Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 197: Die rechte Gefahr

Das regressive Menschen­opfer

Vom eigentlichen Skandalon des gegenwärtigen Terrorismus

aus: vorgänge 197 ( Heft 1/2012) , S.116-129

Die Rede von „Selbstmordanschlag“ und „Selbstmordattentäter“ in Politik, Medien und Alltagssprache führt in die Irre. Hinter den vordergründigen „Tätern“, die wir verachten und verdammen, verbergen sich die eigentlichen Täter, die nicht nur Menschen töten, sondern Menschen opfern. Wenn wir unser Augenmerk vom Schrecken erregenden Subjekt auf die Menschen verachtende Praxis verlagern, so können wir das, was unser postheroisches Sicherheitsbefinden von Grund auf erschüttert, sachlich korrekter ausdrücken: Wir haben es mit „Opferanschlag“ und „Opferattentäter“ zu tun. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei das ökonomische Denken, das unter allzu mechanischer Anwendung die Freiheit und Würde des Menschen untergräbt. Der Sichtwechsel vom „Selbstmordattentäter“ zum „Opferattentäter“ kann ein erster Schritt dazu sein, auf eine Zukunft hinzuarbeiten, in der der Mensch mit seiner Freiheit und Würde im Zentrum allen ökonomischen Denkens steht.

I. Das Wort, die Aussage und die Wirkung

Zum Unwort des Jahres 2001 wurde in Deutschland das Wort „Gotteskrieger“ gewählt. In der Begründung wurde auf den unkritischen Gebrauch des Wortes hingewiesen, der die Distanz zum pseudoreligiösen Anspruch des Wortes, das der Rhetorik der Islamisten entstammt, vermissen lasse.[1] Der eigentliche Missgriff liege dabei, wie durchaus richtig bemerkt wird, nicht in der semantischen Aussage des Wortes, sondern in der mangelnden Distanz des Sprechers zu derselben. Eine solche Distanz lässt sich leicht erzeugen, indem man das Wort in Anführungszeichen setzt; semantisch vermittelt die Formulierung weder Unangemessenes noch Unwahres: Die Geschichte der Menschheit ist voller Kriege, die im Namen Gottes geführt wurden, und die Heldengalerien der Nationen sind voller Krieger, die sich auf Götter beriefen. Weitaus problematischer indes erscheinen jene Ausdrücke, die mittlerweile zum soliden Bestand nicht nur des journalistischen, sondern auch des wissenschaftlichen Vokabulars gehören, ohne in der Sache gründlich hinterfragt zu werden: Selbstmordanschlag,Selbstmordattentat,Selbstmordattentäter. Drehen wir die Zeit um einige Jahre zurück zu unserem Alltag 2008, 2009, 2010: Wir wundern uns kaum mehr darüber, wenn Primetime-TV-Nachrichten mit Sätzen eröffnet werden wie: „Bei einem Selbstmordanschlag auf einem Markt in Peschawar kamen 49 Menschen ums Leben“, oder: „Ein Selbstmordattentäter sprengte sich im Osten Afghanistans neben einem US-Militärkonvoi in die Luft und riss mindestens 21 Menschen mit in den Tod“. Es ist beinahe zur Routine geworden, beim Vernehmen solcher Nachrichten kurz Abscheu und Schrecken zu empfinden, etwas Wut und Empörung zu verspüren und dann unser Leben im Geleise der Gewohnheit weiterzuführen. Dabei richtet sich unsere zeitweilige Gefühlsregung, womöglich verstärkt durch unseren unbewussten vormodernen Reflex auf die inkriminierte Semantik des Terminus „Selbstmord“, primär, wenn nicht ganz und gar, gegen die Täter – diese unmenschlichen, infernalischen Verbrecher, die eine solch verabscheuungswürdige Tat begangen haben. Wir verachten und verdammen diese Menschen, als hätten wir vergessen: Diese Menschen sind tot. Sie sind durch die Explosion zerstückelt und ihre Körperteile in alle Winde zerstreut. Und wir verdammen diese Menschen, deren Existenz ein für alle Mal ausgelöscht ist, während irgendwo andere Menschen triumphieren und die Operation als Erfolg verbuchen.

Danach folgt das Jahr 2011: Unmittelbar nach der Liquidierung von Usama bin Ladin durch US-Spezialeinheiten in der Nacht zum 2. Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad sieht sich das öffentliche Bewusstsein für Terrorgefahr plötzlich wieder stärker herausgefordert. Regierungen warnen vor islamistischen Racheakten, Politiker fordern eine erhöhte Sicherheitsstufe, und als besondere Bedrohung gelten mögliche Terroranschläge durch Selbstmordattentäter. Auch hier fällt dieses suggestionsreiche Wort – seiner Aussage und seiner Wirkung absolut bewusst. Die befürchteten Szenarien bleiben weitestgehend aus, doch die alarmierende Rhetorik hinterlässt ihre Spuren. Am 18. Dezember 2011 verlassen die letzten US-Kampftruppen nach über 100-monatiger Besetzung den Irak. Nur vier Tage später wird die irakische Hauptstadt Bagdad von einer schweren Anschlagsserie erschüttert. Man zählt mindestens 69 Tote und über 169 Verletzte. Zum Einsatz kamen dabei, nach Angaben aus Sicherheitskreisen, Autobomben und Selbstmordattentäter – wieder dieses merkwürdige Wesen, das uns in Unruhe und Schrecken versetzt, das andere und sich selbst in einem Atemzug vernichtet. Wie abscheulich. Wie unfassbar. Wie widersinnig.

Die Benennung „Selbstmordattentäter“ erweckt den Anschein, als wären die Benannten mehr oder weniger selbstständig Handelnde; sie verdeckt oder zumindest verzerrt die Tatsache, dass die Benannten vielmehr Marionetten sind und die weitaus schwerer wiegenden Verbrechen von ihren Drahtziehern begangen werden, die nicht nur Menschen töten, sondern Menschen opfern.[2]

Georges Danton in Georg Büchners Drama Dantons Tod (1835), gequält von dem Gedanken an die Septembermorde von 1792, versucht im Gespräch mit seiner Gattin Julie sein Gewissen zu beruhigen, indem er sich rhetorisch einredet: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen“.[3] Bei den so genannten Selbstmordattentätern ist es keine rhetorische Angelegenheit.Weder Mächte des Schicksals noch unsichtbare Hände steuern sie, sondern reale Menschen, die sie als Einwegwaffe benutzen und selbst im Hintergrund bleiben. Solange wir vom „Selbstmordattentäter“ sprechen, bleibt dieser Hintergrund weiter im Hintergrund. Und solange wir vom „Selbstmordattentäter“ sprechen, verurteilen wir in erster Linie den Selbstmord und das Attentat, nicht aber das, was in größerem Zusammenhang himmelschreiend vor sich geht: das Menschenopfer.

Montesquieu hat zu einer noch recht abergläubischen Zeit, im frühen 18. Jahrhundert, den Umgang der europäischen Gesetze – und damit auch der Gesellschaft – mit den Selbstmördern vorsichtig kritisiert. In seinem satirischen Werk Lettres persanes [1721) schreibt der fiktive Perser Usbek aus Paris an seinen Freund Ibben zu Smyrna, dem heutigen Ðzmir, ohne Umschweife: „Les loix sont furieuses en Europe contre ceux qui se tuent eux-même. On les fait mourir, pour ainsi dire, une seconde fois; il sont traînés indignement par les rues; on les note d’infamie; on confisque leurs biens. Il me paroît, Ibben, que ces lois sont bien injustes“.[4]

Wollen wir diesen atavistischen Fehler mit dem Ausdruck „Selbstmordattentäter“ wiederholen und im Wortgebrauch allein die Toten stigmatisieren? Halten wir noch einmal fest: Solange wir den Ausdruck „Selbstmordattentäter“ verwenden, verurteilen wir vordergründig die, die manipuliert und missbraucht werden, anstelle derer, die andere in den Tod schicken und selbst am Leben bleiben. Wir schrecken zurück vor der Perversion einer massenvernichtenden Selbstsprengung, und sehen nicht die Perfidie eines in modernem Gewand wiedergekehrten Menschenopfers. Hier werden Menschen geopfert, wie in einem archaischen Ritus – das ist das eigentliche Skandalon.

Der vorliegende Beitrag schlägt vor, nicht von „Selbstmordanschlag“ und „Selbstmordattentäter“, sondern von „Opferanschlag“ und „Opferattentäter“ zu sprechen. Er plädiert dafür, dass anstatt von
suicide terrorism von sacrifice terrorism  die Rede sei [5] . Damit wird das, was unser postheroisches Sicherheitsbefinden von Grund auf erschüttert, sachlich korrekter ausgedrückt. Zur Debatte stehen soll weniger das Schrecken erregende Subjekt als vielmehr die Menschen verachtende Praxis.

II. Der Krieg und das Menschen­opfer

Wie hat diese Praxis der Objektifizierung des Menschen aus den primitiven Opferritualen den Weg in die modernen Kriegsschauplätze gefunden? Begonnen hat dieser regressive Prozess weder mit den islamistischen Selbstmordanschlägen noch mit den japanischen Kamikaze-Angriffen, sondern mit der Erfindung des organisierten Krieges überhaupt. Das chinesische Altertum kannte Begriffe wie si-shi (Todessoldaten) oder jia-shun (Panzer [und] Schilde) als Bezeichnung für die Infanteriesoldaten in vorderster Schlachtfront;[6] der Ausdruck „foode for powder“[7] aus dem ersten Teil von Shakespeares
Henry IV (1598/1600) hat auch im deutschsprachigen Raum als „Kanonenfutter“ Geschichte geschrieben.

In Zeiten, da Sklaven-wie Soldatenhandel mit Selbstverständlichkeit betrieben wurden und die Würde des Menschen kaum politische Relevanz besaß, erübrigte sich die Frage, ob die einen Menschen für die anderen oder für den Sieg des Kollektivs geopfert werden dürften. Diese Frage stellt sich aber in Europa auch nicht sogleich im Anschluss
an die Erklärung der Menschenrechte und die Verurteilung der Sklaverei im Zuge des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Französischen Revolution. Spätestens seit dem Anfang vom Ende des Osmanischen Reiches nach dem Großen Türkenkrieg
(1683–1699) haben die westlichen Nationen ihre Vormachtstellung gegenüber den anderen Nationen, sowohl in militärischer als auch in finanzieller Hinsicht, Schritt für Schritt ausgebaut. Das bedeutet, bei Expeditionen oder ähnlichen Zwecken stand ihnen häufig genügend fremdes Menschenmaterial zur Verfügung. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Napoleon in seinen Feldzügen u. a. gegen Ägypten (1798–1801), Spanien (1808–1809) und Belgien (1815) Kompanien von Mamluken einsetzte und Thomas Edward Lawrence während der Arabischen Revolte (1916–1918) sich überlegte, die Araber für die Engländer zu opfern,[8] so können wir uns unschwer vorstellen, wie wenig ethische Restriktionen im Spiel waren, solange es um den Einsatz von erworbenen Militärsklaven oder fremden Soldaten ging. Diese durften, im imperialen oder kolonialen Interesse, ohne Probleme in den sicheren Tod geschickt werden.

Was geschah hingegen mit eigenen Soldaten? In den heftigsten Phasen des Stellungskrieges während des Ersten Weltkrieges kam ein einziger Schritt aus dem Schützengraben einem Suizid gleich. Um den Krieg dennoch offensiv weiterzuführen, waren besondere Mittel notwendig, die den Überlebensinstinkt und den Selbsterhaltungswillen der Soldaten systematisch zu dämpfen vermochten. Der britische Historiker Niall Ferguson schreibt in seinem Buch The Pity of War (1998) dazu: „Without alcohol, and perhaps without tobacco, the First World War could not have been fought“.[9]

Doch wenn auch der Krieg nicht ohne Alkohol gekämpft werden konnte, so konnte im Krieg ohne Alkohol gestorben werden. Was in Erich Maria Remarques historischem Bestseller Im Westen nichts Neues (1928/1929) wie ein leichtsinniges massenhaftes  Selbstopfer klingt, ist in größerem Zusammenhang ein Menschenopfer sondergleichen: „Unsere frischen Truppen sind blutarme, erholungsbedürftige Knaben, die keinen Tornister tragen können, aber zu sterben wissen. Zu Tausenden. Sie verstehen nichts vom Kriege, sie gehen nur vor und lassen sich abschießen. Ein einziger Flieger knallte aus zwei Kompanien von ihnen weg, ehe sie etwas von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen“.[10]

Wo die materielle Unterlegenheit alle Verzweiflung übersteigt und der ideologische Eifer an blinden Idealismus grenzt, macht das regressive Menschenopfer, mitten in Europa, auch vor Kindern nicht Halt. George Orwell, der sich während des Spanischen Bürgerkrieges (1936–1939) der POUM-Miliz[11] anschloss, war, wie er sich in Homage to Catalonia (1938) erinnert, über den eklatanten Mangel an Bedenken gegen das Einsetzen – und damit das Opfern – von Kindern im Alter von höchstens 16 Jahren durch die Miliz aufs Tiefste erstaunt: „[…] this mob of eager children, who were going to be thrown into the front line in a few days’ time, were not even taught how to fire a rifle or pull the pin out of a bomb“.[12]

Orwell berichtet zudem von einer berüchtigten Handgranate, die seine Kameraden an der Front damals in Gebrauch hatten: „The bomb in use at this time was a frightful object known as the ‚FAI bomb‘,[13] it having been produced by the Anarchists in the early days of the war. It was on the principle of a Mills bomb, but the lever was held down not by a pin but a piece of tape. You broke the tape and then got rid of the bomb with the utmost possible speed. It was said of these bombs that they were ‚impartial‘; they killed the man they were thrown at and the man who threw them“.[14]

Ein ähnliches Menschenopfer auf dem Schlachtfeld sollte knapp ein halbes Jahrhundert später, in einem ungeheuerlichen Ausmaß, im iranisch-irakischen Grenzgebiet stattfinden. Anfang der 1980er Jahre liefen dort Zehntausende von iranischen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren gegen die irakischen Stellungen und wurden mit Maschinengewehren reihenweise niedergemäht. Sie trugen je einen Schlüssel um den Hals gebunden, der ihnen nach dem Tod die Pforte des Paradieses aufschließen sollte. Anfangs bestand der Schlüssel aus Eisen, danach nur noch aus Plastik[15] – denn Eisen war knapp und teuer geworden im Iran-Irak-Krieg (1980 1988), in dem beide Kriegsparteien auf systematische Waffenlieferungen aus dem Ausland angewiesen waren. Aus einigen Nationen wurden an beide Länder Waffen verkauft – u. a. aus Jugoslawien,der Sowjetunion und den USA.

Die Waffen hatten ihre Preise. Auch die Plastikschlüssel hatten ihre Preise; das Regime von Ayatollah Khomaini importierte 500 000 Stück davon aus Taiwan.16 Hatten die Menschen keine Preise? Sklaven zu todesverachtenden Kampfmaschinen dressieren,  das war gestern; heute werden freie Menschen, darunter Kinder, Jugendliche und Frauen, von terroristischen Vereinigungen als wirkungsmächtige Kriegsinstrumente gebraucht, verbraucht und – auf diesen Punkt wird noch zu kommen sein – gehandelt. Ob dies allein über die Wege des ideologischen Eifers oder des religiösen Fanatismus, d. h.über die Handelswege des Geistes, vonstatten geht, darf mit guten Gründen gezweifelt werden.

Am 1. Februar 2008 werden bei einem al-Qa.ida-Doppelanschlag auf zwei belebten Märkten in Bagdad mindestens 98 Menschen getötet und 200 weitere verletzt. Nach Angaben der Sicherheitskräfte handelte es sich bei den Attentätern um zwei geistig gestörte Frauen. Die Sprengsätze, die die Frauen an den Körper geschnallt zum Zielort jeweils ins Zentrum und in den Südosten der irakischen Hauptstadt trugen, detonierten, in Abstand von etwa 20 Minuten, per Fernzünder. Wer die Nachrichten über terroristische Anschläge aus einem differenzierten Blickwinkel verfolgt und sich nicht durch den inflationären Gebrauch des Wortes „Selbstmordanschlag“ beirren lässt, weiß: Es ist beileibe kein Einzelfall. Im Gegenteil: Es passt in ein probates Muster.

Der US-amerikanische Terrorismusexperte Bruce Hoffman zitiert in seinem Artikel The Logic of Suicide Terrorism in der Zeitschrift The Atlantic vom Juni 2003 einen israelischen Polizeibeamten, der ihm von den Taktiken der Hamas, des Islamischen Jihadn Palästina und der al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden berichtet: „There was one event where a suicide bomber had been told all he had to do was to carry the bomb and plant explosives in a certain place. But the bomb was remote-control detonated“.17 Die Alltagssprache nennt hier den um sein Leben betrogenen Attentäter ohne weiteres einen „suicide bomber“. Es war ein Bombenanschlag, ein Massenmord, daran besteht überhaupt kein Zweifel – doch ein Suizid war es mitnichten.

Solche Anschläge gewähren einen Einblick in die operationale Struktur der terroristischen Vereinigungen. Ein weiterer Polizeibeamter erklärt Hoffman: „We hardly never find that the suicide bomber came by himself. […] There is always a handler“.[18] Hoffman fügt hinzu: „In fact, in some cases a handler has used a cell phone or other device to trigger the blast from a distance“.[19] Eine Bombe mit Fernzünder also: Aber diese Bombe ist ein Mensch. Welche Interessen begleiten diese Vorgänge? Politische Interessen? Religiöse Interessen? Wie steht es mit ökonomischen Interessen?

III. Die Handelswege des Geldes

Ein Kommandeur der Hamas verkündete 2008 in einem Interview: „We don’t have tanks. We don’t have planes. We are street fighters and we will use our own ways“.[20] Über diese Wege werden Menschen als erhabene Märtyrer-Kandidaten rekrutiert und als nützliche Einwegwaffen verwendet. Doch wer den Einsatz von menschlichen Bomben zu kriegerischen oder terroristischen Zwecken als irrational und allen menschlichen Gesetzen zuwiderlaufend empfindet, irrt sich in einem wesentlichen Punkt. Terrorismusforscher haben länger vor dem 11. September 2001 darauf hingewiesen, dass die Strategie der terroristischenVereinigungen, das Leben ihrer Mitglieder für die Vernichtung ihrer deklarierten Feinde zu opfern, einen „rationalen Kern“[21] beinhaltet. Eine Reihe von Faktoren macht diesen Kern aus: Man braucht z. B. keinen Verrat zu befürchten, und es müssen keine Fluchtwege gesichert werden,[22] da die Attentäter weder gefangen werden noch zurückkehren sollen. Der mit Blick auf eine mittel-bis langfristige Kriegführung Ausschlag gebendste Faktor ist die Wirtschaftlichkeit. Ein Opferanschlag bietet im Vergleich zu einer Operation mit konventionellen Waffen entscheidende Vorteile: Es kostet wesentlich weniger, seine Wirkung ist substanziell wie psychologisch um ein Vielfaches stärker, und die zu erwartende Aufmerksamkeit der Medien wird unvergleichlich größer.

Der finanzielle Aufwand für einen typischen Opferanschlag von palästinensischen Terrororganisationen liegt bei etwa 150 Dollar[23] – zuzüglich des Preises eines Lebens. Das M24 Sniper Weapon System hingegen – das Standard-Scharfschützengewehr der israelischen Armee – kostet nicht weniger als 4000 Dollar pro Stück. Die KostenNutzen-Effizienz geht hier – wie auch in vielen anderen Bereichen, aber mit einer nachgerade grotesken Evidenz – vor der Würde des Menschen und vor dem Recht auf Leben.Erst die Ware, dann das Geld; erst die Waffe, dann der Mensch. So läuft es im Geschäft.

Bertolt Brecht hat in einem seiner umstrittensten Stücke, Die Maßnahme (1930/1931), ebendiese ökonomischen Tücken des asymmetrischen Kampfes im Kontext der revolutionären Bestrebungen plakativ dargestellt. Internationale kommunistische Agitatoren unterbreiten einem reichen chinesischen Händler den Vorschlag, die ausgebeuteten Kulis gegen die herrschenden Engländer zu bewaffnen. Der Händler wägt vorsichtig die Vor-und Nachteile des angebotenen Geschäftes ab und singt dabei den „Song von der Ware“. Der geringfügig variierende Refrain stellt in der dritten Strophe die Frage nach dem Menschen:

Was ist eigentlich ein Mensch?
Weiß ich, was ein Mensch ist?
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.[24]

Dem Händler ist es bewusst: Was er als Waffengeschäft betreibt, ist im Grunde ein Menschengeschäft. Die von den Engländern verhängten Zölle auf seine Handelsgüter bereiten ihm Ärger und Unmut. Er muss sich zwischen zwei Geschäftsoptionen entscheiden: entweder sich mit den Zollabgaben abfinden und dafür die Preise seiner Güter drastisch erhöhen, oder aber in die Waffen für das revolutionäre Unterfangen investieren und auf eine Verbesserung der Handelsbedingungen hoffen. In jedem Fall geht es ihm um die Frage, welche Option für seine Geschäfte profitabler ist; dass darin Menschen involviert sind, indem sie entweder unter exorbitanten Lebensmittelpreisen und
unmenschlichen Arbeitsbedingungen leiden oder vor den Gewehrläufen der englischen Armee massenweise umkommen werden, ist für ihn, wenn überhaupt, von minderer Bedeutung.

Viele große Terroranschläge, allen voran die vom 11. September 2001, haben sich im Lichte der Kosten-Nutzen-Relation als hoch profitabel erwiesen. Die gesamte Operation vom 11. September 2001 kostete al-Qa.ida schätzungsweise 400 000 bis 500 000 Dollar; die dadurch ausgelösten Auswirkungen auf die US-amerikanische Wirtschaft, inklusive der Ausgaben für Militäreinsätze und Verschärfung der Sicherheit, beliefen sich, einer Schätzung des Royal Institute of International Affairs zufolge, innerhalb von drei Jahren auf insgesamt mindestens 500 Milliarden Dollar.[25] Das heißt, nach den Worten von bin Ladin in einer Videobotschaft vom 29. Oktober 2004: Jeder von al-Qa.ida in die Terroranschläge investierte Dollar habe „mit Allahs Erlaubnis eine Million Dollar vernichtet“.[26]

Es nimmt nicht wunder, wenn solche attraktiven Geschäfte immer wieder Investoren anziehen. So werden die Geschäfte im Opferterrorismus nicht nur über die Handelswege des Geistes, sondern auch über die Handelswege des Geldes abgewickelt. Die Hamas
etwa zahlte den Familien von Opferattentätern bis in den Beginn der al-Aqsa-Intifada (2000–2005) hinein eine Zuwendung von je 3000 bis 5000 Dollar.[27] Die finanzielle Unterstützung für die Hamas und den Islamischen Jihad in Palästina kommt, nach Angaben von mehr oder weniger zuverlässigen Quellen, u. a. von Stiftungen und Individuen aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten sowie von Regierungen von Staaten wie dem Iran, dem Irak und Syrien.[28] Saddam Hussein war einer der wichtigsten Investoren des Opferterrorismus in Palästina; er gewährte palästinensischen Familien, deren Angehörige bei Anschlägen auf israelische Soldaten und Zivilisten ums Leben kamen, eine großzügige Geldprämie. Diese wurde ab März 2002 kräftig erhöht: Die Familien von „Märtyrern“ bekamen, gestaffelt nach den Kategorien „Familien von konventionellen Opfern“ und „Familien von Opferattentätern“, jeweils 10 000 und 25 000 Dollar.[29] Zwischen Oktober 2000 und März 2002 flossen auf diesem Wege über 10 Millionen Dollar vom Irak nach Palästina[30] – nicht als Entschädigung, sondern als Auszeichnung für die Familien von Opferattentätern und nicht zuletzt als Investition für weitere effiziente und rentable Opferanschläge.

Wo bleibt dabei der Mensch? Er steht im geschäftlichen Angebot: Man investiert in den Menschen als Waffe. Und das ist gar nicht neu: Dass man das Leben als Zahlungsmittel verwenden oder gar mit dem Leben spekulieren kann, davon wussten schon die Anarchisten, Nihilisten und Terroristen des 19. und des 20. Jahrhunderts.[31]

IV. Die Degra­die­rung des Menschen

Doch nicht nur im Opferterrorismus, welcher Couleur auch immer, auch als Terrorismusopfer kann der Mensch zum bloßen Mittel entwürdigt werden32 – in diesem Fall nicht zwecks des Angriffes, sondern zwecks der Verteidigung. Zum Verteidigen gibt es eine heilige Dreizahl von in manchen Köpfen zum Fetisch erhobenen Werten, Demokratie, Freiheit und Sicherheit, in Bezug auf ein wie auch immer geartetes Kollektiv. Würden die einzelnen betroffenen Menschen diese Werte des Kollektivs selbst unter Einsatz ihres Lebens verteidigen? Diese prekäre Frage wird nicht gestellt, sondern in eine optative Aussage umgewandelt: Sie würden die Werte verteidigen – selbst unter Einsatz ihres Lebens. So befindet das Opfer als Kollektiv über das Opfer als Individuum.
Mit welchen menschenunwürdigen Maßnahmen die Opfergesellschaften ihrerseits gegen jenen parasitären Terrorismus vorzugehen bereit sind, der die gegnerische Infrastruktur zum effektiven Angriff zweckentfremdet, zeigt sich an drei Beispielen, die im Folgenden herausgegriffen werden sollen: (1) den so genannten green-card soldiers, (2) der Kontroverse um das Luftsicherheitsgesetz und (3) dem Umgang mit Geiseln in den Händen der Terroristen.

(1) In den US-Streitkräften, vor allem in den durch die höchsten Verlustrate gekennzeichneten Bodentruppen, dienten während des Irakkrieges im Frühling 2003 etwa 32 000 ausländische Soldaten – das machte über 10 Prozent der Truppenstärke vor Ort aus – u. a. aus Lateinamerika; ihnen war die Beschleunigung des Einbürgerungsverfahrens nach dem abgeleisteten Dienst versprochen worden. Der schweizerische Dokumentarfilm.Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez (2006) von Heidi Specogna erzählt durch Interviews den turbulenten Werdegang des Guatemalteken José Antonio Gutierrez, der als Soldat der US-Streitkräfte im Irakkrieg fiel und posthum die US-Staatsbürgerschaft verliehen bekam. Ging damit sein Wunsch in Erfüllung? Sein Ziel war es, zu einem lebenden US-Bürger zu werden und als Architekt in den USA Karriere zu machen. Sind die green-card soldiers nicht „rohes Menschenmaterial“,[33] das durch Aussichten auf ein besseres Leben gelockt und, gemäß einer profitablen Kosten-Nutzen-Rechnung des Kriegsbetriebes, ohne Austauschgarantie verbraucht wird? Die politischen Entscheidungsträger befinden darüber anders. Der US-Senator John McCain nannte die green-card soldiers während seiner Kampagne zur US-Präsidentschaftswahl 2008 „God’s children“.[34]

(2) Das Luftsicherheitsgesetz trat am 15. Januar 2005 in Deutschland als Bundesgesetz in Kraft. Dessen § 14 Absatz 3 sorgte in der Folgezeit für eine lebhafte Kontroverse. Die betreffende Stelle räumte den Streitkräften das Recht ein, auf Anordnung des Verteidigungsministers ein Luftfahrzeug abzuschießen, „das […] gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll“.[35] Das heißt, in einem Szenarium wie dem 11. September 2001 in New York und Washington – ein entführtes Verkehrsflugzeug steuert auf ein öffentliches Gebäude zu – dürfe ein ebensolches Flugzeug, samt allen seinen Passagieren, per Gesetz vernichtet werden. Zum Glück für das Recht auf Leben und die Würde des Menschen in Deutschland wurde der Paragraph, aufgrund einer Verfassungsbeschwerde, am 15. Februar 2006 für nichtig erklärt.

Trotzdem: Dass ein derartiges Gesetz entworfen und, wenn auch nur zeitweilig, in Kraft treten konnte, ist, wenn man bedenkt, dass das Gesetz die freiheitlich-demokratische Antwort auf die unmenschliche Bedrohung des Opferterrorismus verkörpern sollte, nachgerade grotesk. Denn das sicherheitspolitische Statement, das sich dahinter verbarg, besagte schlichtweg: Um Leben von Menschen zu retten, dürften Leben von Menschen geopfert werden. Die damalige Bundesregierung argumentierte, es „sei zu berücksichtigen, dass die Flugzeuginsassen im Fall des § 14 Abs. 3 LuftSiG gleichsam Teil der Waffe seien, als die das Luftfahrzeug benutzt werde. Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung des Luftverkehrs müsse den Insassen die Gefährdung bewusst sein, in die sie sich selbst begäben, wenn sie am Flugverkehr teilnähmen. Nur wenn der Staat entsprechend § 14 Abs. 3 LuftSiG handele, könne wenigstens ein Teil der bedrohten Leben gerettet werden. Dies dürfe in einer derart außergewöhnlichen Situation auch zu Lasten derer geschehen, die, untrennbar mit der Waffe verbunden, ohnehin nicht zu retten seien“.[36]

Auch hier – bemerkenswerterweise – mutiert der Mensch zur Waffe: Die einen Bürger sollen in den Augen des Gesetzes, unter diesen spezifischen Umständen, „Teil der Waffe“ sein, die sich gegen die anderen Bürger richtet. Einsätze und Verluste werden im Rahmen des Katastrophenschutzes ökonomisch – d. h. nach dem Prinzip des body count – abgewogen, um die Gesamtsumme der beiden so gering wie möglich zu halten. (3) Jedem blutigen Geiseldrama mit Terroristen haftet das Odium des Opfers an. Am 22. Juli 2007 wird eine der zwei entführten deutschen Geiseln in Afghanistan, nach Ablauf
des Ultimatums der Taliban, tot aufgefunden. Deren Forderung war der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Die deutschen Sicherheitsbehörden behaupten zunächst, die Geisel sei den Strapazen der Entführung erlegen. Am 2. August gibt das Institut für Rechtsmedizin zu Köln nach einer Obduktion bekannt, der fragliche Mann, der Bauingenieur Rüdiger Diedrich, sei durch Gewehrkugeln gestorben. Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier äußert dazu: „Die letzten Stunden des Verstorbenen waren ein Martyrium“.[37]

Ein Martyrium – Steinmeier meint es in übertragenem Sinne, aber der eigentliche Sinn schwingt ungewollt mit – ist ein schweres Leiden um des Glaubens oder der Überzeugung willen; ein Märtyrer nimmt aus Überzeugung und aus freiem Willen das Leiden und den Tod auf sich. Ist Diedrich aus Überzeugung und aus freiem Willen in den Tod gegangen? Er bat in der ihm verbliebenen Zeit die Bundesregierung verzweifelt darum, der Forderung der Entführer nachzukommen und die Bundeswehr aus Afghanistanabzuziehen. Die Antwort der Bundesregierung dazu demonstrierte Entschlossenheit: Wir lassen uns nicht von Terroristen erpressen. Diedrich ist aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst enttäuscht von dem Staat, der doch jeden seinen Bürger zu schützen hat, und zutiefst erbittert über das Krisenmanagement der Bundesregierung untergegangen. Was bewirkt die Äußerung Steinmeiers? Einer, der gar nicht wollte, erscheint auf der konnotativen Ebene des Textes – ohne dass Steinmeier es intendierte – plötzlich als Märtyrer, als Blutzeuge; aus einem gewaltsamen Tod, den das Opfer nicht gesucht hat, wird plötzlich ein Martyrium, ein Blutzeugnis, für etwas – für die Nichterpressbarkeit der Bundesregierung, für den Kampf gegen den Terror, für die Freiheit und Sicherheit des Kollektivs. Das Individuum Diedrich hat es nicht gewollt. Seine oberste Priorität waren seine eigene Freiheit und Sicherheit – und seine Würde. Er wollte als Mensch kein bloßes Mittel, sondern an erster Stelle Zweck sein. Doch wenn eine Gemeinschaft sich als Terrorismusopfer begreift, so kann der Gebrauchswert des Einzelnen höchstens darin bestehen, Träger eines bestimmten Tauschwertes zu sein. Die viktimisierte Gemeinschaft antwortet auf die terroristische Bedrohung ebenso mit einer notgedrungenen Kosten-Nutzen-Rechnung. Sei es als Gebrauchswert oder als Tauschwert: Der Mensch bleibt ohne Würde vor den fetischisierten Werten Demokratie, Freiheit und Sicherheit.

V. Die Effizienz und die Zukunft der Menschheit

„Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“.38 Man würde nur eine Binsenweisheit aussprechen, wenn man nach dem Modell dieses Spruches Jesu formulieren würde: „Nicht der Mensch soll dem technischen Fortschritt und der ökonomischen Effizienz dienen, sondern der technische Fortschritt und die ökonomische Effizienz dem Menschen“. Dennoch kann man dies nicht häufig genug wiederholen, solange die neueste Etappe der Geschichte der Bombe sich durch das verkehrteste Ergebnis einer Entwicklung zu erkennen gibt, die sich nach dem allgemeinen
Nutzen für die Menschheit zu richten hätte: die menschliche Bombe.

Wir bedürften nur einer gehörigen Portion fortschrittlicher und philanthropischer Phantasie, und schon wäre eine geistig-moralische Hinwendung zu einer Zukunft vorstellbar, in der der Mensch, mit seiner Freiheit und Würde, im Zentrum allen ökonomischen Denkens steht. Es wäre eine Anmaßung, im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrages eine solche Zukunft konkret schildern zu wollen. Doch zum Schluss sei ein Beispiel angeführt, das, auch wenn es technisch schon längst überholt ist, gedanklich nach wie vor in eine zukunftsfähige Richtung weist.

Heinrich von Kleist – noch nicht der resignierte Suizident, als der er sein Leben beendete, sondern der sozialkritisch engagierte Publizist und Herausgeber der Berliner Abendblätter (1810–1811) – bringt in deren elftem Blatt vom 12. Oktober 1810, in einem Balanceakt zwischen ernster Komik und komischem Ernst, unter dem Rubrum „Nützliche Erfindungen“ den „Entwurf einer Bombenpost“. Er schlägt „zur Beschleunigung und Vervielfachung der Handelskommunikationen, wenigstens innerhalb der Grenzen der kultivierten Welt, eine Wurf-oder Bombenpost vor; ein Institut, das sich auf zweckmäßig, innerhalb des Raums einer Schußweite, angelegten Artilleriestationen, aus Mörsern und Haubitzen, hohle, statt des Pulvers, mit Briefen und Paketen angefüllte Kugeln, die man ohne Schwierigkeit, mit den Augen verfolgen, und wo sie hinfallen, falls es kein Morastgrund ist, wieder auffinden kann, zuwürfe; dergestalt, daß die Kugel, auf jeder Station zuvörderst eröffnet, die respektiven Briefe für jeden Ortherausgenommen, die neuen hineingelegt, das Ganze wieder verschlossen, in einen neuen Mörser geladen, und zur nächsten Station weiter spediert werden könnte. […] Da man, auf diese Weise, wie eine kurze mathematische Berechnung lehrt, binnen Zeit eines halben Tages, gegen geringe Kosten von Berlin nach Stettin oder Breslau würde schreiben oder respondieren können, und mithin, verglichen mit unseren reitenden Posten, ein zehnfacher Zeitgewinn entsteht oder es ebensoviel ist, als ob ein Zauberstab diese Orte der Stadt Berlin zehnmal näher gerückt hätte: so glauben wir für das bürgerliche sowohl als handeltreibende Publikum, eine Erfindung von dem größten und entscheidendsten Gewicht, geschickt, den Verkehr auf den höchsten Gipfel der Vollkommenheit zu treiben, an den Tag gelegt zu haben“.[39]

In diesem Entwurf liegt eine plastische Vision von einem fortschrittlichen und gemeinnützigen „exchange of proterties among humans and nonhumans“ vor: Der französische Soziologe Bruno Latour nennt dies in seinem Essay Pandora’s Hope (1999) mittels eines Bildes aus der Genetik „crossover“.[40]

Eine Zukunft, in der die Waffen die Menschen dazu bringen, sich nicht mit gesteigerter Effizienz gegenseitig zu vernichten, sondern miteinander zu kommunizieren, wäre wohl nur in einer humoristischen Satire möglich. Aber eine Zukunft, in der – es sei nochmals wiederholt – der Mensch, mit seiner Freiheit und Würde, im Zentrum allen ökonomischen Denkens steht: Auf eine solche Zukunft mithilfe menschlicher Crossover-Praktiken hinzuarbeiten, ist in einer globalisierten Welt aller Mühe wert. Der Sichtwechsel vom „Selbstmordattentäter“ zum „Opferattentäter“ kann ein erster Schritt
dazu sein: Indem wir das ungeheure Verbrechen gegen die Menschheit, das im Opferterrorismus begangen wird, sachlich korrekter zum Ausdruck bringen, kann die Frage nach dem Menschen menschlicher gestellt werden.
 
Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Vortrages „Vom Selbstmordattentäter zum Opferattentäter. Eine Einladung zum Sichtwechsel“, den ich am 18. Januar 2012 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gehalten habe. Ich danke an dieser Stelle Professor Dr. Gerhard Budin und Dr. Evelyn Breiteneder vom Institut für Corpuslinguistik und Texttechnologie (ICLTT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für die freundliche Einladung.

[1]Vgl. „Gotteskrieger“ ist das Unwort des Jahres. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.1.2002;
verfügbar in: http://www.faz.net/artikel/C30703/sprache-gotteskrieger-ist-das-unwort-des-jahres30020328.html>.
[2] Robert A. Pape weist in seiner empirischen Studie Dying to Win (2005) auf die komplexe Verflechtung von Individuum, Gesellschaft und Organisation im Suizidterrorismus hin: „Suicide terrorist organizations are bound to their societies by virtue of pursuing political goals viewed as legitimate by the society at large, by their participation in local charities and other institutions that benefit society and by the use of elaborate ceremonies and other rituals that identify the death of a suicide attacker with the good of the community. These close social bonds do not create altruistic individuals. However, they do create the conditions under which individuals who wish to sacrifice for their
community can be confident that their self-sacrifice will be viewed as altruistic“ (Robert A. Pape: Dying to Win. The Strategic Logic of Suicide Terrorism. New York: Random House, 2006. S. 187– 188).
[3]Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. München: dtv, 2006. S. 100. 
[4]Montesquieu: Lettres persanes. Édition critique avec notes par Antoine Adam. Genève: Librairie
Droz/Lille: Librairie Giard, 1954. S. 196; Lettre LXXVI. „In Europa sind die Gesetze sehr streng gegenüber den Selbstmördern; sie müssen sozusagen ein zweites Mal den Tod erleiden. Sie werden
in unwürdiger Weise durch die Straßen geschleift, man erklärt sie für ehrlos und zieht ihre Güter ein. / Nach meiner Ansicht, Ibben, sind diese Gesetze sehr ungerecht“ (Montesquieu: Persische
Briefe. Übers. und hg. von Peter Schunck. Stuttgart: Reclam, 1999. S. 146; Brief 76). 
[5]Im Baseball spricht man z. B. von sacrifice bunt und sacrifice fly, und nicht etwa von suicide bunt oder suicide fly. 
[6]Vgl. Raimund Theodor Kolb: Die Infanterie im Alten China. Ein Beitrag zur Militärgeschichte der Vor-Zhan-Guo-Zeit. Mainz: Philipp von Zabern, 1991. S. 190; S. 197, Anm. 14. 
[7]William Shakespeare: The Complete Works. Original-Spelling Edition. With Introductions by
Stanley Wells and an Essay on Shakespeare’s Spelling and Punctuation by Vivian Salmon. Oxford:
Clarendon Press, 1986. S. 534.
[8]Vgl. Thomas Edward Lawrence: Seven Pillars of Wisdom. A Triumph. London: Jonathan Cape,
1965. S. 395.
[9]Niall Ferguson: The Pity of War. London: Allen Lane/The Penguin Press, 1998. S. 351.
[10] Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. 28. Auflage. Köln: Kiepenheuer&Witsch, 2008. S. 188–189.
[11] POUM steht für Partido Obrero de Unificación Marxista.
[12] George Orwell: Homage to Catalonia. London: Secker&Warburg, 1996. S. 8; vgl. auch S. 18, 25– 26.
[13] FAI steht für Federación Anarquista Ibérica.
[14] Orwell, S. 34.
[15] Vgl. Christoph Kucklick/Hania Luczak/Christoph Reuter: Selbstmordattentäter: Die Macht der
Ohnmächtigen. In: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hgg.): Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung. Berlin: Berlin Verlag, 2002. S. 263–278, hier S. 270; Christoph Reuter: Selbstmordattentäter. Warum Menschen zu lebenden Bomben werden. München: Goldmann, 2003. S. 45–48.
[16] Vgl. Matthias Küntzel: Die Kunst des Märtyrertods. In: Spiegel Online, 23. 6. 2006; verfügbar in:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,420509,00.html>.
[17] Bruce Hoffman: The Logic of Suicide Terrorism. In: The Atlantic, Juni 2003; verfügbar in:
http://www.theatlantic.com/doc/200306/hoffman>.
[18] Hoffman: The Logic of Suicide Terrorism.
[19] Hoffman: The Logic of Suicide Terrorism.
[20] Marie Colvin: Iran Hones Skills of Hamas Fighters. In: The Australian, 10. 3. 2008; verfügbar in:
http://www.theaustralian.com.au/news/iran-hones-skills-of-hamas-fighters/story-e6frg6tx-111111
5753516>.
[21] Kucklick/Luczak/Reuter, S. 264.
[22] Vgl. Kucklick/Luczak/Reuter, S. 264; Walter Laqueur: No End to War. Terrorism in the Twenty-
First Century. New York/London: Continuum, 2003. S. 91; Bruce Hoffman: Terrorismus – der unerklärte
Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. Aus d. Engl. von Klaus Kochmann. Erweiterte
und aktualisierte Ausgabe. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2006. S. 213.
[23] Vgl. Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 213.
[24] Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Zwei Fassungen. Anmerkungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998.
[25] Vgl. Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 214–215.
[26] Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 215.
[27] Vgl. Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 248.
[28] Vgl. Human Rights Watch: Erased in a Moment: Suicide Bombing Attacks Against Israeli
 Civilians. New York/Washington/London/Brussels: Human Rights Watch, 2002; verfügbar in:
http://www.hrw.org/reports/2002/isrl-pa/ISRAELPA1002.pdf>. S. 94–101; Laqueur, S. 92.
[29] Vgl. Paul McGeough: Saddam Stokes War with Suicide Bomber Cash. In: Sydney Morning Herald,
[30]. 3. 2002; verfügbar in: http://www.smh.com.au/articles/2002/03/25/1017004766310.html>;
Hamza Hendawi: Cult Evolves Around Suicide Bombers. Associated Press, 28. 4. 2002; verfügbar
in: http://www.rickross.com/reference/islamic/islamic51.html>; Human Rights Watch, S. 100–
101; Hoffman: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 248.
30 Vgl. McGeoph.
[31]Vgl. dazu Roger Willemsen: Nachwort. In: Roger Willemsen (Hg.): Der Selbstmord. Briefe, Manifeste,
literarische Texte. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2007. S. 386–427, hier S. 409.
[32] Immanuel Kant warnt 1788 in Kritik der praktischen Vernunft (1788), mehr noch als vor dem Mystizismus, dem der Opferterrorismus zuzurechnen wäre, vor dem Empirismus der praktischen Vernunft, der „die Sittlichkeit in Gesinnungen (worin doch und nicht bloß in Handlungen der hohe Wert besteht, den sich die Menschheit durch sie verschaffen kann und soll) mit der Wurzel ausrottet
und ihr ganz etwas anderes, nämlich ein empirisches Interesse, womit die Neigungen überhaupt unter sich Verkehr treiben, überdem auch ebendarum mit allen Neigungen, die (sie mögen einen
Zuschnitt bekommen, welchen sie wollen), wenn sie zur Würde eines obersten praktischen Prinzips erhoben werden, die Menschheit degradieren, und da sie gleichwohl der Sinnesart aller so günstig
sind, aus der Ursache weit gefährlicher ist als alle Schwärmerei, die niemals einen dauernden Zustand vieler Menschen ausmachen kann“ (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg.
von Karl Vorländer mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. 10.Auflage. Hamburg: Felix Meiner, 1990. S. 83–84; Hervorhebung von mir, A. T.).
[33] Theodor Fontane: Ein Sommer in London. In: Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. 22 Bde. Bd. III/3/1. München: C. Hanser, 1975. S. 7–
178, hier S. 49.
[34] Larry Rohter: Immigration and the Military. In: The New York Times, 12. 7. 2008; verfügbar in:
http://www.nytimes.com/2008/07/12/us/politics/12madbox.html>.
[35] 1 BvR 357/05, Abs. 28.
[36] 1 BvR 357/05, Abs. 56.
[37] Nico Fried: Geisel starb durch Schüsse. In: Süddeutsche Zeitung, 2. 8. 2007; verfügbar in:
http://www.sueddeutsche.de/politik/leiche-des-deutschen-untersucht-geisel-starb-durch-schuesse1.929194>.
[38] Mk2,27.
[39] Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Zweibändige Ausgabe in einem Band. München: dtv, 2001. S. 386.
[40] Bruno Latour: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge: Harvard
University Press, 1999. S. 194.

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