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Müssen die UN Menschen­rechte mit militä­ri­schen Mitteln durch­set­zen?

Zur Reichweite der Responsibility to Protect (R2P);

aus: vorgänge Nr. 193, Heft 1/2011, S. 79-87

Jüngst meldeten Nachrichtenmagazine: „Sarkozy geht aufs Ganze: Am Freitag, wenn sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel zum Sondergipfel treffen, will er nicht nur eine Flugverbotszone vorschlagen. Sarkozy werde seine Partner in der Europäischen Union von Bombardements zu überzeugen versuchen.“[1] Obwohl die EU-Partner dem französischen Präsidenten die Gefolgschaft verweigerten, so steht dahinter doch die Frage, mit welchen Mitteln die internationale Gemeinschaft den bedrängten Aufständischen in Libyen zur Hilfe kommen kann. Damit stehen die Völkerrechtler ein weiteres Mal vor dem ungelösten Problem, inwieweit Menschenrechte legitimer Weise mit militärischen Mitteln von außen in einem Staat gegen den Willen des Hoheitsinhabers erzwungen werden können. Seit dem Kosovo-Krieg von 1999 hält die intensive Debatte über die humanitäre Intervention an, die durch sehr kontroverse Positionen gekennzeichnet ist und mit der Responsibility to protect (R2P) eine neue Dimension bekam. Brisant ist vor allem, dass eine solche Intervention im Widerspruch zu der bislang auch durch das moderne Völkerrecht geheiligte Souveränität der Staaten steht.

I. Rechts­dog­ma­ti­sche Einordnung

Zwei grundlegende Normen des modernen Völkerrechts schützen die Souveränität der Staaten. Zum Ersten handelt es sich um das Gewaltverbot, gegen das die NATO- Staaten am 24. 3. 1999 mit Bombenangriffen auf das Staatsgebiet Serbiens verstießen. Die zweite Norm ist das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Diese Norm gehört ebenfalls zu den Grundregeln des Völkerrechts und schützt die staatliche Souveränität.[2] Auch dagegen verstießen die NATO – Staaten. Die Geltung des Gewalt- und Einmischungsverbots wurde 1986 durch den Internationalen Gerichtshof in Nicaragua vs. USA unterstrichen und ausgeführt, dass die Gestaltung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems ebenso wie die Außenpolitik eines Staates dessen innere Angelegenheit sind. In diese dürften sich andere Staaten weder politisch noch militärisch direkt oder indirekt einmischen.[3] Selbst schwere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen nicht automatisch die Permeabilität des Gewalt- und Interventionsverbots.

Die Tatsache, dass das jugoslawische Regime bis zum Frühjahr 1999 schwere Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beging, keine Demokratie war und diktatorisch regiert wurde berechtigte die NATO also nicht per se zur Gewaltanwendung (Loquai 2000, 68). Zu fragen ist daher, ob die Intensität der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo von der NATO als Rechtfertigungsgrund angeführt werden kann.

II. Stellung der Menschen­rechte im Völkerrecht

Die Menschenrechte haben in den letzten Jahrzehnten eine solche Kodifizierung erfahren, dass massenhafte und schwere Menschenrechtsverletzungen heute nicht mehr eine innere Angelegenheiten von Staaten sind. Sie verstoßen vielmehr gegen Völkerrecht. Daher befasst sich die UNO mit Menschenrechtsverletzungen, die die Kompetenz aus ihrer Charta herleitet. Die Art und Weise der Befassung unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Je schwerer die Menschenrechtsverletzung ist, desto durchgreifender muss die Reaktion der Staatengemeinschaft sein. Die menschenrechtliche Kompetenz der UNO hat in den letzten Jahrzehnten zu einer enormen Relativierung der staatlichen Souveränität geführt, die bis zum Interventionsrecht reicht. Bei einer solchen humanitären Intervention handelt es sich um das militärische Eingreifen in den Hoheitsbereich eines Staates, um dessen Staatsangehörige vor existentieller Bedrohung, insbesondere massiven Menschenrechtsverletzungen, zu schützen. Dabei ist es unerheblich, ob die Bedrohung vom Staat selbst ausgeht oder durch das Abgleiten eines Staates in die Anarchie entsteht (Greenwood 1993, 93).

Dass der UN-Sicherheitsrat die Kompetenz zur Einleitung einer humanitären Intervention hat, ergibt sich aus seiner Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens. Daraus leitet sich ab, dass er sich mit allen Situationen befassen kann, die den Frieden gefährden. Dabei muss es sich nicht ausschließlich um internationale Konflikte handeln. Auch die bedrohliche Lage innerhalb eines Staates, beispielsweise durch massenhafte Menschenrechtsverletzungen hervorgerufen, kann als objektive Bedrohung des Weltfriedens angesehen werden und ein Tätigwerden des Rates begründen. Jedoch liegt die Entscheidung über die Art und Weise der Befassung mit einem friedensgefährdenden Konflikt allein in der Kompetenz der Mitglieder des Sicherheitsrates.

Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hat sich der Sicherheitsrat für bedrohte Menschen mit aller Konsequenz — d. h. auch mit militärischen Mitteln — eingesetzt. Dies ist zweifellos ein historischer Durchbruch. Damit wurden Standards gesetzt, die verteidigt werden müssen (Gading 1996, 222). Eine Schlüsselrolle bei der Hinwendung der UNO zu humanitären Interventionen nimmt die Resolution 688 (1991) zur Notlage der irakischen Zivilbevölkerung ein, die die Reaktion des UN-Sicherheitsrats auf die Menschenrechtsverletzungen im Irak am Ende des Zweiten Golfkrieges darstellte. Der Rat wurde tätig, um das sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielende Flüchtlingsdrama der Kurden und die Verfolgung der Schiiten zu beenden. Damit begab sich der UN-Sicherheitsrat auf den Weg zur Befassung mit massenhaften und schweren Menschenrechtsverletzungen. Hinsichtlich Somalias, Bosniens, Haitis, Ruandas, Albaniens und Zaires wurde festgestellt, dass die dort begangenen Rechtsverletzungen eine friedensbedrohende Dimension hatten (Heintze 2001, 63). Die menschenrechtsschützende Praxis des UN-Sicherheitsrat ist zu würdigen, denn damit wurden dem völkerrechtlichen Menschenrechtschutz „Zähne” gegeben. Die UNO war nicht länger nur ein „bellender Hund” und bedrohte Menschen auf der ganzen Welt konnten grundsätzlich auf wirksame Hilfe hoffen.

III. Pflicht zur Humanitären Inter­ven­tion?

Wenn ein Interventionsrecht des UN-Sicherheitsrates konstatiert wird, so stellt sich die Frage, ob es auch eine Pflicht der UNO zur Intervention gibt. Dabei handelt es sich nicht um ein theoretisches Problem. Vielmehr haben sich die Staaten mit der UNO in einem System kollektiver Sicherheit zusammengefunden und sich verpflichtet, gemeinsam gegen Rechtsbrecher aufzutreten. Ein Rechtsgut, das dem Schutz dieses Systems unterliegt, sind die Menschenrechte. Folglich muss an sich, z. B. bei einem Völkermord, von einer Interventionspflicht der rechtstreuen Staaten ausgegangen werden (Schabas 2008, 189). Eine solche legalistische Betrachtungsweise scheitert aber an dem Umstand, dass es sich bei beim UN-Sicherheitsrat nicht um ein rechtliches, sondern um ein politisches Organ handelt. Da es keine objektiven Kriterien für das Vorliegen einer Friedensbedrohung gibt, bleibt es völlig dem Gutdünken des Rates vorbehalten, welche Situationen er als friedensbedrohend ansieht. Mehr noch, der Rat entscheidet letztlich selbst, mit welchen Situationen er sich wie beschäftigt. Folglich kann er auch in ähnlich gelagerten Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Es liegt auf dieser Linie, dass der UN-Sicherheitsrat hinsichtlich jedes einzelnen Einschreitens bei Menschenrechtsverletzungen unterstrich, es handle sich nicht um einen Präzedenzfall.

Eine Untersuchung der menschenrechtsrelevanten Entscheidungen belegt diese Haltung. Im Falle der Menschenrechtsverletzungen im Irak 1991 zog es der Rat vor, überhaupt nicht nach Kapitel VII der UN-Charta tätig 71 werden, Folglich findet sich hier auch kein Beleg für eine Interventionspflicht. Letztlich stellte der Rat außerhalb des Kapitel VII fest, bei den grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen aus dem Irak handle sich um eine regionale Friedensbedrohung. Anstatt weitere Maßnahmen anzudrohen, wurde die irakische Regierung lediglich aufgefordert, die Menschenrechte zu achten. Demgegenüber hat der Rat die Verweigerung der humanitären Hilfe innerhalb Somalias unter Kapitel VII zur Friedensbedrohung erklärt und militärische Zwangsmaßnahmen ergriffen.

Gleichwohl kann daraus nicht eine generelle Interventionspflicht bei humanitären Katastrophen abgeleitet werden, da der Rat sein Tätigwerden mit dem dringenden An-trag der Regierung Somalias („urgent calls from Somalia“) begründete und die Resolution 794 (1992) als absolute Ausnahme bezeichnete (Herbst 2000, 242). Bewertet man diese Argumentation des UN- Sicherheitsrates völkerrechtlich, so lag hier an sich keine humanitäre Intervention vor, denn schließlich wurde auf Wunsch der somalischen Regierung gehandelt. Es ist bezeichnend für die Zögerlichkeit des Rates, dass er zu dieser Begründung für das militärische Tätigwerden in Somalia griff: schließlich war allgemein bekannt, dass Somalia ein „failed state” war, in dem es keine effektive Regierung mehr gab.

Interessant im Hinblick auf eine Interventionspflicht war die Ruanda-Krise. Hier wurde nämlich gerade von afrikanischen Staaten — die zuvor zu den striktesten Interventionsgegnern gehörten – behauptet, die UNO habe eine Verpflichtung, sich um die ruandische Bevölkerung zu sorgen.[4] Dennoch wurde diese Einschätzung nicht umgesetzt, denn die Mitgliedsstaaten waren nicht bereit, Truppen für eine humanitäre Intervention bereitzustellen.

Die Beispiele belegen, dass es eine Pflicht zur humanitären Intervention bislang nicht gibt. Es lässt sich lediglich ein Interventionsrecht des Sicherheitsrates bei schweren Menschenrechtsverletzungen konstatieren, nicht aber eine Interventionspflicht. Die von Senghaas angenommene „Art Rechtspflicht” des Sicherheitsrates zur Intervention, die die Intervention nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten erscheinen lässt (Senghaas 1999, 136) ist weder als herrschende Auffassung der Völkerrechtswissenschaft noch als Staatenpraxis nachweisbar.

IV. Die NATO-­In­ter­ven­tion in Jugoslawien

Der Kosovo hat die Defizite bei der Durchsetzung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes deutlich gemacht. Unstrittig ist, dass die serbische Staatsmacht dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegenüber der albanischstämmigen Bevölkerung beging. Allerdings sind die Details umstritten. So wird von Politikern als Rechtsfertigung für die Intervention angeführt, dort habe ein Völkermordverbrechen stattgefunden. Dies ist ebenso zu hinterfragen wie die Rolle, die die UCK gespielt hat. Ihre Aktionen haben den serbischen Sicherheitskräften erhebliche Verluste beigebracht, was diese wiederum zu Überreaktionen veranlasste. Als es im Frühjahr 1998 zu einer bedenklichen Zuspitzung der Lage der albanischstämmigen Zivilbevölkerung im Kosovo kam, beschloss der UN-Sicherheitsrat mit seiner Res. 1160 (1998) — gestützt auf Kapitel VII der Charta — eine Aufforderung an Belgrad, eine politische Lösung des Problems anzustreben. Nach einer Verschärfung der Auseinandersetzungen wurde die Forderung nach Militärschlägen gegen Jugoslawien laut. Der UNO-Sicherheitsrat er-wies sich allerdings wegen der Haltung Russlands und Chinas als handlungsunfähig. Dies belegt offenkundig die praktischen — nicht die juristischen — Defizite bei der internationalen Durchsetzung von Menschenrechten.

Daraufhin erklärte die NATO, „unter diesen außergewöhnlichen Umständen” sei „die Drohung mit und gegebenenfalls der Einsatz von Gewalt durch die NATO gerechtfertigt.“[5] Da das „Gewaltmonopol” aber beim UNO-Sicherheitsrat liegt, ist eine Selbstmandatierung anderer Organisation rechtswidrig. Die NATO war der erstmalige „Nutzer” solcher politischer Denkkonzepte, indem sie am 24. März 1999 mit Luftangriffen auf das jugoslawische Territorium ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat begann. Damit ermangelte es eines völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrundes.

Selbst Autoren, die die NATO-Intervention letztlich befürworteten, anerkennen, dass der Einsatz „rechtlich als prekär angesehen werden musste.” Gleichwohl schließen sie daraus nicht auf eine Rechtswidrigkeit der Vorgehensweise. Vielmehr wird aus dem „Nichthandeln” des Rates die Möglichkeit der Rechtfertigung eines bewaffneten Eingreifens aus notstandsähnlichen Erwägungen abgeleitet (Frowein 2001, 898). Weiterhin wird aus dem Kosovo-Krieg gefolgert, dass das Gewaltmonopol der UNO „nicht mehr unangefochten gilt.” (Stein 2002, 21) Stattdessen werden Kriterien genannt, nach denen ein nicht-UN-autorisierter Gewalteinsatz in Zukunft möglich sein sollte. Im Zentrum steht dabei die Forderung, dass Sicherheitsrat und die Generalversammlung erfolglos angerufen und mit der Sache befasst worden sein müssen. Zudem muss es sich um schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen handeln und Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung versucht worden sein. Die Operation ist ferner auf das humanitäre Anliegen zu beschränken und muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgen. Schließlich sei nur eine Gruppe von Staaten, nicht aber eine Hegemonialmacht allein, zur Intervention berechtigt (Stein 2002, 32). Diese Kriterien sind bislang allerdings nur in der Literatur erwogen worden. Eingang in eine völkerrechtliche Vereinbarung haben sie noch nicht gefunden.

Die Bestrebungen, Kriterien für völkerrechtsgemäße humanitäre Interventionen aufzustellen, entspringen vor allem dem moralischen Dilemma, dass rechts treue Staaten auf schwerste Menschenrechtsverletzungen reagieren müssen und die betroffenen Menschen nicht ihrem Schicksal überlassen können. Gleichwohl stoßen diese Kriterien wiederum sehr schnell an politische und Machbarkeitsgrenzen. Das zeigte sich, als kurz nach der Kosovo-Intervention indonesische Milizen in Ost-Timor ein Blutbad anrichteten, um die Unabhängigkeit dieses Volkes zu verhindern. Hier ließ die humanitäre Intervention auf sich warten, weshalb sich wiederum erneut die Frage stellte, ob der Westen denn nicht auch bei den humanitären Interventionen Doppelstandards — je nach politischer Opportunität — anlegt (Sassoli 2000, 207).

V. Die „Respon­si­bi­lity to Protect” (R2P)

Zweifellos hat die NATO-Intervention zahlreiche völkerrechtliche Probleme aufgeworfen. Zugleich wurden Denkanstöße gegeben. So fragte der ITN- Generalsekretär auf dem Millenniums-Gipfels der Vereinten Nationen, wie auf Menschenrechtsverletzungen vom Schlage des Völkermords in Ruanda und des Massakers in Srebenica zu antworten sei, wenn humanitäre Interventionen aus Rücksicht auf die staatliche Souveränität nicht zulässig seien. Eine Antwort versuchte die „Internationale Kommission zur Intervention und Staatensouveränität” (ICISS) zu geben, deren umfangreicher Bericht 2001 vom kanadischen Außenministerium vorgelegt wurde (Williams 2002, 10). Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass sich eine Theorie und Praxis der humanitären Interventionen herauszubilden beginne, deren rechtliche Grundlage letztlich eine Verpflichtung sei, bedrängten Menschen Schutz zu gewähren. Dieser Gedanke der Schutzgewährung liege dem individualschützenden Völkerrecht zugrunde. So verpflichtet das humanitäre Völkerrecht die am bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien, Nichtkombattanten zu schützen. Das Flüchtlingsrecht ermächtigt den IJNHCR, für den Schutz der Flüchtlinge einzutreten. Die Idee der Schutzverpflichtung ist somit nicht neu. Offen bleibt allerdings die Frage, wie der Schutz durchgesetzt werden kann und ob er gar zu erzwingen ist. Darauf gibt das Völkerrecht bislang keine Antwort. Es bleibt folglich lediglich der Weg über den UN-Sicherheitsrat und über die Feststellung einer Friedensbedrohung. Nur dann ist eine humanitäre Intervention gerechtfertigt. Auch der Kosovo-Krieg hat bislang nicht zur Entstehung neuer: Völkerrechtsnormen geführt.

Zu bedenken ist weiterhin, dass die humanitäre Intervention nicht dazu in der Lage ist, den Konflikt tatsächlich langfristig zu lösen. Die humanitäre Intervention hat nämlich nur eine „trügerische Faszination” (Hilpold 1999, 157). Kosovo und Osttimor zeigen, dass der Wiederaufbau einer friedlichen Post-Konflikt-Gesellschaft außerordentlich aufwendig ist und eine Kraftanstrengung der gesamten Staatengemeinschaft erfordert (Bothe/Marauhn 2000, 156). Schlussendlich landen die Probleme krisengeschüttelter und von Konflikten betroffener Gesellschaften dann doch wieder bei der UNO, weshalb sie auch bei der Entscheidung zu einer humanitären Intervention das Sagen haben muss.

Die Empfehlungen der ICISS wurden im Jahr 2001 veröffentlicht. Sie betrachten die staatliche Souveränität in einem anderen Licht, sie wird als Instrument zum Schutz der Bevölkerung verstanden. Staaten, die schwerste Menschenrechtsverletzungen dulden oder begehen, können sich nicht hinter dem Schutzschild Souveränität verstecken. Solche Verbrechen werden in einen internationalen Zusammenhang gestellt. Dann nämlich, wenn ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, seine Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, geht die Verpflichtung zum Schutz auf die anderen Mitglieder der internationalen Gemeinschaft über. Mit dem Übergang dieser Verantwortung zum Schutz an die anderen Mitglieder der internationalen Gemeinschaft — und damit zumindest einer teilweisen und temporären Einschränkung der Souveränität des betroffenen Staates — soll der Staat dazu gebracht werden, sich wieder völkerrechtskonform zu verhalten. Macht sich ein Staat schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, so hat die internationale Gemeinschaft nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zu intervenieren.

Die R2P umgeht ausdrücklich nicht den kontroversen Begriff der humanitären Intervention, revolutioniert aber dennoch die Interpretation der völkerrechtlichen Pflichtenlage, denn sie gibt den Menschenrechten im Konflikt Vorrang vor dem Rechtsgut der staatlichen Souveränität. Doch diese Herangehensweise ist in erster Linie ein rechtstheoretisches Problem. Von praktischer Bedeutung ist demgegenüber, dass sich die R2P nicht lediglich auf die (möglicherweise militärische) Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen beschränkt. Vielmehr umfasst das Konzept auch die Bereiche der Prävention („Responsibility to Prevent“), der Reaktion („Responsibility to React“) und des Wiederaufbaus („Responsibility to Rebuild“). Die Schutzverantwortung wird damit als Prozess verstanden, der die militärische Intervention dann vorsieht, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden.

Das Konzept der R2P Expertengruppe fand schließlich Eingang in die UN-Dokumente des UN-Generalsekretärs und in den Abschlussbericht des UN-Weltgipfels im September 2005. Ausdrücklich wird darin festgestellt, dass zwar die Regierungen für den Schutz ihrer Bevölkerungen verantwortlich sind. Falls sie aber nicht willens oder nicht in der Lage sind, ihrer Verantwortung nachzukommen, geht diese Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Sie soll mit friedlichen Mitteln die Bevölkerung schützen. Auch in Sicherheitsratsresolutionen finden sich Bezüge auf das Konzept, so in der Resolution „Protection of civilians in armed conflict“[6] und den Resolutionen zur Entsendung von UN-Friedenstruppen nach Darfur.[7] Selbst in der Libyen-Resolution von 2011 wird die R2P genannt.[8]

VI. Darf oder muss Gewalt angewendet werden?

Die R2P zielt darauf ab, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Sollte dies nicht möglich sein, so sind durch die internationale Gemeinschaft nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen gegen den Verursacherstaat der Rechtsverletzungen zu ergreifen. Sind diese erfolglos, so ist als ultima ratio auch eine militärische Intervention zum Schutz der Bevölkerung vorgesehen. Als erstes Kriterium für die Anwendung von Waffengewalt nennt die R2P daher, dass die Gewalt das letzte Mittel (last resort) der Einwirkung auf den Rechtsverletzer ist. Als zweites Kriterium wird der gerechte Grund für die Intervention genannt (just cause). Voraussetzung ist demnach eine akute Bedrohung des Lebens einer großen Anzahl von Menschen oder eine ethnische Säuberung und die Unwilligkeit oder Unfähigkeit des Staates, dagegen vorzugehen. Das dritte Kriterium ist die aufrichtige Absicht der intervenierenden Staaten (right intention). Das ausschließlich Ziel muss die Überwindung der Leiden der Menschen sein. Die Herbeiführung des Sturzes einer Regierung ist grundsätzlich kein legitimes Ziel der R2P. Um die aufrichte Absicht der militärischen Intervention deutlich zu machen, ist ein multilaterales Vorgehen anzustreben. Das vierte Kriterium ist die Verhältnismäßigkeit (proportional means) des Vorgehens anzuführen. Demnach darf der Umfang, die Dauer und Intensität des Eingriffs nicht über das Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung hinausgehen. Das fünfte Kriterium umfasst die Forderung nach vernünftigen Erfolgsaussichten (reasonable prospects) der militärischen Intervention. Demnach ist von solchen Maßnahmen abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass sich die Lage der Bevölkerung nach der Intervention verschlechtert.

Die Kriterien klingen vernünftig und sind nachvollziehbar. Allerdings werfen sie die Frage auf, von wem und wie die Nachweise für die infrage stehenden Verbrechen, die den Einsatz militärischer Gewalt legitimieren würden, erbracht werden können. Aber selbst wenn es eindeutige Beweise gäbe, so ist die Entscheidung über einen Einsatz immer noch abhängig vom politischen Willen. Das machte der Irak-Krieg der USA 2003 offenkundig. Hier gab es hinreichende Erkenntnisse darüber, dass der Irak 2003 nicht mehr über Massenvernichtungswaffen verfügte, was durch die satellitengestützte und Luftaufklärung wie durch die Vor-Ort-Kontrollen des Leiters der UN-Rüstungskontrollkommission Hans Blix bestätigt wurde. Dennoch setzten sich die USA und Großbritannien über die Beweise hinweg und arbeiteten mit Lügen (Ehrenberg 2010, 147). Letztlich ist somit die politische Instanz, die die Entscheidung über den Einsatz trifft, gefragt. Sie wird in der R2P adressiert, indem das Kriterium der „right authority” angeprochen wird. Entsprechend dem völkerrechtlichen Gewaltmonopol beim UN-Sicherheitsrat muss jeder Einsatz militärischer Gewalt durch den Sicherheitsrat legitimiert werden. Freilich zeigt sich in der Praxis, dass der Sicherheitsrat entgegen seinem Mandat oftmals politisch blockiert ist. Das hat in der Vergangenheit im Falle Koreas 1950 dazu geführt, dass sich auf der Grundlage der Resolution „Uniting for Peace” die UN-Generalversammlung mit dem Problem beschäftige und Empfehlungen aussprach. Freilich sind derartige Resolutionen nicht verbindlich und ermächtigen nicht zur Anwendung von Gewalt. Denkbar wäre auch ein Tätigwerden der Regionalorganisationen nach Kapitel VIII der UN-Charta, die allerdings nachträglich die Zustimmung des Sicherheitsrats anfordern müssten. So gingen der UN-mandatierten humanitären Intervention 1994 in Haiti zahlreiche Debatten und Beschlüsse der OAS voraus.

Freilich gefährdet die durch die R2P angestrebte Legalisierung der Gewaltanwendung zugunsten des Menschenrechtsschutzes das strikte völkerrechtliche Gewaltverbot, so dass vielfach befürchtet wird, dieses Instrument könne für politische Zwecke missbraucht werden. Insbesondere Entwicklungsländer befürchten dies, während China und Russland am Souveränitätsdogma festhalten. Notwendig ist angesichts dieser divergierenden Auffassungen eine weitere Diskussion dieses Konzepts, um zu verhindern, dass die Völkerrechtsordnung immer weiter in unterschiedliche Rechtskreise zerfällt. Das Beispiel des Kosovo, wo auch zwei Jahre nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung immer noch kein Konsens über den Status herbeigeführt wurde, ist symbolisch für die Zerbröselung der Völkerrechtsordnung durch die Unfähigkeit der Großmächte zur Akzeptanz eines Kompromisses. Das Menschenrechtsthema, die Abwendung von völkerrechtlichen Verbrechen an unschuldigen Menschen, ist zu wichtig, als dass man es politischen Ränkespielen überlassen könnte. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die R2P immer deutlichere – auch völkerrechtliche Gestalt annimmt, obwohl es sich nach wie vor um ein politisches Konzept handelt. Zu dieser Fortentwicklung kommt es vor allem durch den Umstand, dass der UN-Generalsekretär regelmäßige Berichte über die „Umsetzung der Schutzverantwortung” vorlegt. Damit ergeht es den Ergebnissen des Millenniumsgipfels anders als sonstigen Resolutionen der UN-Generalversammlung, die oftmals direkt ins Grab der ungelesenen Dokumente wandern. Der jüngste Bericht[9] ist aufschlussreich und zeigt, dass das Konzept weiterhin große internationale Aufmerksamkeit genießt.

[1] Spiegel online vom 10.3.2011 (www. Spiegel.de, letzter Zugriff am 14.3.2011).

[2] UN-Doc. A/2625 [XXV].

[3] Case concerning Militaiy an Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Reports 1986, S. 14

[4] So Nigeria in UN-Doc. S/PV.3368, S. 3.

[5] In: Internationale Politik, Nr. S/1999, S. 91 f.

[6] UN-Doc. S/1674 (2006).

[7] UN-Doc. S/1706 (2006) S/1755 (2007).

[8] UN-Doc. S/1979 (2011).

[9] UN-Doc. A/63/677.

Literatur

Michael Bothe/Thilo Marauhn 2000: The United Nations in Kosovo and East Timor — Problems of a Trusteeship Administration, in: International Peacekeeping, S. 156-165.

Jochen Frowein 2001: Der Stellenwert des Völkerrechts in internationalen Konflikten, Hamburg.

Heike Gading 1996: Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates — das Ende staatlicher Souveränität?, Berlin.

Christopher Greenwood 1993: Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Europa Archiv, 5. 80-100.

Hans-Joachim Heintze 2001: Wann darf und muss die Staatengemeinschaft intervenieren?, in: Jörg Calließ (Hrsg.) Vom Gebrauch des „traurigen Notmittels” Krieg, Loccum 2001, S. 63-80.

Jochen Herbst 2000 Rechtskontrolle des tJN-Sicherheitsrates, Frankfurt/M.

Peter Hilpold 1999: Auf der Suche nach Instrumenten zur Lösung des Kosovo-Konfliktes: Die trügerische Faszination von Sezession und humanitärer Intervention, in: Joseph Marko (Hrsg.), Gordischer Knoten Kosovo/a: Durchschlagen oder entwirren? Baden-Baden, S. 157-180.

Heinz Loquai 2000: Der Kosovo-Konflikt — Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden.

Marco Sassoli 2000: The legal qualification of the conflicts in former Yugolavia: double standards or new horizons for international humanitarian law, in: S. Yee/W. Tieya/H. Li (Hrsg.) International Law and the Post-Cold War World: Essays in Memory of Li Haopei (Routledge Studies in International Law), New York, S. 207-230.

William A. Schabas 2008: „Die verabscheuungswürdige Geißel”: Völkermord, 60 Jahre danach, in: Gerd Hankel (Hg.), Die Macht und das Recht, Hamburg, S. 189-200.

Dieter Senghaas 1999: Der Grenzfall: Weltrechtsordnung vs. Rowdystaaten, Sicherheit und Frieden 3/1999, S. 136-140.

Thorsten Stein 2002: Welche Lehren sind aus dem Eingriff der NATO im Kosovo zu ziehen?, in: Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Eingriff in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zum Zwecke des Menschenrechtsschutzes, Heidelberg, S. 21-35.

Christian Tomuschat 2002: (ed.), Kosovo and the International Community — A Legal Assessment, The Hague.

Christian Tomuschat 2002: Menschenrechtsschutz und innere Angelegenheiten, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Eingriff in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zum Zwecke des Menschenrechtsschutzes, Heidelberg, S. 7-17.

Jan Williams 2002: Nur das letzte Mittel, in: Vereinte Nationen 2002, S. 10-14.

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