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Anti-Ex­re­mismus

aus: Vorgang 197 (Heft 1/2012), S.101-108

I. Was ist Extre­mis­mus?

Der Extremismus als Erscheinungsform ist nicht so umstritten wie die Definition desselbigen. Keinem würde es einfallen davon zu sprechen, dass es Extremismus nicht gäbe, doch was genau Extremismus ist, darüber besteht kaum eine Einigkeit. Von binären Definitionen bis hin zu Funktionen mit zwei oder drei Variablen reicht die Definitionsbreite. Einige verwenden einen starken Phänomenbezug, dies sind alle Definitionen die nicht den Extremismus als solchen, sondern z. B. ausschließlich den Rechtsextremismus beschreiben, andere sind breiter, definieren den Extremismus insgesamt.

Die bekannteste allgemeine Definition des Extremismus entwickelten Uwe Backes und Eckhard Jesse. Ihre normative Definition basiert auf einer bimodalen Verteilung, der Extremismus gilt als das Gegenteil der Demokratie und ist definiert als einstellungsmäßige Gegnerschaft zu den wichtigsten Spielregeln des demokratischen Verfassungsstaates und wird im engeren Sinne als eine Fundamentalopposition gegen den Verfassungsstaat verstanden, was sich in Gesinnung oder Handlung manifestiert. Der verfassungspolitische Ansatz des Extremismus ist dem klassischen Konstitutionalismus zuzuordnen und arbeitet in der Regel mit interdisziplinären Kopplungen, etwa kommunikationstheoretischen Überlegungen oder sozialpsychologischen Theoremen. Der verfassungspolitische Ansatz greift immer wieder auf juristische Sachverhalte zurück.[1] Damit ist dieser Ansatz dem institutionell ausgestalteten Verständnis des Extremismus als Form der Verfassungsfeindlichkeit sehr nah. Das verfassungspolitische Modell ist eine Klassifikation und kann zur Ursachenforschung selbst nichts beitragen.

Ein Problem für das verfassungspolitische Extremismuskonstrukt ergibt sich aus Erscheinungen der bewegungsinhärenten Abweichung, der großen Heterogenität der Phänomene: Sind Nationalbolschewisten linksextremistisch oder rechtsextremistisch? Was haben Anarchisten, Autonome und Anhänger des marxistisch-leninistischen Sozialismus miteinander gemein? Oft wird hier seitens des verfassungspolitischen Konstrukts mit der Utopie und dem Gleichheitsideal argumentiert, doch die sozialwissenschaftlich messbaren Abweichungen sind so groß, dass eine Skala zur Messung linksextremistisehen Gedankenguts noch nicht gefunden ist.[2] Gleiches gilt im Ubrigen nicht für den Rechtsextremismus.

All diese Erscheinungen können modelltheoretisch nur ungenügend eingebunden werden. Mehrere Modelle des Extremismus verlassen die bimodale Rahmung, wie die Modelle Eysencks, Minkenbergs, De Witt Pooles, Helmars, Stöss‘ und Lipsets. Daneben steht der eher soziologische Zugang, der Extremismus als Pathologie westlicher Industriegesellschaften fasst, wie Erwin K. Scheuch und Hans-Dieter Klingemann ihn beschrieben.[3] Hier wird der Extremismus als Begleiterscheinung von Strukturen der modernen Gesellschaft erklärt, Statusinkonsistenzen würden den permanenten Wechsel von Einstellungen verursachen. Die intermediären Instanzen des Sozialsystems geraten hier in den Blick. Der Extremismus ist dementsprechend ein sozialer Prozess. Der historisch-genetische Ansatz, z. B. durch Peter Dudek und Hans-Gerd Jaschke vertreten, entwickelt den Extremismus als abhängige Variable von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Extremismus wird hier als „kommunikativ dichtes Netzwerk”, als „selbstständige Subkultur” beschrieben, eine Wechselwirkung mit der Mehrheitsgesellschaft gerät in den Blick. Dieses Verständnis des Extremismus findet eine Kopplung zu den Ausarbeitungen Klingemanns und Scheuchs.[4]

Ein an die Ideengeschichte gekoppeltes, ideologiekritisches Verständnis des Extremismus erarbeiteten Grieder und Salamun. Alfons Grieder unterscheidet drei Arten von Ideen. Bei der ldee der ersten Art handelt es sich um Ideen darüber, dass bestimmte Sachverhalte vorliegen. Ideen der zweiten Art sind normative Ideen, also Ideen des Sollens oder ldeen moralischer Bewertung. „Bei den Ideen zweiter Art sieht es so aus, als ob Sachverhalte vorliegen, die sich jedoch bei näherem Zusehen als obskure, wenn nicht Pseudosachverhalte herausstellen.“[5] Die Ideen dritter Art, so führt Grieder aus, sind Ideen des idealen Zustandes. Bei diesen Ideen handelt es sich um Allgemeinbegriffe und auch ganze Begriffssysteme. Die Idee der zweiten Art bleibt ein Vollzug dieser Setzung. Grieder geht darauf ein, wie Idee und Überzeugung zusammenhängen und deutet einen Katalog der verschiedenen Ideologien an, die von ihm nach Gläubigkeit der Trägergruppen unterteilt werden[6]. Salamun unterscheidet Basisannahmen und Randbezirke einer ldeologie. Diese haben ein reziprokes Verhältnis zueinander und einen essentiellen oder komplementären Charakter. Die Ideologie teilt sich auf in Basisannahmen und Randbezirke. Sie besteht im Kern aus einem Axiom. Dieses Axiom, der Kern der ldeologie, ist nicht wandelbar. Ähnlich wie bei einer Zwiebel fügen sich um den Kern der ldeologie mehrere Randannahmen an. Diese Randannahmen sind die Äußerungen, die dazu dienen die Ideologie zu implementieren. Sie können sich an die Zeit anpassen und verhelfen der ldeologie durch ihre Flexibilität, am Leben zu bleiben.

Das Salamunsche Instrumentarium zur Analyse von Ideologien basiert auf einer Definition von Ideologie als „[.,.] Gedankengebilde, die durch spezifische tendenzielle Merkmale gekennzeichnet sind und gesellschaftlichen Gruppen als allgemeine Orientierungsrahmen bei der Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit dienen, die Machtansprüche dieser Gruppen im politischen Leben legitimieren und neben echten wissenschaftlichen Einsichten und neben offenen Wertungen, Normen und Handlungsappellen viele kryptonormative und falsche Vorstellungen enthalten, deren ungerechtfertigte Wahrheitsansprüche oder Unwahrheiten auf eine interessenbedingte Befangen-heit ihrer Produzenten zurückzuführen ist“[7]. Darauf aufbauend entwickelte Salamun Möglichkeiten zur Dekonstruktion von Ideologien. So ist der Absolutheitsanspruch einer Weltanschauung prinzipiell unvereinbar mit der prinzipiellen Fehlbarkeit von Vernunft- und Wissenschaft. Der Absolutheitsanspruch wirkt sich auf die Toleranz aus, sie wird zur Intoleranz und fördert durch die Kategorien „absolut richtig” und „absolut falsch” den Fanatismus.[8] Er unterscheidet (nach Martin Seliger[9] die Dimensionen de’r Ideologie in struktureller Hinsicht. Einmal gibt es Basisannahmen, so genannte Kernsätze, die nicht veränderlich sind und als absolut wahr und nicht revidierbar gesetzt sind. Daneben existieren Randbezirke, die den operativen Teil einer ldeologie ausmachen und veränderbar sind.[10] In Zusammenhang mit der absoluten Wahrheitsbehauptung steht das Denkmotiv eines „höheren Wissens” und damit einhergehend, die Inanspruchnahme eines „Privilegs der Erkenntnis”.

Das Erkenntnismonopol wirkt sich auf die Struktur der Gruppe aus. Diese besteht laut Salamun aus einer Elite, die das Privileg besitzt die Wahrheit zu kennen und einem Gefolge, welches gläubig und vertrauensvoll gehorcht. Die Unterscheidung zwischen nicht revidierbaren Basissätzen und operativen Aussagen ist hier insofern wichtig, als dass diejenigen, welche Elite sind, darüber entscheiden, zu welchem Bereich Aussagen zuzuordnen sind.[11] Auch hilft uns diese Unterteilung, den Fortgang ideologischer Strömungen besser zu verstehen. Die Art und Weise der Unterdrückungsformen von Kritik ist nach Salamun ein dritter Gesichtspunkt der bei der Untersuchung von Ideologien beachtet werden sollte. Dieser Untersuchungsschritt fragt ob Kritik durch Gewalt, Zensur oder Frageverbote durchgesetzt wird. Dogmatische Deutungsraster sind laut Salamun der vierte Gesichtspunkt,[12] Die Dichotomie, oder Lehre von der Einteilung, die auch als Methode Teil der Wissenschaft sein kann,[13] ergibt sich, indem ein Merkmal bestimmt wird, welches für die Teilmenge zutrifft und für eine weitere Teilmenge nicht.[14] Die Ideologie nutzt die Methode der Dichotomie laut Salamun als Feinddefinitionsfunktion. Die Ideologie äußert sich also in Form von Gegensatzpaaren, wie etwa „arisch-jüdisch”, „sozialistisch-bürgerlich” oder „freiheitlich-sozialistisch”, „gottgefallendgottabfällig”. Der Absolutheitsanspruch verstärkt diesen Gegensatz.

In Zusammenhang mit der Feindsetzung steht als fünfter Gesichtspunkt die Aufstellung von Verschwörungstheorien. Der sechste Punkt ist die Verbindung ideologischer Gedankengebilde mit utopisch-messianischen Heilsideen. Ein siebenter Gesichtspunkt zur Untersuchung der ldeologie ist die Frage, ob politische Wertentscheidungen zu Sachentscheidungen umgedeutet werden.[15] Darin sieht Salamun gewisse Gefahren, „z. B. in der Möglichkeit der manipulativen Indoktrination von politischen Wertvorstellungen unter dem Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit, in der Verdrängung der Tatsache, daß politische Entscheidungen letztlich Wertentscheidungen sind, sowie in der Begünstigung einer Experten- und Technokratenideologie, aus der heraus eine öffentliche Diskussion und ein vernünftiger Konsens über Wertentscheidungen gar nicht mehr an-gestrebt wird, sondern über die Köpfe der betroffenen Staatsbürger hinweg Wertentscheidungen gleich von sogenannten Experten vorgenommen werden.“[16]

Extremismus ist ein gewaltvolles, politisch abweichendes Verhalten, dass durch die Einstellung begünstigt wird, aber sich nicht darauf reduzieren lässt. Der Extremismus beinhaltet prinzipiell eine menschenverachtende Komponente und enthält partikularmoralische Elemente, die den ihm anhängenden Personen Sinnstiftung bieten bis hin zu einer das eigentlich Religiöse ersetzenden Spiritualität. Der Extremismus als ideologie- verkapselte selbstständige Subkultur befindet sich in einem ständigen Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft, auf die er reagiert und gegen die er agitiert, wenn es ihm möglich ist und in der er existiert.

II. Was ist Anti-­Ex­tre­mis­mus?

Extremismus gilt als Bedrohung der modernen demokratischen Gesellschaft, er hat das
Potential zur Zerstörung der offenen Gesellschaft, bewirkt Angst und den Wunsch, sich zu schützen. Demokratieschutz ist der Sinn anti-extremistischer Maßnahmen staatlicher
und gesellschaftlicher Akteure. Diese Definition des Anti-Extremismus inkorporiert quasi die Extremismus-Definition nach Backes und Jesse. Der Anti-Extremismus lässt sich verstehen als Gesamtheit von Aktivitäten, die gegen den Extremismus gerichtet sind und die Absicht haben, die Demokratie zu erhalten oder zu entwickeln. Dies würde im Umkehrschluss bedeuten, dass all jene Formen anti-extremistischen Wirkens nicht erfasst werden, die sich nicht speziell auf die Demokratie gerichtet sind. Die Anwendung dieses Paradigmas ist ebenso schwierig, wie eine allzu breite Auffassung des Anti-Extremismus, die z. B. Formen der Kriminalitätsbekämpfung mit umfasst Ein Kompromiss findet sich, indem Anti-Extremismus als ein Maßnahmekatalog verstanden wird, dessen Elemente (seien sie institutionell oder nicht institutionell) nicht gewaltvoll im Sinne politisch abweichenden Verhaltens sind, keine menschenverachtenden Komponenten und partikular-moralische Elemente enthalten, sich in ihrer Gegnerschaft nicht hin zu einer, das eigentlich Religiöse ersetzenden Spiritualität bequemen und selbst keine ideologieverkapselte (Gegen-)Subkultur befördern. Es handelt sich beim Anti- Extremismus um einen Katalog an Sicherheitsmaßnahmen, Bildungsmaßnahmen und Umgangsweisen, die auf verschiedene Weisen ausbuchstabiert werden — z.B. Programme gegen Rechtsextremismus, Programme zur Demokratieförderung oder Toleranz, bildungspolitische Maßnahmen, Anti-Gewalt-Trainings — aber auch zielgerichtetes,Ideologie zersetzendes Verhalten kann als anti-extremistisch gelten. Backes und Jesse definieren vier Merkmale[17]:

• Der politische Extremismus wird in allen seinen Formen abgelehnt.
• Die wertgebundene Toleranz darf nicht zur Intoleranz missbraucht werden.
• Alle Tendenzen, die Freiheit oder Menschenwürde untergraben, werden abgelehnt.
• Eine Diabolisierung von Extremisten ist abzulehnen.

III. Staats­kon­zep­tion und Anti-­Ex­tre­mismus

Der Anti-Extremismus bezieht sich auf verschiedene Demokratiekonzeptionen, die tolerante Demokratie und die militante Demokratie, die in Deutschland auch oft als ,wehrhafte Demokratie‘ bezeichnet wird.’g Das Konzept der wehrhaften Demokratie bzw. mi litante Demokratie wurde theoretisch von Karl Loewenstein entwickelt’9 und fand ir Grundgesetz seinen Niederschlag. Hier finden sich eine Vielzahl an Bestimmungen, die dazu beitragen die Demokratie zu sichern, weshalb sich in Bezug auf die Bundesrepu blik Deutschland auch von einer demokratischen Sicherheitskultur sprechen lässt?[20] Die Wesensmerkmale der streitbaren bzw, wehrhaften Demokratie sind die Wertgebunden heit, die Abwehrbereitschaft und die Vorverlagerung der Sicherheit durch Risiko mini mierende staatliche Aktivitäten?[21]

Andreas Klump erarbeitete im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der wehrhai ten Demokratie konkrete Varianten des Anti-Extremismus[22]:
• Wertrelativismus – „Gleiche Freiheit den Feinden der Freiheit”.
• Autoritarismus – „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit”.
• Antikommunismus — „Keine Freiheit den Linksextremisten”.
• Antifaschismus — „Keine Freiheit den Rechtsextremisten”.
• Liberale Demokratie —„Keine unbedingte Freiheit zur Abschaffung der Freiheit“

Die von Klump erarbeiteten Varianten des Anti-Extremismus sind heute insofer veraltet, als dass der religiös motivierte Extremismus darin nicht korporiert ist. Denkba sind also weitere Unterarten, ähnlich den Punkten drei und vier.
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. Die Rechtsnormei zu ihrem Schutz finden sich in mannigfaltiger Weise, deshalb bietet es sich an, di Wehrhaftigkeit auch als eine Form von Sicherheitskultur zu betrachten. Zwei Bestim mungen dienen dem Schutz der Grundwerte vor legislativen Änderungen. Der Artike 19 Absatz 2 des Grundgesetzes besagt: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seiner Wesensgehalt angetastet werden.” Neben diesem Artikel beinhaltet das Grundgesetz ei ne Art Bestandsschutz (GG Art. 79 Abs. 3). Legislative, Exekutive und Judikative sin~ an Recht und Gesetz gebunden. Es existiert das Recht zum Widerstand, wenn jemand e unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen (GG Art. 20 Abs. 4). Verfassungsfeindlich Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2) und Parteien (Art. 21. Abs. 2) sind verboten. Auch de Schutz von Abgeordneten (GG Art. 46) ist eine Schutzfunktion, diese hängt mit der Ei fahrung des Ermächtigungsgesetzes, dass unter Hitler erlassen wurde, zusammen. Ins besondere folgende Gesetzesparagraphen sind für die wehrhafte Demokratie, de: Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, zu nennen: Art. 1 Abs. 1 und. (GG) (Definition des Staatsziels, Bindung der Legislative, Judikative und Exekutive a die Grundrechte); Art. 5, Abs. 3 (GG) (Verfassungstreue in der Lehre); Art. 8, Abs. : (GG) (Beschränkungsmöglichkeit von Versammlungen unter freiem Himmel); Art. S Abs. 2 (GG) (Verbot von Vereinigungen, die sich gegen die Verfassung wenden, ode dem Gedanken der Völkerverständigung zuwiderlaufen); Art. 10 Abs. 2 (GG) (Be schränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zum Schutze der freiheitli chen demokratischen Grundordnung); Art. 11, Abs. 2 (GG) (Einschränkung der Freizü gigkeit zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die freiheitliche demokratisch Grundordnung); Art. 18 (GG) (Beim Missbrauch der Grundrechte zum Kämpfte gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dürfen diese durch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verwirkt werden); Art. 19, Abs. 2 (GG) (Grundrechte dürfen in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden); Art. 20, Abs. 4 (GG) (Das Recht zum Wider-stand gegen jeden, der es unternimmt, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist); Art. 21, Abs. 2 (GG) (Regelung zur Verfassungswidrigkeit von Parteien); Art. 26, Abs. 1 (GG) (Strafbarkeit von Handlungen, die gegen die Völkerverständigung gerichtet sind); Art. 46, Abs. 1-3 (GG) (Indemnität und Immunität von Abgeordneten); Art. 61, Abs. 1 und 3 (GG) (wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes kann der Bundespräsident vor dem Bundesverfassungsgericht angeklagt werden und es kann ihm das Amt entzogen wer-den); Art. 79, Abs. 3 (GG) (Grundgesetzänderungen, die die föderale Ordnung beseitigen oder die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes berühren, sind unzulässig). Jakub Sedo [23] erwähnt die in Deutschland als Fünf-Prozent-Hürde bekannte, oft als Sperrklausel bezeichnete Wahlrechtsausgestaltung, die sich ebenfalls als anti-extremistisch deuten ließe. Gerade aber diese Sperrklausel ist für politische Minderheiten, also die Kleinstparteien, hoch problematisch. Sie wirkt sich auf die Vertretung aller politischen Minderheiten im Bundestag aus. Neben der demokratischen Konzeption beschreibt Capoccia das Ausleben der Demokratie als eine Form von Demokratieschutz. Leben wir die Werte der Demokratie, nutzen wir unsere Rechte, kommen die staatlichen Institutionen ihrem Auftrag die menschliche Würde zu bewahren nach, so ist dies der beste langfristige Schutz vor Extremismus.[24]

IV. Anti-­ex­tre­mis­ti­sche PoIicy- Netzwerke

In der Sicherheitspolitik existiert ein anti-extremistisches Subfeld mit eigenen Netzwerkstrukturen.[25] Auf institutioneller Ebene gehören dazu die Polizeien des Bundes und der Länder, die Inlandsgeheimdienste auf Bundes- und Landesebene, das Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, der für die Auslandsaufklärung zuständig ist, so-wie das Amt für den militärischen Abschirmdienst, als Teil der Streitkräfte. Das Bundesinnenministerium ist zuständig für die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und die Bundeszentrale für Politische Bildung. Der Bundesnachrichtendienst ist dem Bundeskanzleramt, das Amt für den militärischen Abschirmdienst dem Verteidigungsministerium untergeordnet.

Neben diesen Netzwerken der exekutiven Ebene haben sich zahlreiche private Initiativen gegen Extremismus gebildet. Dazu zählen etwa die Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rassismus engagiert, die Freudenberg Stiftung, die sich für Teilhaberechte von Minderheiten engagiert, das violence-prevention network und zahllose weitere Stiftungen, Räte und Initiativen. Auch die Gewerkschaften, der Deutsche Fußballbund und weitere Akteure der Zivilgesellschaft engagieren sich gegen Extremismus.

Beraten werden diese Akteure, seien sie nun zivilgesellschaftlich oder institutionell, durch die Wissenschaft, doch ist die Wissenschaftslandschaft im Bereich der Extremismusforschung höchst differenziert. Während eher konservative Kreise sich oft durch Wissenschaftler beraten lassen, die den „verfassungspolitischen” Ansatz nutzen, lassen sich eher sozialliberale Kreise durch Wissenschaftler beraten, die z. B. diskursanalytischarbeiten, sich im Rahmen der Sozialpsychologie mit dem Phänomen Extremismus beschäftigen, oder mit dem soziologisch orientierten ,Extremismus der Mitte‘ arbeiten. Ein gemeinsamer Rahmen, innerhalb dessen der Nutzen der verschiedenen Ansätze einer kritischen Prüfung unterzogen werden könnte, existiert nicht, auf beiden Seiten wird oft gegen die methodisch-theoretischen Gegner argumentiert — auch unter Nutzung des Extremismusvorwurfes. Das Feld ist von wechselseitiger Ignoranz geprägt. Doch fmdet sich diese Kontroverse nicht nur in Deutschland wieder — auch in England streitet man sich über die ,Orthodox Terrorism Studies‘ und die ,Critical Terrorism Studies‘, ähnlich Schlagworte finden sich hier. Während die orthodoxe Richtung sich eher auf einen starken Staat der Risikoprävention stützt, sehen die Anhänger der kritischen Studien nicht so sehr im Staat ein Allheilmittel, als vielmehr in einer aufgeklärten Bürgerschaft, die sich weder durch Extremisten, noch durch einen Präventionsstaat einschüchtern lassen wollen. Gerade das völlige Versagen der Sicherheitsinstitutionen im Fall des NSU macht die Notwendigkeit der Auseinandersetzung jedoch deutlich: Auf den Staat kann nicht verzichtet werden, wenn menschenverachtende Täter eine Spur der Verwüstung hinterlassen, doch ebenso wichtig ist ein zivilgesellschaftliches Engagement und ein kritisches Auge auf den Staat.

* Die Autoren danken dem Forschungsprojekt der Grantagentur der Tschechischen Republik, deren Unterstützung den Artikel möglich machte.

[1] Maßgeblich sind dies die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der SRP (1952) und der KPD (1956).
[2] Viola Neu legte hier einen interessanten Versuch vor: Das Janusgesicht der PDS: Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden, 2004.
[3] Erwin K. Scheuch/Hans-Dieter Klingemann (1967): Theorie des Radikalismus in westlichen Industriegesellschaften. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialpolitik 1967 (12). S. 11-29. Siehe dazu auch: Kai Arzheimer, Jürgen W. Falter: Die Pathologie des Normalen. Eine Anwendung des Scheuch-Klingemann-Modells zur Erklärung rechtsextremen Denkens und Verhaltens. In: Dieter Fuchs, Edeltraud Roller und Bernhard Wessels (Hrsg.): Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozeß. Festschrift für Hans-Dieter Klingemann. Wiesbaden 2002. S. 85-107.
[4] Peter Dudek/Hans-C’ierd Jaschke (1984): Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. 2 Bände. Opladen.
[5] Grieder, Alfons (1992): Ideologie, Unbegriffenes an einem abgegriffenen Begriff. In: Salamun, Kurt (Hg.): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 5.17–31, S. 22.
[6]„Je nachdem, ob die Ideen des Systems (wenigstens angenähert) die Überzeugungen aller Gruppenmitglieder zum Ausdruck bringen oder nicht, läßt zwischen rein bezeugenden und teilweise oder überhaupt nicht bezeugenden (insbesondere luziferischen) Ideologien unterscheiden“ Luziferisch, so führt er in einer Fußnote weiter aus, nennt er ldeologien dann, wenn der maßgebliche Kern der Trägergruppe das Gegenteil dessen glaubt, was sie mit dem System der ldeen zu propagieren vor-gibt. Grieder, Alfons (1992): Ideologie. Unbegriffenes an einem abgegriffenen Begriff. In: Salamun, Kurt (Hg.): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.17–31, S. 20.
[7] Salamun, Kurt (Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 45.
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[8] Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd. (Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 45.
[9] Salamun bezieht sich auf die Arbeiten The Two Principal Dimensions of Political Argumentation (In: Policy Sciences 1, 1970) und Ideology and Politics (London 1976) von Martin Seliger.
[10] Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd.
(Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 46.
[11] Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd. (Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 46.
[12] Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd.
(Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 46.
[13] Vgl. Peter Prechtl/Franz-Peter Burkhard (Hg.) (1999): Metzler Philosophie Lexikon (2.Auflg.), Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar, Stichwort Dichotomie S. 112, hier S. 129.
[14] „Auf der Sprachebene manifestieren sich solche Deutungsraster in emotional aufgeladenen Polarisierungskategorien und Schwarz-Weiß-Zeichnungen des politischen Geschehens. Damit werden in
ideologischen Denkgebilden komplexe gesellschaftliche Beziehungen und politische Sachverhalte immer wieder auf ein Entweder-Oder […] reduziert.” Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Groß-
ideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd. (Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 47.
[15]Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd.
(Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 48.
[16] Salamun, Kurt: Ist mit dem Verfall der Großideologien auch die Ideologiekritik zu Ende? In: Ebd. (Hg.) (1992): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 48.
[17]Uwe Backes/Eckhard Jesse (2005): Vergleichende Extremismusforschung. Baden-Baden, S. 186 f.
[18] Markus Thiel: Comparative Aspects. In: Ebd. (Hrsg.): The Militant democracy – Principle in Modern Democracies. Farnham, Burlington (2009), S. 379-424. Hier S. 387.
[19] Karl Loewenstein (1937): Militant Democracy and Fundamental Rights. Part one. American Political Science Review 31: 3, 1937. S. 417–432; Karl Loewenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights. Part two. American Political Science Review 31:4, 1937. S. 638-658.
[20] Astrid Bötticher/Hans-Jürgen Lange (2011): Wehrhafte Demokratie. In: Ulrich Dovermann (Hrsg.):
Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 1135. Bonn. S. 281–290.
[21] Uwe Backes/Eckhard Jesse (1989): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. II. Köln, S. 279 f.
[22] Andreas Klump: Freiheit den Feinden der Freiheit? – Die Konzeption der streitbaren Demokratie als
demokratietheoretisches Fundament zur Auseinandersetzung mit politischem Extremismus. Extremismus.com 2001. http://www.extremismus.com/texte/streitbar.htm 10.08.2011.
[23] Jakub Sedo: Volebni reformy a pozice antisystemovych stran v Ceske republice. Rexter 2 (1) http://www.barrister.cz/stratlrexter/page.php?ici=4.
[24] Giovanni Capoccia (2005): Defending Democracy: reactions to Extremism in Interwar Europe. Baltimore.
[25] Sonja Blum/Klaus Schubert (2009): Politikfeldanalyse. Wiesbaden, S. 33.

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