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Die Politik des Militärs der Gesell­schaft

Staats- und gesellschaftspolitische Implikationen der Bundeswehrstrukturreform;

aus: vorgänge Nr. 193, Heft 1/2011, S. 4-13

Obliti privatorum, publica cura te.
Spruch im Rektorenpalast der Handelsrepublik Dubrovnik

Von der umfangreichsten Reform der Streitkräfte seit Gründung der Bundeswehr ist die Rede. Das verwundert insofern, als bereits zehn und mehr Jahre einer kontinuierlichen „Transformation” hinter uns liegen. Der erste Befund lautet also in aller Nüchternheit: Offenbar hat das alles noch lange nicht genug gebracht! Richtet sich der Blick freilich auf den Umfang der absehbaren Aufgaben, die Größe der sicherheitspolitischen Herausforderungen und die erwartbar dafür zur Verfügung gestellten Mittel, so sind auch dieses Mal die Probleme größer als die angebotenen Lösungen. Dennoch ist die Zäsur dieser Monate enorm: die Reduzierung des Streitkräfteumfangs um etliche zehntausend Soldaten und Zivilangestellte; die Aussetzung der Wehrpflicht und die Neuordnung der freiwilligen Dienste; die Restrukturierung der politischen und militärischen Führungsstrukturen; die angekündigten EU-koordinierten Rüstungs- und Sicherheitskooperationen. Und noch etwas wird sich als Zäsur setzend erweisen – das absehbare und problematische Ende des Afghanistaneinsatzes, auf den das gerade erst verabschiedete strategische Konzept der NATO eine uneindeutige Antwort gibt. Umso mehr sind die nationalen Akteure gefragt, Definitionsstärke aufzubringen, was man künftig tun und lassen soll, wie man sicherheitspolitisch agieren und mit wem man gemeinsame Sache machen will.

Die Politik der Reform

Auslöser der nunmehr in Gang gekommenen Strukturveränderungen war der vom Minister zeitweilig in den Rang einer Staatsräson erhobene Sparzwang der öffentlichen Haushalte. Er ist deswegen, nicht nur zu unrecht, viel gescholten worden; man kann dem Diktat der knappen Mittel hingegen auch eine wohltätige Seite abgewinnen. Denn nun muss – endlich – alles (vieles) auf den Prüfstand, was im politisch-militärisch bürokratischen Routinegang bisher außen vor geblieben ist. Übersehen wird in der gelegentlich aufkommenden Begeisterung über die radikalen Schritte und Schnitte des Ministers freilich allzu leicht, dass es sich bei seinem Vorhaben um nichts weniger handelt, als um eine politische Reform, die in ihren Folgewirkungen jenen am sozialstaatlichen Gebäude um nichts nachstehen wird — und die selbst wieder eine endlose Kette an Nachbesserungen, Teilreparaturen und Revisionen nach sich ziehen wird. Verdeckt werden die gravierenden, man sollte schon sagen: staats- und gesellschaftspolitischen Implikationen des allerneuesten Reformansatzes durch eine Reihe von Argumentations- und Verfahrensschwächen.

1. Als erste Hürde zu nennen ist die haushaltspolitische Vorentscheidung über die Reformdimension. Sie besteht nicht primär in der Frage, ob es dem Verteidigungsministerium gelingt, den erwünschten Sparbeitrag zu erbringen (das wird er nicht); viel brisanter ist, ob sich das Parlament dazu durchringen kann, die notwendige Anschubfinanzierung für die geplanten Eingriffe in Rechnung zu stellen. Geschieht dies nicht, wird es — wie zuvor — bei Halbheiten, Vertagungen und partiellen Unterausstattungen bleiben. Es wäre interessant zu beobachten, ob Koalition und Bundestag das notwendige Verhandlungsgeschick zu mobilisieren vermögen, die Gewährung der Anschubmittel von einer klaren Auftragsbestimmung und nachhaltigen Reformkonzeption abhängig zu machen.

2. Zum Zweiten wird sich erst noch zeigen müssen, ob und wie es der Sicherheitspolitik gelingt, mit den inzwischen vorliegenden Vorschlägen umzugehen.[1] Diese zum Teil radikalen und vorwärts weisenden Reformanstöße müssen erst noch ins Politische zurückübersetzt werden. Dazu ist freilich eine Klarheit über Ziele, Aufgaben, Auftrag, Strukturen und Mittel künftiger Sicherheitspolitik unabdingbar, die zumindest ebenso konsequent sein sollte wie der Vorschlag der Weise-Kommission, die Belegschaft des Ministeriums zu halbieren. Nachdem die erste Ankündigung des Ministers, man werde mittels eines neuen Weißbuchs zugleich und erstmals eine Strategiedokument vorlegen, inzwischen schon wieder relativiert worden ist, kann man gespannt sein, wie weit der politische Wille reichen wird.

3. Die politische Tragweite der anstehenden oder schon eingeleiteten Veränderung wird dadurch überspielt, dass die Wehrpflichtfrage nach Art des Hornberger Schießens erledigt wurde. Die taktische Meisterleistung des viel gelobten Ministers bestand darin, einer Leiche den Totenschein auszustellen. Im Überschwang der Freude, sich eines ohnehin schon durchlöcherten „Zwangsdienstes” entledigt zu haben, wird der Blick getrübt für den damit vollzogenen Wechsel des Modells politischer Obligationen des Staatsbürgers bzw. der Staatsbürgerin; eine Veränderung, die sowohl den Sozialtyp des künftigen (Einsatz-)Soldaten um prägen, aber auch das Modell staatsbürgerlicher Teilhabe beeinflussen wird.

4. Der politische Charakter des angeschobenen Reformwerks wird schließlich dadurch deformiert, dass bisher keine Anstrengungen sichtbar geworden sind, den sicherheitspolitisch üblich gewordenen Bekenntnissen zum „ vernetzten Denken “ oder zum „Comprehensive Approach” in den anstehenden Neuordnungen Gewicht und Stimme zu verleihen. Einstweilen, so scheint es, kürzt ein jedes Ministerium vor sich hin. Ein strategischer Geist über den Wassern ist nicht erkennbar.[2] Die größte Herausforderung auf diesem Gebiet besteht darin, die Wucherungen einer globalen Sicherheitsvorsorge mit den ebenfalls ausufernden Problemen weltweiter Klima-, Energie- und Ressourcen-Vorsorge in ein produktives Verhältnis zu setzen.

Die angepackten wie die einstweilen liegen gelassenen Reformkomplexe bergen also politischen Sprengstoff ersten Ranges. Das Verhältnis zwischen Politik, Militär und Gesellschaft wird sich in den kommenden Jahren nachhaltig verändern. Die Problem-Punkte dieser drei Bereiche sollen im Folgenden diskutiert werden. Aber zunächst einmal ein Blick auf die sicherheitspolitische Choreographie! Bisher bewegen sich die Akteursgruppen nach Art einer Reise nach Jerusalem. Immer gibt es einen Stuhl zu wenig, und die Beteiligten balgen sich darum, wer die knappen Sitzflächen ergattern kann. Wer jeweils übrig bleibt, hat den Schwarzen Peter. So beklagt sich das Militär über die geringe Anerkennung in der Öffentlichkeit und fordert mehr Gegenliebe; die Öffentlichkeit hingegen zollt der militärischen Institution (wie auch der Polizei oder dem Bundesverfassungsgericht) in abstracto höchsten Respekt, will aber für die konkrete Einsatzpraxis der Streitkräfte immer weniger Verständnis aufbringen, sobald diese allzu „robust” wird; die Politik wiederum appelliert an die Folgebereitschaft der Wählerschaft, unternimmt aber mit ihren mageren oder formelhaften Begründungen der Sicherheitspolitik alles, um die Aufnahmebereitschaft des Publikums zu unterfordern; der Reigen setzt sich fort mit einem Militär, das sich viel auf seinen staatsbürgerlichen Status zugute hält, den Gang in die Öffentlichkeit und ihre unübersichtlichen Debatten scheut, obwohl doch nur auf diesem Wege mehr Akzeptanz und Überzeugung zu erreichen wäre; würden jedoch Spitzenmilitärs der Aufforderung des letzten Bundespräsidenten folgen und in die sicherheitspolitische Debatte eingreifen, riefe das reflexartig die Politik auf den Plan, die ihren Primat gefährdet sähe; der Ball würde dankbar aufgegriffen von einer Medienöffentlichkeit, die in greller Farbe die Rückkehr der Reichswehr beschwören würde usw. — Soviel zu den diversen Umweltproblemen, mit denen die Politik des Militärs der Gesellschaft zu rechnen hat. Tritt man einen Schritt zurück von diesem politischen Schaustück und richtet den Blick über die bereits vorliegenden Reformenanalysen und Bestandsaufnahmen hinaus,[3] zeichnen sich auf der Hinterbühne gravierende staats- und gesellschaftspolitisch relevante Veränderungen ab.

Was kommt nach der Wehrpflicht­ge­sell­schaft?

Mit der angekündigten Aussetzung der Wehrpflicht wird sich mittelfristig sowohl die Sozialfigur des Soldaten verändern als auch das Konzept der Staatsbürgerlichkeit und des damit verbundenen gemeinschaftsbezogenen Verpflichtungsmodells. Was die Soldaten betrifft, ist dieser Einschnitt normativ unauffällig, denn das Soldatengesetz und der Status des „Staatsbürgers in Uniform” werden durch den Wechsel der Wehrform nicht in Mitleidenschaft gezogen. Im Übrigen ist Artikel 12a GG, auf dem die Wehrpflicht beruht, ausdrücklich als eine „Kann“-Bestimmung formuliert, so dass der Gesetzgeber die Wehrform wechseln und die Pflichtforderung aussetzen kann, ohne Wort- und Sinngehalt der Verfassung irgendwie antasten zu müssen. Das ist insofern interessant, als das Grundgesetz, ganz im liberalen Geist, im uniformierten Bürger offensichtlich kein konstitutives Merkmal vollwertiger Staatsbürgerlichkeit erkennen will.[4]

Gleichwohl wird der Statuswechsel hin zu einer kombinierten Freiwilligen-, Zeit- und Berufsarmee, zudem unter Einsatzbedingungen, Veränderung im Sozialprofil des Militärs nach sich ziehen. Eine ganze Reihe dieser Prozesse sind bereits seit den letzten Jahren in voller Entfaltung. Das mildert den Eindruck, es geschehe nun etwas gänzlich Neues. Das Militär ist durch Standortschließungen bereits „aus der Fläche” verschwunden. Die soziale Sichtbarkeit hat stark abgenommen; sie wird gleichsam kompensiert durch die mediale Präsenz der Bundeswehr in den Berichten aus den Einsatzgebieten. Das mobilisiert Anteilnahme, die vor allem den Kriegsopfern und Folgen belasteten zuteil wird. Soldaten, so könnte man den Trend pointieren, werden zu Adressaten medialer und karitativer Zuwendung, die — jenseits allfälliger Skandalisierungen — nur wenig über die Billigung der Auslandseinsätze aussagen. Das imaginäre Bild des vormaligen Bürgersoldaten transformiert sich schrittweise vom — gern karikierten – „Sozialarbeiter in Uniform” hin zum professionellen Sicherheitsakteur, der fern der Heimat im Auftrag der Politik unterwegs ist. Die Umstellung von Landesverteidigung auf globale Sicherheitsvorsorge samt Änderung der Wehrform verwandelt das Sicherheitsproblem unter der Hand von einer Bürgerangelegenheit in ein staatspolitisches Versicherungsverhältnis, für dessen Erfüllung nur noch Steuerzahlungen und Experten zuständig sind.

Diese Entwicklung hat einen Haken. War das Geschäft des Landesverteidigers noch von den legitimatorischen Weihen kollektiver Notwehr gegen unmittelbar erfahrbare Übergriffe von außen getragen, so präsentiert sich der Einsatzsoldat von heute als — wie die vieldeutige Formel heißt —„Instrument“ der deutschen Sicherheitspolitik.[5] Aus dem späten Nachkommen des bürgerlichen Beschützers von Heim und Herd ist ein Agent der Staatspolitik geworden, die ihn in „Wars of Choice” schickt, um Gefahren „dort zu begegnen, wo sie entstehen.” Das wirft, wie man am afghanischen Beispiel sieht, beträchtliche Legitimationsprobleme auf; die Folgewirkung für den nunmehr professionalisierten Staatsbürger in Uniform ist jedoch von eigener Prägnanz. Je fragwürdiger und problematischer die politischen Einsatzbegründungen ausfallen, je mehr sie sich im Verlauf langwieriger Missionen abnutzen, desto stärker ist der neue Soldat auf professionalistische Selbstbilder zurückgeworfen. Muss er gegebenenfalls mit der ganzen Person für halbe Sachen einstehen, liegt die Option nahe, sich auf die selbstgenügsame Haltung zurückzuziehen, den „Job gut zumachen”, während Begründungen und Sinnstiftungen gern dem immer wieder herbeizitierten „Primat der Politik” anempfohlen werden. Diese Tendenz gibt es bereits, sie ist (noch) nicht stark, aber sie ist vorhanden.[6]

Auslandseinsätze und militärischer Professionalismus könnten also zu der paradoxen Situation führen, dass sich ein Soldatentyp entwickelt, der zwar nicht „archaischer Kämpfer” sein will, aber zur Selbstinstrumentalisierung und zum Jobdenken neigt. Gleichzeitig signalisieren die komplexen Auslandsmissionen jedoch ganz andere Erfordernisse. Der Ruf nach soldatischer Rollendifferenzierung nimmt zu, dringend nachgefragt wird die Ausweitung des Horizonts über das Nur-Militärische hinaus. — Angesichts dieser gegenläufigen Tendenzen könnte die eigenartige Lage entstehen, dass das von der Politik und den internationalen Organisationen propagierte und legitimierte Gemeingut „kollektive” und „globale Sicherheit” keinen gesellschaftlich zurechenbaren Akteur und Adressaten findet, sondern nur eine hoch professionalisierte Kaste von mobilen Einsatzsoldaten.[7] Das ist nun gewiss ein übertriebenes Bild, doch es illustriert drastisch, welche Unwägbarkeiten die Umstellung auf Sicherheitsvorsorge und Professionalismus mit sich bringt, nachdem die Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung und Wehrform aufgelöst worden ist.

Die Gegentendenz ist in einem klugen Programmsatz der Weise-Kommission angesprochen worden, ohne dass dazu bisher ein kohärentes politisches Konzept vorgelegt worden wäre. Im Bericht wird angeregt, ein umfassendes Angebot freiwilliger Dienste bereitzustellen, „das persönliche, berufliche, gesellschaftliche und sicherheitspolitische Interessen in Einklang bringt. Die Möglichkeiten können von der Pflege, Betreuung und Wohlfahrt über den Bereich Bildung und Erziehung, den Umwelt- und Katastrophenschutz über die Entwicklungshilfe bis eben hin zum Dienst in der Bundeswehr reichen.“[8] Würde die Politik ernsthaft ein solches Angebot formulieren, bestünde die Chance, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte etwas auszubügeln. Als der Zivildienst (der kein „Ersatzdienst” mehr sein sollte) 1977 mit den sog. Postkartenverfahren der Wehrdienstverweigerung de facto zur gleichrangigen Option neben dem Wehrdienst geworden war, hatte man nicht erkannt (erkennen wollen), dass damit unter der Hand eine Ausweitung des Gedankens der Gemeinschaftsdienste vollzogen worden war. Man wollte nur Druck vom Kessel ansteigender Verweigerungsquoten nehmen. Die Chance wurde vertan, zu einer gemeinsamen Lösung bei den verpflichtenden Gemeinschaftsdiensten zu kommen. Die Obligationsstruktur polarisierte sich einerseits in einen widerwillig absolvierten und wenig attraktiven Wehrdienst und andererseits in einen vorwiegend reaktiv geleisteten Zivildienst. Dem einen hing der Ruch des „Zwangdienstes” und verletzter „Wehrgerechtigkeit” in der feldgrauen Wäsche, der andere wurde den Makel einer nur ausweichend erbrachten Ersatzleistung nicht los.

Es wird sich nun das staats- wie gesellschaftspolitisch interessante Experiment verfolgen lassen, ob es gelingen wird, die legitimen Ansprüche an vorsorgenden und gemeinschaftsbezogenen Diensten auf Basis der Freiwilligkeit zu befriedigen. Das Gebot der Dringlichkeit wie die Maxime republikanischer Staatsklugheit würde indes dazu anhalten, diese Frage einer verbindlichen und attraktiven Regelung zuzuführen. Bei allen diesen Diensten, so kann man resümieren, verfügen Bürgerinnen und Bürger um gemeinwohl affine Fähigkeiten, die nachzufragen sie dem demokratischen Staat nicht verübeln könnten, die aber vorzuenthalten sie begründungspflichtig sein sollten. Was das für die militärischen Dienste bedeuten könnte, lässt sich aus dem absehbaren Wandel der Streitkräfte ersehen.

Was kommt nach der „west­fä­li­schen” Militä­r­or­ga­ni­sa­tion?

Im Zentrum der militärischen Strukturreform stehen Stichworte wie Verschlankung, Effektivierung und Effizienz. Wesentlich weniger ist die Rede — bisher — von der militärischen Auftragslage, den Streitkräftestrukturen und den Wirksamkeitsbedingungen vor-sorgender Sicherheit. Die absehbaren Struktureingriffe bewegen sich noch immer, ganz grob gesagt, auf dem seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Problemniveau der Vereinheitlichung und Verschmelzung der Teilstreitkräfte sowie der anhängigen Organisationsstrukturen (die sog. Wehrmachtlösung). An den zunehmend komplexer gewordenen Auslandsmissionen, die erklärtermaßen nicht nur militärische Einsätze sind, lässt sich jedoch ein sehr viel tiefer greifender Veränderungsdruck erkennen. Jenseits der klassisch-modernen („westfälischen“) Konstellation zwischenstaatlicher Kriege sind die Streitkräfte nicht nur mit asymmetrischen Gewaltstrukturen konfrontiert; ihr Auftrag richtet sich auch darauf, mit ihren Mitteln die Bedingungen der Möglichkeit einer nachhaltigen Sicherheit mitzugestalten. Der letzte Halbsatz ist nur scheinbar schwammig formuliert; in ihm verbirgt sich eine unerhörte Herausforderung, wenn nicht Überforderung der militärischen Zweck- und Organisationsbestimmungen.

Erkannt und thematisiert werden vor allem die Anforderungen äußerer Differenzierung, die sich infolge der neuen Einsatz- und Auftragsbedingungen stellen. Der Ruf geht nach engeren Kooperations- und Koordinationsstrukturen zwischen den verschiedenen militärischen und zivilen, staatlichen und nichtstaatlichen Akteursgruppen der Missionen. Dabei hat sich in der Bundeswehr eine gewisse Polarisierung der Probleme ergeben. Seit einigen Jahren wird großes Gewicht gelegt auf die sog. zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC), für die spezielle Zuständigkeiten bzw. Fähigkeiten herangebildet worden sind. Wesentlich geringer entwickelt ist hingegen der deutsche Umgang mit den komplexen Problemen der Aufstandsbekämpfung („Counterinsurgency“/COIN).[9] Hier genügt es nicht, CIMIC-Beauftragte bereit zu stellen; vielmehr muss die gesamte operative Praxis auf die Kombination „kinetischer” (gewaltsamer) und „nicht-kinetischer” Fähigkeiten ausgerichtet werden, von denen die zuletzt genannten kooperative, polizeiliche, informationspolitische und ähnliche Aspekte umfassen. Beides, CIMIC-Aufträge wie COIN-Strategien verlangen eine enge Abstimmung mit zivilen Behörden und Organisationen. Darüber hinaus verweisen sie auf einen Integrationszusammenhang in die Gesamtproblematik von Auslandsmissionen, der hier nur angedeutet werden soll.

Kooperationen gestalten sich nicht konfliktlos, denn die Auftragslagen sind auch bei Übereinstimmung im Grundsätzlichen verschieden. Zielkonflikte sind an der Tagesordnung: Wie kann der „humanitarian space” der Neutralität und Überparteilichkeit gesichert werden, wenn das Militär erkennbar Partei in den Konflikten des Missionsgebiets ist? Wie kann verhindert werden, dass sich die Organisationsmacht des militärischen Potentials in eine Definitionsmacht der politischen Ziele übersetzt, so dass die „Securization” sämtlicher Missionsbelange Maßstab setzend wird? Wie kann auftragssensibel zwischen dem militärischen „use of force” und der „utility of force” unterschieden werden? Wie ist „Statebuilding” unter Bedingungen laufender Aufstandsbekämpfung überhaupt möglich? [10]

Allein diese Fragen lassen erkennen, wie nchdrücklich die veränderte Auftragslage komplexer Missionen hineinwirkt in die tradierten Organisationsregime der beteiligten Akteursgruppen, nicht zuletzt des Militärs. Neben die Erfordernisse äußerer Differenzierung tritt die Notwendigkeit innerer Differenzierung. Für diesen Vorgang sind beispielsweise Hilfsbegriffe wie „Constabulary Force” oder „Verpolizeilichung” geprägt worden, die veranschaulichen, wie sich verschiedene Organisationsziele überlappen und die Suche nach neuen innerorganisatorischen Handlungsmaximen anstoßen. Beispielhaft lässt sich das daran veranschaulichen, dass die hierarchische Top-down-Struktur des Militärapparats in den Einsatzgebieten — ganz ähnlich wie die Entwicklungsarbeit — mit dem umgekehrten Problem der Bottom-up-Prozesse konfrontiert wird. Wenn „Sicherheit” oder „Statebuilding” Zielformulierungen sind, an deren Realisierung auch das Militär Anteil hat, und wenn es zutrifft, das beide Zielstellungen sich nicht vom grünen Tisch implantieren lassen, sondern lokalen Aushandlungsprozessen unterliegen, dann wird ersichtlich, welcher Flexibilität, Eigenverantwortlichkeit und Improvisationsfähigkeit die militärischen „Security Enabler” bedürfen, die hier unmittelbar mit politischen Aufgabenstellungen betraut sind.[11]

Für das Berufsbild des Militärs hat das gravierende Folgen. Gewiss werden die militärischen Kernfähigkeiten sowie entsprechend ausgerichtete Infanterie- und Kampfeinheiten unabdingbar bleiben (und gestärkt werden müssen), die auch künftig das Selbstbild des Soldaten prägen (müssen). Darüber hinaus bedarf es bei Stabilisierungseinsätzen sowohl in laufenden Konflikten wie in der Konfliktnachsorge eines breites Kranzes an Fähigkeiten, die über das Kerngeschäft hinausgehen. In der Militärsoziologie wird daher von einem Trend zur Polyvalenz oder sogar zum Semi-Professionalismus gesprochen.[12] Dabei geht es um Kenntnisse und Fähigkeiten, die nur bedingt militärisch auszubilden sind. Eine sehr viel engere Verschmelzung von zivilen und militärischen Ausbildungsgängen, Karrierestrukturen und Berufsanteilen wäre eine notwendige Folge solcher Trends.[13] Eine andere wäre der qualifizierte Rückgriff auf ein – zu förderndes – Reservistenpotential mit zivilberuflicher Erfahrung. Eine dritte Konsequenz könnte in der gezielten und mit der Nachhaltigkeit einer Obligation versehenen Nachfrage nach entsprechenden Fähigkeitsprofilen bei den Bürgerinnen und Bürgern liegen. Denn das primäre Ziel der Wehrpolitik liegt heute nicht mehr (nur) in der sozial-verträglichen Integration der (Einsatz-)Soldaten, sondern im Transfer ziviler Fähigkeiten in die militärischen Berufswelt.[14]

Politik der Sicherheit ist mehr als Sicher­heits­po­litik

Das Neuarrangement und Austarieren von Leitmodellen und Organisationsstrukturen macht auch vor der Sicherheitspolitik selbst nicht halt. Bis auf die Vorgaben der Weise-Kommission, des Berichts des Generalinspekteurs und des sog. Otremba-Papiers ist noch wenig Definitives sichtbar geworden. Was aber grundsätzlich skeptisch stimmt, ist die ressortbegrenzte Dimension des Reformvorhabens. Sicherheitspolitik unterliegt dem Problem, dass sie das, was sie gewährleisten will, selbst nicht hervorbringen und garantieren kann. Sicherheit entzieht sich nicht nur der handfesten Definition,[15] sie sperrt sich auch gegen eine monokulturelle Bearbeitung: Es gibt keinen Sicherheitsmonopolisten! Diese Erkenntnis hat sich in Formeln wie „Vernetzung”, „Integration”, „Kohärenz” und „Comprehensive Approach” niedergeschlagen. – Was bedeutet das aus einer staatspolitischen Perspektive?

Sagen wir zunächst, was es nicht bedeuten sollte. Fragwürdig wäre, das Zusammenhandeln der vernetzten Akteure und Organisationen unter den Primat sicherheitspolitischen Denkens zu stellen. Das ist eine latente Gefahr, die der Unbestimmtheit und Allgegenwart des Sicherheitskonzepts selbst innewohnt.[16] Gerade weil das Sicherheitsversprechen so vieldeutig ist, lässt sich alles und jedes in sicherheitsrelevante Materie auflösen — und dann nur noch durch diese Brille betrachten. Der Verlockung dieser Art von „Securization” kann nur widerstanden werden, wenn ein konsistentes strategisches Konzept entwickelt wird, dass Auskunft darüber gibt, was Deutschland im Rahmen seiner verschiedenen multilateralen Bindungen tun oder lassen will, um zur eigenen und zur kollektiven Ordnung (Friedensgebot) beizutragen. Das Instrumentarium für diese ausgreifende Zweckbestimmung ist seit der Etablierung des „Gesamtkonzepts Zivile Krisenprävention” (2000) ausgesprochen lückenhaft geblieben.[17] In den jüngsten Spar- und Reformanstrengungen ist davon nichts zu entdecken. Das bedeutet jedoch nichts anderes, als dass sich die Politik der eigenen Mittel zur Realisierung ihrer Zielprojektionen und Willenserklärungen beraubt.

Staatspolitisch wären interministerielle wie parlamentarische Anstrengungen gefordert, mit der Reduzierung der zur Verfügung stehenden Mittel zugleich auch die Kräfte zu bündeln und konzentrieren. Das aber würde eine Strukturreform erfordern, die beispielsweise bis in die Geschäftsordnung der Ministerien hineinreicht, indem sie dem Ressortprinzip wo immer notwendig Grenzen setzt, die horizontale Führungsverantwortlichkeiten schafft und strategische Zentren etabliert, die das einlösen können, was mit der Formel der „Comprehensiveness” intendiert wurde. Dazu wäre es notwendig, ein übergreifendes Spar- und Reformkonzept zu entwickeln, das mindestens die „3 Ds” (Defence, Development, Diplomacy) integriert.[18]

Sicherheitspolitik stößt auch an äußere Grenzen. Angesichts weit gespannter Bedrohungsszenarien und enger werdender Haushalte ist der Zwang zu multilateraler Kooperation groß. Dennoch wird dieser Weg nur sehr zögerlich beschritten. Alle Bündnispartner im NATO-Bereich kürzen trotz besserer Vorsätze vor sich hin, fallen auf bilaterale Kooperationen zurück und lassen das kollektive Instrumentarium der EU völlig unbenutzt in der Ecke stehen. Angesichts der schwächlichen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheinen die souveränitätspolitischen Hürden, die sich jeder militärischen Integration in den Weg stellen, noch höher als zuvor. Vorstöße, die versuchen, aus der sparpolitischen Not eine integrationspolitische Tugend zu machen, sind kaum erkennbar. Deutschland hat mit seiner Unberechenbarkeit in Sachen AWACS-Einsatz in Afghanistan seine bündnispolitische Attraktivität nicht gerade erhöht.

Staatspolitische Grenzerfahrungen kristallisieren sich zusätzlich an den weitgesteckten Missionszielen, mit denen man — unter anderem! — Sicherheit gewährleisten will. Diese unterliegen, wie das Beispiel des Statebuilding demonstriert,[19] einer Hybris eigener Art, die bei absehbarem Misslingen die Reaktion provoziert, sich auf das real- und machtpolitisch Essentielle zu beschränken — und das ist dann doch wieder die militärisch bewehrte „Stabilität” fragiler und korrupter Regime. So agiert die Politik zugleich über und unter ihren Möglichkeiten. Oder anders gesagt, die Engführung der laufenden Sicherheitspolitik nimmt ihr eigenes Scheitern immer schon strukturell vorweg. Der Grund für dieses Politikversagen besteht nicht etwa darin, dass die Regime, denen wir unsere Unterstützung angedeihen lassen, zur Ausbildung demokratischer Grundstrukturen überhaupt nicht fähig wären, sondern darin, dass die Entsendestaaten in gouvernementaler Selbstblendung[20] gar nicht mehr in der Lage zu sein scheinen, sich über Staatsfunktionen, öffentliche Aufgaben, kollektive Ordnungsressourcen und lokale („vorpolitische“) Resilienz überhaupt zu verständigen. Die versteckte Pointe liegt darin, dass ein Konzept und ein Maßstab für das eigene Regierungsgeschäft (siehe „Comprehensiveness”) wie für das exportierende Regierungshandeln (siehe „Statebuilding”) nicht greibar zu sein scheint.[21] In der Krise des Staatsaufbaus in den Interventionsgesellschaften (siehe Afghanistan) spiegelt sich die Blockade der strategischen und Entscheidungsstrukturen in den Entsendestaaten.

Staatskunst und Kriegs­hand­werk revisited

Man braucht nicht erst auf das Werk Gerhard Ritters zurückzugreifen,[22] um zu erkennen, dass mit der laufenden Strukturreform der Bundeswehr mehr berührt wird als Kosten, Effizienzkriterien oder Truppenstärken. Sowohl in der Sozialgestalt des Staatsbürger in Uniform wie in der Ummodellierung von Staatsbürgerlichkeit, in der post-westfälischen Veränderung der Militärorganisation wie in den Herausforderungen an die Staatskunst zeigen sich tief greifende Veränderungstendenzen im überkommenen Dreiecksverhältnis von Politik, Militär und Gesellschaft. Die Reformpolitik macht bisher nicht den Eindruck, als ob sie sich der Dimensionen ihres eigenen Tuns vollends bewusst wäre.

[1] Das betrifft die Struktur- oder Weise Kommission, den Bericht des Generalinspekteurs sowie das Papier des Staatssekretärs Otremba.

[2] Man würde sich ein strategisches Dokument nach Art des britischen Strategic Defence and Security Review („Securing Britain in an Age of Uncertainty“, HM Government, Oktober 2010) wünschen. Vgl. dazu Bastian Giegerich/Alexandra Jonas, „Not simply a cost-saving exercise”? Großbritanniens neue Sicherheits- und Verteidigungspolitik. SOWI.Thema, 1/2011: http://www.sowi.bundeswehr.de/portaUalswinstbw (27.1.2011).

[3] Vgl. Winfried Nachtwei, Die neue Bundeswehr: Freiwillig und kriegerisch? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2011, S. 57-66; Jana Puglierin/Svenja Sinjen, Sparen als Staatsräson. Zur Debatte über die Bundeswehrreform, in: Internationale Politik 1/2011, S. 56-61.

[4] Vgl. Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburg 2008, Kap. III.

[5] Vgl. dazu Klaus Naumann, Soldaten sollen denken. Gestern Kosovo, heute Afghanistan: Die Bundeswehr darf nicht zum bloßen Instrument der Politik werden, in: Die Zeit, 4.2.20 10.

[6] Vgl. Maren Tomforde, Neue Militärkultur(en): Wie verändert sich die Bundeswehr durch die Auslandseinsätze? in: Maja Apelt (Hg.), Forschungsthema Militär. Wiesbaden 2009, 5.193-220.

[7] Vgl. Elmar Wiesendahl, Neue Bundeswehr und überholte Innere Führung. Ein Anstoß zur Fortentwicklung eines abgestandenen Leitbilds, in: Wilfried Gerhard (Hg.), Innere Führung – Dekonstruktion und Rekonstruktion. Bremen 2002, S. 19-38.

[8] Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr, Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz. Berlin, Oktober 2010, S. 12, vgl. S.28.

[9] Vgl. Timo Noetzel, Germany’s Small War in Afghanistan: Military Learning amid Politico-strategic Inertia, in: Contemporary Security Policy, 3/20 10, S. 486-508.

[10] Zu den Problemen der COIN-Doctrine vgl. Peter Rudolf, Zivil – militärische Aufstandsbekämpfung, SWP-Studie S2, Berlin 2010; mit nachdrücklicher Skepsis bzgl. der politisch-governementalen Implikationen des COIN-Ansatzes vgl. Wendy Brown, Review Symposium: The New U.S. Ai-my /Marine Corps Counterinsurgency Manual as Political Science and Political Praxis, in: Perspectives on Politics, 2/2008, S. 354 ff.

[11] Vgl. beispielsweise die britische Mikrostudie von Matthew Jackson/Stuart Gordon, Rewiring Interventions? UK PRTs and `Stabilization‘, in: Parameters, 5/2007, S. 647-661.

[12] Vgl. Hans Geser, Die Militärorganisation in Zeiten entgrenzter Kriegs- und Friedensaufgaben, in: Elmar Wiesendahl (Hg.), Neue Bundeswehr – neue Innere Führung? Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung eines Leitbildes. Baden-Baden 2005, S. 111-128; Karl Haltiner, Erfordern neue Militäraufgaben neue Militärstrukturen? Organisationssoziologische Betrachtungen zur Verpolizeilichung des Militärs, in: Sabine Collmer (Hg.), Krieg, Konflikt und Gesellschaft. Aktuelle interdisziplinäre Perspektiven. Hamburg 2003, S. 159-186; Gerhard Kümmel, Das soldatische Subjekt zwischen Weltrisikogesellschaft, Politik, Gesellschaft und Streitkräften, in: Angelika Dörfler-Dierken/Gerhard Kümmel (Hg.), Identität, Selbstverständnis, Berufsbild. Implikationen der neuen Einsatzrealität für die Bundeswehr. Wiesbaden 2010, S. 161-184.

[13] Vgl. Elmar Wiesendahl, Athen oder Sparta – Bundeswehr, quo vadis? Bremen 2010.

[14] Vgl. Wilfried von Bredow, Kooperations-Professionalität. Das neue Profil der Bundeswehr und die notwendige Fortentwicklung der Inneren Führung, in: Elmar Wiesendahl (Hg.), Neue Bundeswehr – neue Innere Führung?, Baden-Baden 2005, S. 129-140.

[15] Luhmann sprach davon, (Erwartungs-)Sicherheit bedeute, so zu tun, als ob die Zukunft beherrschbar sei.

[16] Vgl. Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50/2010, 5. 9-16.

[17] Vgl. Bundesregierung, Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung” (2000); zur Kritik des jüngsten Berichts der Bundesregierung vgl. Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung, Aktionsplan Zivile Krisenprävention: notwendig, nicht lästig. Kommentar zum 3. Bericht der Bundesregierung. GKKE-Schriftenreihe 52, Bonn/Berlin Oktober 2010.

[18] Vgl. Klaus Naumann, Wenn Verteidigung zu Sicherheit wird. Plädoyer für die Neujustierung sicherheitspolitischer Strukturen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 10/2010, S. 4-9.

[19] Vgl. Berit Bliesemann-de Guevara/Florian Kühn, Illusion Statebuilding. Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt. Hamburg 2010.

[20] Darauf aufmerksam macht Claus Offe, Governance –„Empty signifier“ oder sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, in: Gunnar Folke Schuppert/Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt. Wiesbaden 2008, S. 61-76.

[21] Vgl. Klaus Naumann, Paradoxe Intervention. Deutschland im afghanischen Transformationskrieg, in: Mittelweg 36, 1/2011, S. 81-108.

[22] Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus” in Deutschland. 2 Bde. München 1954 und 1960.

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