allein schon an den extrem zeitkritischen Abläufen scheitern. Darüber hinaus lehnt auch die Regierung Obama rüstungskontrollpolitische Beschränkungen der amerikanischen Handlungsfreiheit ab. Eine derart eingeschränkte Kooperation gilt aus russischer Sicht als unzureichend, und Moskau besteht auf einer substantiellen Mitwirkung als Bedingung für eine Beteiligung an dem amerikanischen bzw. NATO System. Es ist daher zu befürchten, dass die Raketenabwehr erneut zum Stolperstein der westlich-russischen Beziehungen wird. Zur Erinnerung: Auch die von Bush geplante Stationierung eines Radars und von zehn Abwehrraketen empfand Russland nicht per se als Bedrohung, sondern argwöhnte, dass dieses System schnell und unkontrollierbar aufwachsen könnte. Mit der gleichen Möglichkeit sieht sich Moskau in der vierten Ausbaustufe des „phased adaptive approach” konfrontiert.

Auch das Angebot der USA, den „phased adaptive approach” innerhalb der NATO aufzubauen, bleibt bezüglich seiner Reichweite – etwa mit Blick auf die gemeinsame Entscheidung über die kritischen dritten und vierten Ausbaustufen – höchst vage. Zum einen haben die USA durch bilaterale Verträge mit den Stationierungsländern sichergestellt, das ihr Programm auch außerhalb der NATO realisiert werden kann: Zum“ anderen fallen die Beiträge der europäischen Verbündeten zu dem nominell gemeinsamen System höchst bescheiden aus. Um einen Rahmen zu finden, unter dem der „phased adaptive approach” in die Allianz eingebettet werden kann, zauberte der Generalsekretär im Oktober 2010 überraschend den Vorschlag aus dem Hut, eine NATO-weite Kontroll- und Kommandostruktur zu schaffen, in die nationale Raketenabwehrvorhaben integriert werden können. Deren Kosten bezifferte Rasmussen auf bescheidene 200 Millionen Euro — verteilt über 10 Jahre.[6] Darüber hinaus hätte Europa aber nur wenig zu bieten.

Dieses Ungleichgewicht wirft schließlich eine weitere Frage auf. Bushs Stationierungspläne in Europa sollten erklärtermaßen das amerikanische Territorium gegen iranische Interkontinentalraketen schützen. Obamas System dagegen dient zunächst ausschließlich dem Schutz der Europäer gegen die wahrscheinlichere Bedrohung durch iranische Mittelstreckenraketen. Dass der amerikanische Steuerzahler Bushs Pläne finanziert hätte, erscheint nachvollziehbar; dass der amerikanische Kongress seine Zustimmung zur Finanzierung eines Abwehrsystems gibt, das ausschließlich die Europäer schützt und zu dem die EU-Staaten lediglich symbolisch beitragen, ist kaum zu erwarten.

Empfehlungen

Ziel des neuen Strategischen Konzepts war es, die NATO zukunfts- und friedenstauglich zu machen. Das Ergebnis ist bescheiden und eine weitere verpasste Gelegenheit. Es verharrt in Vergangenheit und Gegenwart und ist mit seiner Unentschiedenheit zwischen einer sehr traditionell verstandenen kollektiven Verteidigung und einer unzureichend ausgestalteten internationalen Stabilisierungsrolle weit davon entfernt, die notwendige Orientierung zu bieten.

Das Bekenntnis zum internationalen Krisenmanagement reflektiert immerhin, dass europäische Sicherheit auch künftig vor allem von Kriegen und Bürgerkriegen, Staatsversagen und rechtsfreien Räumen außerhalb Europas betroffen sein wird. Zwar bekennt sich die NATO dazu, dass militärische Mittel in derartigen Szenarien nur eine begleitende, die zivile Krisenprävention und den Wiederaufbau unterstützende Rolle spielen können. Dies schlägt sich im Konzept der „vernetzten Sicherheit” nieder. Allerdings wird dieser Ansatz nur dann eine Chance haben, wenn die NATO ihn nicht länger in einer hegemonialen Variante präsentiert, bei der die Allianz im Zentrum steht und den zivilen Akteure sowie der VN einen Platz an ihrer Peripherie zuweist. In dieser Form muss er scheitern, weil er die ohnedies prekäre politische Unterstützung für ein solches Engagement überfordert und weil er die Bereitschaft anderer Organisationen zur Unterordnung überschätzt. Die „vernetzte Sicherheit” wird nur dann funktionieren können, wenn die NATO eine begleitende Rolle einnimmt und die Führung anderen, und hier insbesondere den Vereinten Nationen überlässt — von dem inhärenten Spannungsverhältnis zwischen der Logik ziviler und militärischer Friedenssicherungsmaßnahmen ganz zu schweigen.

Der Rückzug auf die frühere Kernaufgabe der territorialen Verteidigung ist dagegen angesichts der realen Bedrohungslage und der militärischen Kräfteverhältnisse ebenso überflüssig wie kontraproduktiv. Russland ist und bleibt zwar aus vielerlei Gründen ein schwieriger Partner, aber eben auch ein wichtiger; und das alte Versprechen „Europe, whole and free” bleibt die genuine Gestaltungsaufgabe, der sich auch die NATO unterzuordnen hat. Daher gilt es trotz der ordnungspolitischen Differenzen mit Russland Sicherheit als gemeinsames Projekt zu organisieren sowie die Dynamik des Sicherheitsdilemmas ernst zu nehmen und konstruktiv zu bearbeiten.[7] Das ist im Übrigen der einzig Erfolg versprechende Ansatz einer Einflussnahme auf die politische Entwicklung in Russland selbst. Ausgrenzung und Abgrenzung helfen hier nicht; die Einladung zur Mitwirkung ist wichtiger als die Risikovorsorge.

Bereits heute ist absehbar, dass die Raketenabwehr ein weiteres Mal zum Stolperstein der westlich-russischen Beziehungen werden wird. Entgegen der hochfliegenden und teilweise naiven Erwartungen, die Raketenabwehr ließe sich kooperativ organisieren und zum Kern der Zusammenarbeit mit Russland machen, beurteilen wir die Kooperationsmöglichkeiten skeptisch. Die Chancen der Einbeziehung Russlands, die sich bieten, sollte die NATO aber nutzen. Erstens sollten die Gespräche im NATO-Russland-Rat über Stand und Gefahren der Proliferation nicht unverbindlich bleiben, sondern zu praktischen Ergebnissen führen. Konkret sollte die NATO zusagen, die Entscheidung über die dritte und vierte Ausbaustufe des „phased adaptive approach” von der gemeinsam festgestellten Bedrohungslage abhängig zu machen. Zweitens sollte Moskau an der Festlegung der Bedingungen, die zur Startfreigabe von Abwehrraketen vorliegen müssen („pre-delegation“), beteiligt werden. Dennoch bleibt die Raketenabwehr ein Feld der Beziehungen, das auf Dauer mehr Vertrauen konsumieren als produzieren wird.

[1] Anders Fogh Rasmussen: The New Strategie Concept: Active Engagement: Modern Defence, Speech at the German Marshall Fund of the US, 8. Oktober 2010, www.nato.int/cps/en/natolive/opinions_66727.htm.

[2] Active Engagement, Modern Defence. Strategie Concept For the Defence and Security of The Members of the North Atlantic Treaty Organization, S. 4 (im Folgenden zitiert im Text als Strategie Concept).

[3] Address by the President of the United States, George W. Bush, at the Riga Summit, abrufbar unter: www.rigasurnmit.lv/enlidlnewsinlnid!258/.

[4] Valdas Adamkus et.al., An Open Letter to the Obama Administration from Central and Eastern Europe, Radio Free Europe, 16.7.2009.

[5] Vgl. Rasmussen, The New Strategie Concept (Fn. 1), S. 2.

[6] Anders Fogh Rasmussen, NATO needs a Missile Defense, NYT, 21.102010.

[7] Vgl. Hierzu auch die konkreten Vorschläge für eine Vertiefung der Kooperation mit Russland: Matthias DembinskiBarbara Schumacher/Hans-JoachimSpanger, Reset Revisited – Zur Programmierung europäischer Sicherheit, Frankfurt: HSFK-Report 6/2010.

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