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Mexikos aussichts­loser Drogenkrieg

aus: Vorgänge 193 ( Heft 1/2011), S.138-147

Vier Jahre, nachdem Präsident Calderön den mexikanischen Drogenhandelsorganisationen den „Krieg” erklärt und ein massives Militäraufgebot gegen diverse Hochburgen des organisierten Verbrechens in Marsch gesetzt hat, deutet nichts darauf hin, dass die Regierung diesen Konflikt für sich entscheiden könnte. Die zunehmende Brutalisierung der Auseinandersetzungen geht mit einem rasant steigenden Blutzoll einher. Statt die Gewaltwelle wie beabsichtigt zu brechen, hat die staatliche Gegenstrategie wesentlich zu deren Eskalation und mithin zur Verschlechterung der öffentlichen Sicherheitslage beigetragen.

Dass mexikanische Drogenschmugglerbanden binnen zweier Dekaden zu den mächtigsten Inkarnationen des organisierten Verbrechens in der westlichen Hemisphäre auf steigen konnten, liegt in erster Linie am zentralen Standortvorteil der geographischen Nähe zu den USA als dem weltweit lukrativsten Absatzmarkt für illegale Suchtstoffe. Bevor die berühmt-berüchtigten kolumbianischen Drogenkartelle von Medellin und Cali bei der Suche nach einer Alternative für die traditionellen Schmuggelrouten durch die Karibik, wo die US-Sicherheitskräfte ihre Überwachungsaktivitäten rasch intensivierten, die mexikanische Grenze zu den USA ins Visier nahmen, existierten in Mexiko noch keine großen Drogenhandelsorganisationen. Die Kooperation der kolumbianischen Kokainproduzenten mit den ortskundigen mexikanischen Schmugglern eliminierte das Geschäftsrisiko ersterer an der gefährlichsten Stelle der Lieferroute in die USA und er-höhte die Einnahmen letzterer in dem Maße, wie die Bedeutung der mexikanischen Transitfunktion für den Kokainhandel anstieg. Die allmähliche Übernahme der Schlüsselrolle bei der Belieferung des US-Drogenmarkts wurde durch die Zerschlagung der großen kolumbianischen Kartelle in den Jahren 1993—95 begünstigt. Etwa zeitgleich profitierte der Schmuggel von Kokain und anderen Suchtstoffen (Marihuana, Heroin) vom Inkrafttreten des NAFTA-Vertrags, der einen rasanten Anstieg des bilateralen Handelsaustauschs bewirkte. An vielen US-amerikanischen ports of entry entlang der Grenze zu Mexiko ist das tägliche Aufkommen an nordwärts strebenden Fahrzeugen,Warenladungen und Fußgängern so groß, dass sich die Kontrollen auf Stichproben beschränken (müssen).

Die einzigartige Position der mexikanischen Schmugglerbanden im amerikanischen Drogenhandelsgeflecht ergibt sich aus der Tatsache, dass sie an eben jener Schnittstelle in der langen Distributionskette zwischen Produzenten und Endverbrauchern platziert sind, an der die höchste (absolute) Wertsteigerung der illegalen Ware erfolgt – beträgt doch die Differenz zwischen dem in Kolumbien und in den USA gezahlten Großhandelspreis für ein Kilogramm Kokain mindestens 15 -20.000 US$. Das einträgliche Geschäft führte zur Entstehung mehrerer großer krimineller Organisationen, die jeweils bestimmte Regionen entlang der 3.200 km langen Grenze zu den USA kontrollieren. Auch wenn es bereits zuvor immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den verschiedenen Banden kam, ist seit etwa 2003 ein veritabler Konkurrenzkampf im Gange, der mit zunehmender Härte ausgetragen wird. Die an der rasch wachsenden Zahl von getöteten Kartellmitgliedern ablesbare Intensivierung des Konflikts geht auf ein Bündel von Faktoren zurück. So wurde die Ausschaltung der Anführer des Tijuana- und des Golf-Kartells durch die staatlichen Sicherheitskräfte vom mächtigen Sinaloa-Kartell als Schwächung der Rivalen perzipiert, die eine gute Chance zur Übernahme der von diesen kontrollierten Territorien und Grenzübergänge zu offerieren schien. Angesichts der Intensivierung der Grenzüberwachung auf US-Seite ist eine Ausdehnung des eigenen Einflussbereichs gleichbedeutend mit einer Vermehrung der Schmuggeloptionen. Zweitens resultierten aus dem Erreichen einer gewissen Obergrenze beim mexikanischen Lieferanteil am US-amerikanischen Kokainangebot Konflikt verschärfende Effekte: Solange dieser Anteil im Steigen begriffen war, hatten alle Kartelle die Chance, an den damit verbundenen Mehreinnahmen zu partizipieren. Da der seit etwa 2005 um die 90 Prozent oszillierende Beitrag zur Deckung der US-Nachfrage quasi nicht weiter ausbaufähig ist, lassen sich größere Einnahmesteigerungen im grenzüberschreitenden Schmuggel nur noch zu Lasten der Marktanteile der anderen Kartelle realisieren, zumal sich gleichzeitig in den USA eine Stagnation des Kokainverbrauchs bemerkbar machte. Drittens führte der stetig wachsende Drogenkonsum in Mexiko selbst zu einem verstärkten Engagement der Kartelle in diesem lange Zeit eher vernachlässigten Marktsegment. Die nach der Ausschaltung der kleinen lokalen Dealerbanden durch eines der Kartelle etablierte neue Ordnung hält oft nicht lange an, weil die Konkurrenz auf den Plan tritt. Insbesondere auf den Drogenmärkten einiger großer Städte kommt es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den örtlichen Repräsentanten der großen Händlerringe. Zudem verbietet es der Machterhaltungstrieb der Kartelle, in Gebieten, denen in der Distributionslogistik ihres Transitgeschäfts eine wichtige Funktion zukommt, die Beherrschung des lokalen Drogenmarkts durch eine der Konkurrenzorganisationen zu dulden.

Calderöns Feldzug gegen die Kartelle

Felipe Calderön übernahm am 1. Dezember 2006 das höchste Staatsamt vor dem Hintergrund einer raschen Zunahme der durch das illegale Geschäft mit Suchtstoffen geschürten Gewaltkriminalität: in jenem Jahr forderten die blutige Fehde zwischen rivalisierenden Drogenbanden und die staatlichen Maßnahmen zu deren Bekämpfung über 2.000 Menschenleben. Nach seinem umstrittenen hauchdünnen Wahlsieg sah Calderön im prekären Zustand der inneren Sicherheit eine Chance, durch ein konsequentes Vor-gehen gegen die immer dreister agierenden Drogenkartelle Führungsstärke zu demonstrieren, um auf diesem Wege seine politische Position und Legitimation zu stärken. Nachdem bereits Calderöns Vorgänger Vicente Fox zeitweise große Militäreinheiten in einigen Brennpunkten des Bandenkrieges eingesetzt hatte, rückten unter der neuen Regierung die Streitkräfte unverkennbar ins Zentrum des staatlichen Abwehrdispositivs gegen die Kartelle. Die Serie von drogenpolitischen Militäreinsätzen begann Mitte Dezember 2006 mit einer Operation im Gliedstaat Michoacän, an der rd. 6.000 Soldaten beteiligt waren. Bis August 2008 erfolgten ähnliche Missionen in 16 der 31 mexikanischen Bundesstaaten, wobei die Militärkontingente regelmäßig von größeren Abordnungen der Bundespolizei begleitet werden. Seither befinden sich bis zu 45.000 Soldaten — ein knappes Viertel der Streitkräfte — an wechselnden Schauplätzen im Dauereinsatz gegen die Drogenkartelle und deren waffentechnisch gut ausgerüsteten Schutztrupps.

Auch wenn die Einbindung von Soldaten in die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Handels mit illegalen Suchtstoffen in Mexiko eine lange Tradition besitzt, konzentrierte sich dieses Engagement bis in die 1980er Jahre auf die manuelle Zerstörung von Schlafmohn- und Marihuana-Feldern in einigen Regionen des Landes. Als Präsident Salinas (1988—1994) den Drogenhandel zu einem Problem der nationalen Sicherheit erklärte, war der entscheidende Schritt getan, der dem Militär eine größere Rolle bei der Konfrontation mit dem organisierten Verbrechen zuwies. Was primär als Geste symbolischer Politik an die Adresse Washingtons intendiert war, das dem Nachbarstaat seit geraumer Zeit mangelnde Anstrengungen auf diesem Politikfeld vorwarf, bildete den Ausgangspunkt für eine zunehmende Militarisierung der mexikanischen Drogenpolitik. Unter Präsident Zedillo (1994—2000) wurden erstmals in größerem Umfang hohe Militäroffiziere auf diverse Führungspositionen im staatlichen Sicherheitsapparat (inkl. Justiz) berufen. Vicente Fox, der erste Staatschef aus den Reihen des konservativen Partido Acciön Nacional, welcher die 70 Jahre währende Vorherrschaft des Partido Revolucionario Institucional im Jahre 2000 beendete, hatte im Wahlkampf einen Rückzug des Militärs aus der Drogenpolitik angekündigt, tat, einmal im Amt, aber genau das Gegenteil. Dazu trug freilich auch das rasche Erstarken der Kampftrupps der Drogenkartelle bei. Während seiner Präsidentschaft (2000—2006) befanden sich im jährlichen Durchschnitt mehr als 15.000 Soldaten im Einsatz gegen das organisierte Verbrechen. Ihren Höhepunkt erlebt die Militarisierung der Drogenpolitik unter der Regierung von Felipe Calderön. Noch stärker als seine Vorgänger betraute er Militäroffiziere auf allen drei Ebenen der staatlichen Verwaltung mit leitenden Funktionen im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Im Jahre 2008 nahmen nicht weniger als 8.000 Offiziere solche Aufgaben wahr, die meisten davon in Polizeibehörden. Während die früheren drogenpolitischen Einsätze fast ausschließlich in ländlichen Regionen stattfanden, konzentriert sich die Militärpräsenz heute auf die (Groß-)Städte.

Calderöns martialische Machtdemonstration gegenüber dem organisierten Verbrechen löste in der Öffentlichkeit die erhoffte Reaktion aus: die durch die grassierend Gewaltkriminalität zunehmend besorgte Bevölkerung unterstützte die Militarisierun~ der Drogenbekämpfung und die Popularitätswerte des Präsidenten verzeichneten seil Anfang 2007 einen beeindruckenden Aufwärtstrend. Die unvermindert rasche ZunahmE der Opferzahlen des war on drugs — 2007 wurden 2.600 Todesfälle registriert — inter
pretierte Calderön als zwangsläufige Folge eines verzweifelten Aufbäumens des organisierten Verbrechens gegen seine drohende Eliminierung. Das durchaus plausibel klingende Argument büßte indes in dem Maße seine Überzeugungskraft ein, wie diE erwartete Trendwende in der Entwicklung der drogenbedingten Gewaltkriminalität au: sich warten ließ. Zudem häuften sich Klagen über gravierende Menschenrechtsverletzungen der gegen die Kartelle aufgebotenen Truppen, von denen hauptsächlich unbeteiligte Zivilisten betroffen waren. Als im Verlauf des Jahres 2008 die Zahl der Todesopfer des Drogenkriegs auf 5.400 hochschnellte, mochten immer weniger Mexikaner an den Erfolg der von Calderön praktizierten Gegenstrategie glauben.

Der Präsident und seine für den Bereich der inneren Sicherheit zuständigen Spitzen. beamten wurden indes nicht müde, der Öffentlichkeit immer wieder Indizien für der angeblichen Erfolg der Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen zu präsentieren ohne allerdings die Stimmung in der Bevölkerung in ihrem Sinne beeinflussen zu kön nen. Die mehrfach verkündeten neuen Rekordwerte bei der Größenordnung der zerstör ten Anbauflächen von Drogenpflanzen (Schlafmohn, Marihuana) und insbesondere be der Zahl der Verhaftungen in der Drogenhandelsszene und der Menge der beschlag. nahmten Suchtstoffe stießen diesseits und jenseits der gemeinsamen Grenze mit der USA auf höchst unterschiedliche Resonanz: Während Mitglieder der US-Regierung die; als Beleg für eine erfolgreiche Verbrechensbekämpfung interpretierten und dem Kun Calderöns höchstes Lob zollten, hinterließen solche Meldungen in der mexikanischer Gesellschaft angesichts einer sich unvermindert weiter verschlechternden Sicherheitslage wenig Eindruck. Außerhalb der Brennpunkte des blutigen Konkurrenzkampfes zwischen den Drogenbanden galt die primäre Sorge der Bevölkerung dem schnellen An stieg gemeiner Straftaten (Autodiebstahl, Raub-und Banküberfälle, Entführungen u. a.) worin der Präsident allerdings ein indirektes Indiz für die Tauglichkeit seiner Anti Kartell-Strategie erkennen wollte: weil der wachsende staatliche Druck das Kerngeschäft der Drogenhandelsorganisationen beeinträchtige, sähen diese sich gezwungen auf andere Deliktfelder auszuweichen, um ihre kriminelle Existenz zu sichern. Auch  wenn sich kaum bestreiten lässt, dass die Kartelle in den letzten Jahren ihre krimineller Aktivitäten diversifiziert haben, muss dies wohl eher als Zeichen ihrer Stärke und de daraus resultierenden Fähigkeit gedeutet werden, in bestimmten Territorien die Kontrolle über sämtliche lukrative illegale Einnahmequellen zu übernehmen.

Das glücklose Agieren auf dem Terrain der inneren Sicherheit war der Hauptgrund für das schlechte Abschneiden der Partei des Präsidenten bei den Teilwahlen zum Kon gress im Juli 2009. Die von einigen Beobachtern gehegte Vermutung, Calderön würden in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit deutliche Korrekturen an der Strategie gegen diE Kartelle vornehmen, hat sich nicht bewahrheitet. Der von ihm zur Mitte des Jahres 201( begonnene Dialog über die Sicherheitspolitik mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen war in erster Linie eine medienwirksam in Szene gesetzte PR-Veranstaltung, die Bereitschaft zur Diskussion drogenpolitischer Alternativen suggerierte, realiter aber als Forum zur Rechtfertigung der offiziellen Regierungspolitik dienen sollte. Dieser Aktion gelang es ebensowenig wie der Serie regierungsamtlicher Fernsehspots, in denen die angeblichen Erfolge bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens triumphalistisch herausgestellt werden, der weit verbreiteten Skepsis in der Bevölkerung entgegenzuwirken.

Tatsache ist, dass es der Regierung bislang weder gelungen ist, die Gewaltwelle zu brechen, noch die Handlungsfähigkeit und den territorialen Einfluss- bereich der Drogenkartelle zu vermindern. Die verschiedenen drogenpolitischen Militäroperationen haben vielmehr wesentlich dazu beigetragen, dass die Kartelle ihren Aktionsradius auf größere geographische Räume ausgedehnt haben. Im Jahre 2009 wurde nur in einem einzigen Gliedstaat der Union kein mit dem Drogengeschäft in Zusammenhang stehender Todesfall verzeichnet. Zudem haben mexikanische Kartelle in den letzten Jahren ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten sukzessive erweitert: Während die Präsenz in mehreren zentralamerikanischen Ländern verstärkt wurde, verdichten sich die Hinweise auf ein wachsendes Engagement in Kolumbien, Peru und Bolivien, die sich das Produktionsmonopol für Kokain teilen. In den USA kontrollieren lokale mexikanische Banden seit einigen Jahren quasi flächendeckend den Großhandel für illegale Suchtstoffe, wobei die einzelnen gangs jeweils exklusive Kontakte zu einem der Kartelle jenseits der Südwest-Grenze unterhalten. Für die US-Regierung ist dies ein bedrückendes Indiz für die kriminelle Energie und Reichweite der mexikanischen Schmugglerbanden.

Die Hauptsorge Washington gilt indes der prekären Sicherheitslage in Mexiko selbst. Die Unfähigkeit der Regierung Calderön, dem Treiben der Drogenkartelle Ein-halt zu gebieten und die unaufhörlich in neue Dimensionen vorstoßenden Gewaltexzesse haben unter US-amerikanischen Politikern und Wissenschaftlern eine Debatte darüber entfacht, ob das Nachbarland bereits ernsthafte Symptome eines failing state aufweise. Der bodycount für das Jahr 2009 verzeichnet erneut einen gewaltigen Anstieg gegenüber dem Vorjahr, ohne dass wirklich verlässliche Zahlen vorliegen: Die Angaben der drei mexikanischen Qualitätszeitungen, die das blutige Geschehen im Umfeld des Drogengeschäfts regelmäßig dokumentieren, bewegen sich zwischen 6.576 und 8.281 Todesfällen. Ganz gleich, welche Zahl der schrecklichen Wahrheit am nächsten kommt, deutet das sporadische Auffinden von Massengräbern darauf hin, dass etliche Opfer des Drogenkriegs noch gar nicht entdeckt wurden. Im Jahre 2010 hielt der Trend zu einer sich immer schneller drehenden Gewaltspirale im Drogenhandelsmilieu unvermindert an. Die Tageszeitung Reforma, die für ihre eher konservative Zählmethode bekannt ist, registrierte bis zum Jahreswechsel mehr als 11.000 Todesfälle. Derselben Quelle zufolge sind bis dahin seit Beginn der Amtszeit Calderöns insgesamt ca. 27.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Drogengeschäft und den entsprechenden Gegenmaßnahmen zu Tode gekommen. Der größte Teil der Mord- und Todesfälle konzentriert sich auf einige wenige Städte und Regionen. Dass der Gliedstaat Chihuahua im Jahre 2009 die makabre Statistik mit einem Drittel der landesweit registrierten Toten des Drogenkriegs anführt, liegt maßgeblich an der Situation in der Grenzstadt Ciudad Juärez, wo man in dieser Zeit mehr Todesfälle (2.736) registrierte als 2007 im gesamten Land.

Weitere Brennpunkte der durch den Drogenhandel genährten Gewalt sind die Gliedstaaten Sinaloa, Guerrero, Durango, Michoacän und Tamaulipas, wobei die sich häufig bin. nen Jahresfrist rasch ändernden Relationen und absoluten Zahlen in der regional aufgefächerten Opferstatistik nicht nur ein Indiz dafür bilden, dass sich die Fronten zwischer den verfeindeten Kartellen in ständiger Bewegung befinden, sondern z. T. auch Rück schlüsse auf Kräfteverschiebungen innerhalb des Oligopols der großen Drogenhandels organisationen zulassen.

Die USA haben in den vergangenen Jahren nicht nur die Grenze zu Mexiko zuneh mend abgeschottet und gesichert sowie die Kontrollen an den Grenzübergängen ver stärkt, sondern seit Unterzeichnung der MeYida-Initiative im Jahre 2007 auch die si cherheitspolitische Kooperation mit Mexiko sukzessive ausgeweitet. Während de: größte Teil der Mittel aus dem Merida-Programm aus diversen Gründen noch der Frei. gabe harrt, absolviert eine schnell wachsende Zahl von mexikanische Polizisten und Mi litärangehörigen Spezialkurse in den USA, wobei diese Maßnahme aus Rücksichtnahme auf das höchst sensible Souveränitätsverständnis im Nachbarland eher unauffällig von statten geht. Im November 2010 wurde bekannt, dass in Mexiko-Stadt seit einem Jah: ein so genanntes Office of Bi-National Intelligence (OBI) existiert, in dem Angehörige sämtlicher mit Sicherheitsfragen betrauter US-amerikanischer Ministerien und Behör den vertreten sind. Das Potenzial der Aktivitäten dieser Einrichtung wird nur parliel durch die Bestimmungen der Merida-Initiative abgedeckt. Allerdings diente die beab sichtigte Geheimhaltung neben dem politischen Schutz von Präsident Calderön, der das OBI informell genehmigt hat, auch der Abwehr möglicher Infiltrationsversuche vor Seiten der Kartelle.

US-Außenministerin Clinton hat die gewalttätigen Geschehnisse in Mexiko seit Sep tember 2010 mehrfach als „Aufstand” (insurgency) bezeichnet. Richtig daran ist, das: die Vorgehensweise der Kampftrupps der Kartelle guerilla-ähnliche Taktiken und terroristische Aktionen einschließt. Die mexikanischen Kartelle verfolgen aber primär kom merzielle und keine politisch-ideologischen Ziele, sie stellen die staatliche Autorität nu insoweit in Frage, wie sie ihren kriminellen Geschäftsinteressen zuwiderhandelt und streben keine grundsätzlich andere staatliche Ordnung an. Nun zeigt aber gerade de mexikanische Fall, dass eine im Grunde nicht politisch motivierte Herausforderung de: Staatsmacht gravierende politische Implikationen und Konsequenzen haben kann. Das Monopol legitimer Gewaltanwendung wird dem Staat von den Kartellen bzw. derer Kämpfertrupps streitig gemacht, die insgesamt mehrere Tausend Mann umfassen und z T. in paramilitärischen Formationen agieren. Gleichzeitig wächst die Zahl der Munizi pien, in denen die Kartelle mittels Korrumpierung und Einschüchterung sich einen mehr oder weniger großen Teil der Bediensteten der örtlichen Behörden gefügig gemach haben. Während sich der Erfolg politisch motivierter Rebellionen in der Ausdehnunl staatsfreier Räume manifestiert — die lokalen politischen Amtsträger werden ausgeschal tet oder vertrieben, die subversiven Kräfte übernehmen deren Rolle und sorgen für die  Aufrechterhaltung der neuen politischen Ordnung — zeigen sich in Mexiko die Anzeichen eines failing state auf andere Weise — in der Neutralisierung klassischer politisch administrativer Funktionen durch die Unterwanderung bestehender öffentlicher Einrich tungen auf Gemeindeebene und deren Instrumentalisierung für die kriminellen Zweck  der Drogenbanden. Formal ist die staatliche Autorität präsent, steht aber zumindest partiell im Dienst der kommerziellen Interessen bzw. der territorialen Kontrollansprüche des organisierten Verbrechens. Ende August 2010 stellte ein Ausschuss des mexikanischen Parlaments die Ergebnisse eines Untersuchungsberichts vor, denen gemäß sich rd. 70 Prozent der insgesamt 2.439 Munizipien des Landes unter dem Einfluss des einen oder anderen Drogenkartells befinden; 195 Gemeinden (8 Prozent) würden vollkommen von den „Narcos” kontrolliert. In einigen Regionen ist es mittlerweile üblich, dass Regionalzeitungen Kommuniques von Drogenbanden unzensiert veröffentlichen. Auf Fahndungserfolge der Sicherheitskräfte reagieren die Kartelle häufig mit grausamen Racheakten, die z. T. auch unbeteiligte Zivilisten einschließen. Für die Ruchlosigkeit der Verbrecher sprechen u. a. mehrere Massaker an Insassen von Rehabilitationseinrichtungen für Drogenabhängige.

Die mexika­ni­sche Antidro­gen­po­li­tik: ineffizient und kontra­pro­duktiv

Die trostlosen Fakten machen unmissverständlich klar, dass Präsident Calderön den Selbstbehauptungswillen und mithin die kriminelle Energie und Skrupellosigkeit der Drogenkartelle sträflich unterschätzt und spiegelbildlich dazu das Potenzial und die Effektivität der ihm zur Verfügung stehenden Instrumente und Methoden enorm überschätzt hat. Dass die staatlichen Maßnahmen keineswegs wirkungslos blieben, sondern zu Kräfteverschiebungen und diversen Anpassungsmanövern im Kartellmilieu geführt haben, lässt sich kaum als Aktivposten verbuchen, weil das Ausmaß der Herausforderung und Unterminierung der staatlichen Autorität durch das organisierte Verbrechen in vier Jahren „Drogenkrieg” zweifellos eher zu- denn abgenommen hat.

Es sind insbesondere die folgenden sechs Faktoren und Aspekte, welche den Misserfolg der von der Regierung verfolgten Strategie gegen das organisierte Verbrechen zu erklären vermögen:

  • Dreh- und Angelpunkt der gescheiterten Regierungsoffensive ist das Problem der impu nidad (Straflosigkeit): Aufgrund der Ineffizienz von Justiz und Polizei wird nur ein Bruchteil der Tötungsdelikte aufgeklärt, das Verhältnis von Mord-fällen zu verurteilten Tätern bewegt sich im Promillebereich. Das Risiko der Killer, von einem gegnerischen Kartell getötet zu werden, ist ungleich größer als die Gefahr einer strafrechtlichen Ahndung ihrer Mordtaten. Die von Präsident Calderön auf den Weg gebrachten Reformen des Justizsystems haben bis-lang allenfalls marginale Verbesserungen erbracht
  • Das kaum zu unterschätzende Ausmaß der Korrumpierung von Polizei, Justiz und anderen staatlichen Institutionen durch die Drogenkartelle: Die gigantischen Einnahmen aus dem Drogenschmuggel haben der in der mexikanischen Gesellschaft systemisch präsenten Korruption eine neue Dimension verliehen. Mehrfach wurden höchste Funktionsträger von Sicherheitsbehörden als Informanten des einen oder anderen Kartells enttarnt. Eine endlose Serie von Säuberungsaktionen auf allen Ebenen der dezentralen Polizeiorganisation hat das
    Übel nicht ausmerzen können. Die Verweigerung einer Kollaboration ist angesichts der erwiesenen Skrupellosigkeit der Drogenbanden wesentlich riskanter als früher. In jüngster Zeit häufen sich die Indizien, dass die mexikanischen Drogenschmuggler in wachsendem Maße auch Sicherheitspersonal auf der US-amerikanischen Seite der Grenze bestechen.
  • Die quasi unangetastete Finanzarchitektur der Kartelle: Solange die Geldwäschepraktiken und klandestinen Finanzierungsnetzwerke der Drogenbanden einigermaßen reibungslos funktionieren, können deren Macht und Einfluss kaum spürbar vermindert werden. Auch wenn auf diesem schwierigen Terrain weltweit keine Patentrezepte verfügbar sind, haben die politisch Verantwortlichen in Mexiko dieser wichtigen Komponente der kriminellen Infrastruktur der Kartelle allzu lange viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst im August 2010 legte der Staatschef dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes vor, das die weit verbreitete Praxis der Barzahlung bei großen kommerziellen Transaktionen (Kauf von Autos, Immobilien u, a.) unterbinden soll.

  • Die völlig unzureichende Kooperation der Zivilbevölkerung bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens: Die notorische Straflosigkeit und das Wissen um die Infiltration der Strafverfolgungsbehörden durch die Kartelle wirken sich in Verbindung mit dem durch die eskalierende Gewaltwelle geschürten allgemeinen Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung alles andere als förderlich auf die Bereitschaft zur Unterstützung der staatlichen Akteure aus. Die Schutztrupps der Kartelle bewegen sich bei ihren Aktionen nicht selten in auffälliger. Konvois von zehn oder mehr großen Kraftfahrzeugen, die mit mehreren Dutzend schwer bewaffneten und z. T. uniformierten Personen besetzt sind; wenn diese Formationen quasi aus dem Nichts aufzutauchen und nach Ausführung ihres Jobs ebenso spurlos wieder zu verschwinden scheinen, dann nur deshalb, weil Zeugen des „Woher” und „Wohin” aus naheliegenden Gründen zu schweigen vorziehen. 
  • Die nicht zielführenden Charakteristika des Militäreinsatzes: Längst ist deutlich geworden, dass der von der Armee angewandte Maßnahmenkatalog — Patrouillenfahrten, Straßensperren/-kontrollen, Durchsuchung verdächtiger Gebäude — die Kampfkraft und die operativen Fähigkeiten der Schutztrupps der Kartelle nicht wirklich beeinträchtigen kann. War es vor einigen Jahren noch üblich, dass es nach der Entsendung eines Militärkontingents in einen hotspo des Bandenkonflikts zu einem spürbaren Abflauen der Gewaltdelikte kam, so-lange die Soldaten dort verweilten — etwa 2005 in Nuevo Laredo —, tritt diesei Effekt in jüngster Zeit allenfalls sehr kurzfristig ein. Dass zeigte sich in extremer Weise in der Grenzstadt Ciudad Juärez, die im Februar 2008 Schauplat2 eines imposanten Truppenaufmarschs wurde. Obwohl die Militärpräsenz in de] Folgezeit mehrfach verstärkt wurde, kam es statt der angestrebten Entspannung der Situation zu einem drastischen Anstieg der drogenhandelsbedingten Todesfälle. Nach zahlreichen Klagen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilister wurde das Militär Anfang 2010 abgezogen und außerhalb der Stadtgrenzen stationiert. Übergriffe gegen Unbeteiligte sind z. T. zwangsläufige Folge des größtenteils im urbanen Raum stattfindenden Einsatzes gegen einen weitgehend unsichtbaren Feind: die Kämpfertrupps der Kartelle sind äußerst mobil, schlagen blitzartig zu und ziehen sich schnell wieder zurück; grundsätzlich kann jedes Privathaus als Unterschlupf von Kartellmitgliedern und Depot für Drogen oder Waffen dienen.
  • Die verbesserte militärische Ausrüstung und Ausbildung der enforcer-Trupps der Kartelle: Das Golf Kartell übernahm die Pionierrolle bei der Aufstellung einer professionellen Söldnergruppe, deren Kern aus desertierten Mitgliedern einer Elite-Einheit der mexikanischen Armee bestand. Um der Schlagkraft dieses unter der Bezeichnung „Zetas” zu makabrem Ruhm gelangten paramilitärischen Kampfverbands etwas entgegen zu setzen, mussten die anderen Kartelle ebenfalls den Professionalisierungsgrad ihrer Killer- und Schutztrupps erhöhen. Viele der zahlreichen Deserteure der Armee (z. B. 2007: 16.500; 2008: 9.050) heuern bei den Drogenbanden an. Anfang 2010 erklärte Verteidigungsminister Galvän vor einem Parlamentsausschuss, dass sich unter den Gefängnisinsassen aus dem Drogenhandelsmilieu 15.000 Personen befänden, die eine mehr oder weniger lange Ausbildung beim Militär absolviert hätten. Der leichte Zugang zu hocheffizienten Schusswaffen — darunter eigentliches Kriegsgerät wie Maschinengewehre oder Granatwerfer —, die größtenteils auf dem kaum regulierten US-Waffenmarkt beschafft werden, erleichtert es den Kartellsöldnern, den Militäreinheiten Paroli zu bieten. Gerade die an Mexiko angrenzen-den Bundesstaaten mit der partiellen Ausnahme von Kalifornien zeichnen sich durch besonders lasche Waffenkontrollgesetze aus. Auch eine weniger korrupte und wesentlich effektiver agierende Polizei als die mexikanische wäre allein aufgrund der unzureichenden Bewaffnung kein ernsthafter Gegner für die Drogenbanden.
  • Die an vielen Orten massierte Präsenz der Armee vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die von Calderön zum Drogenkrieg abkommandierten Soldaten weniger agieren denn reagieren und dass es primär die Kartelle und ihre Söldnertrupps sind, welche die Dynamik und den Verlauf der Konfrontation bestimmen. Mit diesem Befund korrespondiert die Erkenntnis, dass trotz der Dislozierung von Truppenteilen in quasi alle Brennpunkte des Drogenhandels und des Bandenkriegs die Kartelle offensichtlich nicht die Armee, sondern nach wie vor die rivalisierenden Drogenbanden als ihre gefährlichsten Gegner ansehen, Weit über 80 Prozent der Toten des war on drugs bestehen aus Mitgliedern der verfeindeten Händlerringe. Allerdings lässt sich seit Beginn von Calderöns Feldzug gegen die Kartelle eine deutliche Tendenz zur Erhöhung des Anteils von Angehörigen der Sicherheitskräfte (Polizei und Militär) sowie von unbeteiligten Zivilpersonen (inkl. Jugendliche und Kinder) an den Opferzahlen des mexikanischen war on drugs feststellen. Auch wenn die Aktionen der Sicherheitskräfte ihr strategisches Ziel klar verfehlen, bleiben sie nicht ohne Wirkung auf das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Kartellen. Das heißt dann aber auch, dass dem einen oder anderen Kartell gewisse Vorteile aus der Militarisierung der Drogenpolitik erwachsen, insofern dieser oder jener Rivale durch Operationen der Armee verstärkt unter Druckgesetzt und somit mehr oder minder geschwächt wird. So liegen eindeutige Hinweise dafür vor, dass das Sinaloa-Kartell die massiven Militäreinsätze in den Einflussgebieter des Tijuana-, Juärez- und Golfkartells seinerseits zu verstärkten Attacken auf die Konkurrenten genutzt hat. Mittlerweile kontrolliert die Sinaloa-Bande große Gebiete in der ehemaligen Hochburgen der Kartelle von Juärez und Tijuana. Die eher seltene Ausschaltung oder Ergreifung von Führungsfiguren der Kartelle, die von der Regierung mit großem Medienbrimborium als Erfolgsbeweis ihrer Anti-Drogenpolitik gefeiert wird; führt regelmäßig zu einer Intensivierung der Gewalt, weil sich zwei oder mehr Mitglieder aus der zweiten Reihe der Hierarchie der Verbrecherbanden um die freigeworden Spitzenposition streiten.

    So wie der Militäreinsatz unbeabsichtigt zur Stärkung und Professionalisierung des organisierten Drogenhandels beiträgt, kann der kumulative Effekt des Drogenkriegs mii all seinen negativen Begleiterscheinungen mittel- und langfristig die Entwicklung des  Landes in Richtung eines failing state beschleunigen — auch wenn keines der Kartellf ein solches Ziel wirklich anstrebt: ausreichend lukrativ sind illegale Geschäfte nur in einem einigermaßen legalen Umfeld. Nicht auszuschließen ist, dass der Prozess des Staatszerfalls durch einen geheimen Pakt mit einem (dem mächtigsten!) oder mehrerer Drogenkartellen gestoppt wird — eine Option, die schon jetzt von einigen Beobachten der Szene als alternativloses Mittel zur Beendigung des Drogenkriegs betrachtet wird Die Regierung Calderön hat einer solchen Möglichkeit öffentlich mehrfach eine vehe mente Absage erteilt. Glaubt man einem Bericht der renommierten mexikanischen Wochenzeitschrift Proceso von Ende November 2010, gab es bereits im Jahre 2008 entsprechende Kontakte zwischen dem Präsidialamt und El Chapo, dem Führer des Sinaloa-Kartells und meistgesuchten Verbrecher des Landes. Die Gewalt könnte aber  auch dann spürbar zurückgehen, wenn es dem Sinaloa-Kartell auf mittlere Frist gelingt die Konkurrenzorganisationen auszuschalten oder — realistischer — so weit zu schwächen, dass sie die Rolle eines Juniorpartners einer völligen Vernichtung vorziehen. In beiden Fällen bliebe Mexiko ein Land, in dem das organisierte Verbrechen einege
    wichtige Rolle spielt und zentrale Staatsfunktionen neutralisiert.

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