Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 197: Die rechte Gefahr

Editorial

aus: vorgänge Nr. 197 (Heft 1 / 2012), S. 1-3

Das Wörterbuch des Schreckens ist seit Kurzem um ein Kürzel reicher. Unter „NSU” firmiert nicht mehr der einst populäre, nur noch Nostalgikern geläufige Produzent von Mobilitätsprodukten, die im letzten Jahrhundert im namensgebenden Neckarsulm her-gestellt wurden, sondern „National Sozialistischer Untergrund” gilt derzeit als Emblem dessen, was man in seiner mörderischen Brutalität und zugleich augenscheinlichen sozialer Normalität nur schwer zu fassen vermag. Rechtsterrorismus hatte in Deutschland bis vor wenigen Monaten kein Gesicht, wenn überhaupt, dann meinte man allenfalls, im fernen Norwegen seine Fratze kurz gesehen zu haben, nun schaut man auf ein Gruppenbild mit Dame, von dem man fürchtet, dass es ein Vexierspiegel der Gesellschaft ist. Dass hierzulande aus provinziellen Verhältnissen heraus, unter einer staatlichen, aber anscheinend gleichfalls provinziellen, womöglich gar kooperativen Observanz, eine kriminelle Kleingruppe über ein Jahrzehnt hinweg mit einer beachtlichen Schar an Unterstutzern und Symphatisanten einen tödlichen Terror entfalten konnte, dessen öffentliche Einzelspuren, die von vierzehn Bankrauben über mindestens einen Sprengstoffan-schlag bis zur Tötung von neun migrantischen Mitbürgern und einer Polizistin quer durch die Republik führten, nicht durch gesellschaftliche Aufmerksamkeit, journalistische Recherche oder staatliche Ermittlung, sondern nur durch einen Akt finaler Selbstauslöschung zusammengeführt wurden, ist eine Zäsur in der Geschichte Deutschlands.Diese Zäsur hat eine politische Betriebsamkeit ausgelöst, von der nicht klar ist, ob sie die richtigen Antworten gibt oder eher vermeiden will, dass entscheidende Fragen gestellt werden. In einem Verbot der NPD wird parteiübergreifend ein probates Mittel erkannt. Doch trifft, wer die NPD ins Visier nimmt, auch den Rechtsterrorismus? Oder wird auf diese Weise nur starker Staat gespielt, weil dieser sich zuvor bei Observation und Strafverfolgung als schwach erwiesen hat? Zeigt diese Rechte tatsächlich die „aktiv kämpferische aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung”, welche allein ein Parteienverbot begründen könnte? Und hat sie überhaupt die Stärke und Zielgerichtetheit, die verfassungsmäßige Ordnung zu bedrohen? Auf welchen stillschweigenden Rückhalt in der Gesellschaft kann sie bauen? Gibt es noch einen Extremismus der Mitte, und wenn ja, wie groß ist er, welche Ausdrucksformen hat er? Wie nimmt sich der deutsche Rechtsextremismus im internationalen Vergleich aus? Diesen Fragen will die vorliegende Ausgabe der vorgänge nachgehen.

Armin Pfahl-Traughber verweist darauf, dass der soziale Nährboden des Rechtsextremismus, wie er sich in entsprechenden Einstellungen der Bevölkerung zeigt, weit größer als der sich politisch artikulierende Rechtsextremismus ist. Die Differenz zwischen beidem begründet sich im Fehlen attraktiver Führungsfiguren und einer sozial-ökonomisch Stabilität und einem intakten antifaschistischem Konsens der Eliten.
Frank Decken analysiert die Gründe, weshalb sich in Deutschland im Gegensatz zu den europäischen Nachbarländern kein nennenswerter parteiförmiger Rechtspopulismus etablieren konnte, obwohl die sozialen und ökonomischen Gelegenheitsstrukturen vergleichbar sind. Es ist weniger das Fehlen charismatischer Führungspersonen, sondern ein intakter antifaschistischer Konsens der Elite, die Absorptionsfähigkeit der CDU/CSU und das Agieren einer linkspopulistischen Partei „Die Linke” sowie die mangelnde Organisationsfähigkei°t, welche das Scheitern begründen.

Dierk Borstel kritisiert die Unzulänglichkeit des vorherrschenden Rechtsextremismusbegriffs, der sich in seiner Staatsfixiertheit als blind gegenüber dessen sozialen Formierungen erwiesen hat, und plädiert für einen jährlichen Demokratiezustandsbericht, der unfassender und präziser über deren Gefährdung Auskunft geben könne als die bekannten Berichte der Verfassungsschutzämter.

Anne Klein und Eva Groß machen in ihrer Untersuchung deutlich, dass sich das Ausmaß Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der politischen Mitte kaum von dem der politisch rechts stehenden Personen unterscheidet. Eine Betrachtung, die rechtsextreme Gewalt oder rechtsextreme Parteien als ein von der Bevölkerung abgekoppeltes Phänomen wahrnimmt, verkenne deshalb das Problem und ziele auch auf der Handlungsebene am eigentlichen Kern vorbei.

Karin Priester erkennt in hegemonialen Umbruchsituationen den politischen Nährboden des Rechtspopulismus in Europa, der in seinen postmodernen Ausformungen das Moment der Freiheit gegenüber einer vermeintlichen islamistischen Bedrohung in den Vordergrund rückt und sich ideologisch stark vom Rechtsextremismus unterscheidet. Der Front National in Frankreich nimmt zwischen beidem eine Zwitterstellung ein.
Thomas Grumke analysiert das Paradox, dass der nationale Widerstand im Kampf gegen die Globalisierung die nationalen Grenzen bereits überwunden und sich selbst als eine Bewegung der Anti-Globalisten erfolgreich etabliert und global vernetzt hat.Christopher Schulze und Nils Schumacher erkennen in den Autonomen Nationalisten und den „Unsterblichen” politische Suchbewegungen junger Neonazis, die durch die Verbindung einer postmodernen Subjektivität mit dem faschistischen Versprechen der Transzendenz und einer reinen Gemeinschaft gekennzeichnet sind.

Frauke Büttner, Juliane Lang und Esther Lehnert korrigieren die Vorstellung, wonach Frauen nun eine passive Rolle im Rechtsextremismus spielen. Ein tradiertes völkisches Frauenbild geht durchaus einher mit aktivem, bisweilen militantem Auftreten.

Für Martin Kutscha steht das Unvermögen, welches der Verfassungsschutz bei der Beobachtung des NSU an den Tag gelegt hat, in der Tradition eines Amtes, das seine Aufgabe von Anfang an in der Verfolgung der Linken gesehen hat und quasi konstitutiv auf dem rechten Auge blind war.

Peter Fischer spricht Seymour M. Lipsets Theorem vom Extremismus der Mitte ei-ne Aussagekraft bei der Analyse der aktuellen Gesellschaft zu.Astrid Bötticher und Miroslav Mares legen ein Konzept des Anti-Extremismus vor,das Aktivitäten gegen den Extremismus nur erfasst, sofern sie dazu dienen, die Demokratie zu erhalten oder zu entwickeln, und beklagen die unfruchtbare Gegenüberstellung von repressiven und zivilgesellschaftlichen Ansätzen.

Sven Lüders legt dar, weshalb die Rechtsextremismusdatei die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen wird und rechtlich bedenklich ist.

Im Essay wendet sich Arata Takeda gegen den gedankenlosen Gebrauch des Begriffs „Selbstmordattentäter” für einen Menschen, der selbst Opfer derjenigen ist, die ihn als Kampfmittel missbrauchen. Die Tradition dieser Opferattentäter ist alt und keinesfalls eine islamische, die Motive, sie einzusetzen, sind nicht zuletzt ökonomische Kosten-Zerstörung Kalküle.

Michael Th. Greven sieht in dem Umstand, dass die jeweiligen Zinssätze eines Staates auf den Anleihemärkten zum Ausweis für die Qualität seiner Regierung genommen werden, eine weitere Stufe des Demokratieabbaus.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge eine anregende Lektüre.

Ihr
Dieter Rulff

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