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Editorial

aus: vorgänge Nr. 193, Heft 1/2011, S. 1-3

Deutschland paradox: Linke Intellektuelle, die eine militärische Intervention in Libyen fordern, um den Vormarsch von Gaddafis Truppen zu stoppen, und eine konservativ-liberale Bundesregierung, die sich gegen die deutsche Beteiligung an diesem Einsatz u. a. mit der Begründung ausspricht, man könne nicht fair Öl Blut fließen lassen. Die Bundesregierung weiß die Mehrheit des eigenen Volkes hinter sich, die Intellektuellen fordern die bewaffnete Verteidigung der Menschenrechte und Ermöglichung eines demokratischen Umbruchs im Namen des libyschen Volkes. Die Frage, ob militärische Interventionen Menschenrechte und Demokratie befördern, was die Intellektuellen hoffen, oder ob sie mit ungewissem politischen Ausgang das Leid nur verlängern und auch ins eigene Land tragen, was die Bundesregierung befürchtet, wird nun – wie zuvor schon im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak – in der libyschen Wüste beantwortet.

Der Einsatz der alliierten Truppen gehört in die Kategorie der asymmetrischen Konflikte, die den Begriff des Militärischen seit dem Ende der Blockkonfrontation erheblich gewandelt haben. Die „neuen Kriege”, wie sie von vielen Analytikern genannt werden, erfordern neue Streitkräfte und neue Waffensysteme, Interventionen verschiedener Abstufungen, die mit zivilem Aufbau und State-Building kombiniert werden. Damit sind neue Anforderungen an die Bundeswehr gestellt, auf die derzeit mit der größten Reform ihrer Geschichte geantwortet wird. Sie wird nicht mehr länger Wehrpflichtarmee sein, der Bürger in Uniform verändert sich, die innere Führung wird dem angepasst werden. Die Frage ist, was aus beiden wird und ob man auch weiterhin von einer Parlamentsarmee wird reden können?

Diese Ausgabe der vorgänge will darauf Antworten geben. Sie widmet sich dem Wandel der demokratischen Armee, den neuen Einsatzmitteln und -konzepten. Die normativen Grundlagen militärischer Interventionen sollen ebenso überprüft werden wie die Erreichbarkeit des Ziels, mit ihnen menschlichere und demokratischere Verhältnisse zu schaffen.

Klaus Naumann stellt die Bundeswehrreform auf den Prüfstand und kommt zu dem Fazit, dass sie weit mehr Implikationen hat, als unter den Stichworten innere Strukturen, Kosten, Effizienz und Standortfragen diskutiert wird. Das Dreiecksverhältnis von Politik, Militär und Gesellschaft wird neu austariert, doch findet sich dazu bislang keine Anleitung.

Elmar Wiesendahl sieht die Anpassung des demokratischen Grundsatzes der inneren Führung an die neue Einsatzarmee als missglückt an. Derzeit stehen sich zwei Schulen gegenüber, die athenische, welche die Einsatzkräfte eingebettet sieht in ein Konzept vernetzter Sicherheit, das neben militärischen auch polizeiliche und politische Fähigkeiten umfasst. Die spartanische stellt die Konzentration auf die Einsatz- und Kampffähigkeit in den Mittelpunkt. Derzeit ist Sparta auf dem Vormarsch.

Andreas Herberg-Rothe und Ralph Thiel konzipieren die Figur des „demokratischen Kriegers” als zeitgemäße Fassung des Bürgers in Uniform, die zum einen der Realität des Militärischen und zum anderen dessen Eingebundenheit in Staat und Gesellschaft Rechnung trägt.
Ulf von Krause zeigt am Beispiel des Einsatzes in Afghanistan, wie die Eigendynamik des Militärischen die politische Prärogative des Parlaments unterläuft.

Matthias Dembinski und Hans Joachim Spanger stellen der NATO-Reform schlechte Noten aus: Der Rückzug auf die frühere Kernaufgabe territoriale Verteidigung ist überflüssig, gegenüber Russland gar kontraproduktiv, bei internationalen Interventionen ist der Ansatz der „vernetzten Sicherheit” zwar richtig, doch sollte die NATO nicht den dominanten Akteur spielen, sondern sich den politischen Instanzen wie den UN unterordnen.

Wolfgang Merkel widmet sich den Kernfragen, ob und unter welchen Umständen Kriege Demokratie befördern, ob militärische Mittel zur diesem Zweck eingesetzt werden dürfen und ob es Fälle gibt, in denen sie gar eingesetzt werden müssen. Die Implementierung von Demokratien durch Krieg ist historisch gut belegt, doch bedarf es zu deren Dauerhaftigkeit flankierender Maßnahmen der sozialen und politischen Stabilisierung.

Hans-Joachim Heintze geht der Frage nach, inwieweit — wie im Fall Libyen — die Verteidigung der Menschenrechte völkerrechtlich eine militärische Intervention und damit eine Verletzung der nationalen Souveränität rechtfertigt und wann die Responsibility to protect gar eine Verpflichtung der UN darstellt.

Klaus Schlichte sieht die These von den „neuen Kriegen” nicht belegt, informelle Kampfformationen wie auch asymmetrische Kämpfe und die damit einhergehende Barbarisierung der Kampfhandlungen habe es immer schon gegeben, auch seien ökonomische Motive nicht neu. Der Begriff „neue Kriege” diene eher als Legitimationsressource der Sicherheitsapparate.

Jan Helmig gibt einen Überblick über die neuen Waffensysteme, die sich durch höhere Präzision, Geschwindigkeit, Durchschlagskraft und Autonomie auszeichnen. Dadurch werden zwar Opferzahlen gesenkt, aber Erfolge nicht bereits stabilisiert.

Markus Holzinger befasst sich mit den Risikotransfer-Kriegen, die durch neue Waffensysteme möglich werden. Sie konzentrieren den Schaden beim Gegner und minimieren das eigene Risiko und das Unbeteiligter. Das senkt die Einsatzschwelle, zugleich bergen die Einsätze erhebliche völkerrechtliche Implikationen.

Christian Egbering lotet das Spannungsverhältnis von ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung aus. Beide sind gleichberechtigte Bestandteile eines erweiterten Sicherheitsbegriffs, doch die faktische Nachrangigkeit Ersterer wird schon an der materiellen Ausstattung deutlich. Eine Umschichtung müsste einhergehen mit einem Konzept, in dem die militärische Komponente lediglich last resort ist.

Ute Finckh zeichnet die Geschichte der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung nach und kommt zu dem Fazit, dass es nicht nur an materieller Ausstattung, sondern vor allem national wie international an einer kohärenten Gesamtstrategie zum Ausbau entsprechender Kapazitäten mangelt.

Karl-Dieter Hoffmann führt auf den Schauplatz des innerstaatlichen Drogenkrieges in Mexiko, der viele Opfer, aber keine Gewinner und Verlierer kennt.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge eine anregende Lektüre.

Ihr

Dieter Rulff

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