Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 197: Die rechte Gefahr

Der Spread als neue Legit­ma­tion?

aus: Vorgänge 197 (Heft 1/2012), S. 130-132

Jüngst konnte man in der FAZ den Satz lesen: „Erfolge und Misserfolge von Regierun-gen lassen sich heutzutage am besten an den Spreads  ablesen, der Fieberkurve der internationalen Finanzmärkte”.

Das ist eine Behauptung, die, wenn sie zuträfe, ein weiterer Beleg dafür wäre, dass es um die Gegenwart und Zukunft der Demokratie schlecht bestellt ist. Noch die fast täglich in den Medien veröffentlichten Meinungsumfragen der Demoskopen gehen ja – bei aller Problematik, die sie selbst für das demokratische Regieren erzeugen – von der ehemals für zutreffend gehaltenen normativen Leitvorstellung aus, dass in der Demokratie die Legitimität des Regierens auf der Beurteilung dessen Erfolges oder Misserfolges durch die Bürger und Bürgerinnen beruhe. Diese Beurteilung wird institutionalisiert in Wahlen regelmäßig abgefragt, in denen die Wählenden unabhängig von ihrer sozialen Stellung und ob sie arm sind oder reich gleichermaßen über eine Stimme verfügen. Man kann, ja man sollte ihre Stimmabgabe als Meinungsäußerung darüber ansehen, welche Partei oder gegebenenfalls Person gut regiert hat oder abgewählt und durch eine andere ersetzt zu werden verdient. Hans Kelsen, der zu oft im Schatten Carl Schmitts stehende große demokratische Rechts- und Verfassungstheoretiker des letzten Jahrhunderts, hatte deshalb gegenüber allen metaphysischen Aufladungen der Legitimität moderner Demokratien – zu denen auch eine angebliche Vernunftbasiertheit ihrer Institutionen und erst recht Entscheidungen gehört – von der Demokratie als einer relativistischen Weltanschauung gesprochen; gerade darin erweise sich ihre Freiheitsverbürgung für den Einzelnen, der gegebenenfalls in Wahlen und Abstimmungen momentan der Minderheit angehört. Das ist gerade in Deutschland, gerade auch bei einer immer noch an der volonte generale und Rousseau orientierten Linken oft sehr schlecht aufgenommen worden, denn wo die wie auch immer ermittelte Vernunft der volonte generale regiert, da befindet sich der mit ihrer momentanen regierungsamtlichen Interpretation nicht Übereinstimmende nicht nur in der Minderheit, sondern auch in der Unvernunft oder Unwahrhaftigkeit. Heute verbirgt sich diese Vernunftanmaßung in den öffentlichen Äußerungen der Politiker, häufig in der Behauptung von der Alternativlosigkeit der Entscheidungen und getroffenen Maßnahmen.

Nun also sollen sich angeblich „Erfolge und Misserfolge von Regierungen am besten an den Spreads” erkennen lassen. Mit dem wohl den meisten Bürgern und Bürgerinnen unverständlichen finanztechnischen terminus technicus „Spread” wird, vereinfacht gesagt, die Zinsdifferenz zu einem Basiszins bezeichnet, zu der sich Staaten je aktuell auf den internationalen Anleihemärkten refinanzieren können; diese Differenz, eben der Spread, ergibt sich aus dem Risikoaufschlag, den die Kreditsuchenden gegenüber jenem Schuldner bezahlen müssen, der zur Zeit am Anleihemarkt die beste Bonität besitzt. Muss etwa das verschuldete und auf Kredite angewiesene Deutschland derzeit etwa 2 Prozent oder sogar weniger Zinsen anbieten, so beträgt der Spread für manche andere Länder demgegenüber 4-7 Prozent und erreichte in den (vorläufigen) Spitzenzeiten für Griechenland sogar ca. 14 Prozent.

Nun soll also, glaubt man dem Kommentar der FAZ, diese Bonitätsbewertung an den internationalen Finanzmärkten zur entscheidenden Legitimitätsformel demokratischen Regierens erklärt werden. Aus demokratischer Perspektive, nach der es doch letztendlich die Bürger und Bürgerinnen eines demokratischen Gemeinwesens sein sollten, die die Souveränität innehaben und Legitimität spenden oder verweigern können, bedeutete diese Sichtweise de facto ihre Abdankung als Souverän. In Zukunft wären es die Wechselfälle auf und ab schwankender Kurse an internationalen Anleihemärkten, die über die Legitimität des Regierens in einem demokratischen Gemeinwesen ein entscheidendes Urteil fällen. Ein solches Markturteil ist die Folge von heute global dezentral ausgeübter Investitionsentscheidungen ganz unterschiedlicher Akteure, darunter Pensionsfonds und Lebensversicherungen, aber auch von Banken und privaten Anlage-unternehmen, darunter wiederum hochspekulativen Hedgefonds. Dieses Markturteil ist, wie man inzwischen gelernt hat, äußerst anfällig für Spekulationen, die sich auch auf den bewusst herbeigeführten Misserfolg einer Regierung richten können. Zentralbanken wie die EZB versuchen durch Kreditverknappung oder Erleichterung korrigierend auf dieses Zinsgeschehen Einfluss zu nehmen – aber angesichts des gewaltigen Finanzvolumens das hier weltweit im Spiel ist, sind ihre indirekten Steuerungsmöglichkeiten dem Volumen nach begrenzt und erfolgen zumeist zeitverzögert reaktiv. Außerdem mangelt es im globalen Finanzmarktgeschehen an einer internationalen Koordination und gemeinsamen Zielsetzungen, wie man in den letzten Jahren angesichts der unterschiedlichen Strategien der EZB und der US-amerikanischen Federal Reserve beobachten konnte. Länder wie China verfolgen ebenso eine international wirksame Währungspolitik, die vordringlich ihren nationalen Interessen genügt.

„Körnchen Wahrheit”. Keiner wegen der nationalen Verschuldung auf ständige Refinanzierung an den Anleihemärkten angewiesenen demokratischen Regierung kann das dortige Markturteil gleichgültig bleiben. In der heute durch vielfältige Interdependenzen vernetzten und „globalisierten” Welt hieße das erste Gebot, nationale Unabhängigkeit und damit Handlungsspielraum für die demokratische Regierung im Innern zu bewahren, sich durch Rückbau der strukturellen und aktuellen Verschuldung soweit wie möglich vom Urteil und Einfluss der Anleihemärkte unabhängig zu machen. Erst und nur wenn nationale Regierungen noch oder wieder über die auch für die (Um-)Verteilungspolitik im Innern notwendige finanzielle Handlungsfähigkeit verfügten und davon je nach politischer Ausrichtung einen profilierten Gebrauch machen könnten, gewönne das Politik beurteilende Votum ihrer Wähler und Wählerinnen wieder relevantes Gewicht. Heute, wo von den Gemeinden über die Länder bis zum Bund die Gefahr besteht, dass die aktuellen Zinslasten des Budgets die bezeichnenderweise so genannte „freie Spitze” des Budgets, über die die Parlamentarier überhaupt aktuell noch verfügen können, zu übertreffen drohen oder teilweise bereits übertreffen, trägt die innere wie globale Finanzsituation dazu bei, dass am Ende die Behauptung der FAZ cum grano salis doch noch wahr werden könnte. Das wäre dann ein weiterer Schritt in die Zukunft eines politischen Systemzustandes für den die Kennzeichnung „Demokratie” nur noch ein Euphemismus wäre, der verschleiern würde, dass die historisch einmal angestrebte und teilweise in Demokratien auch realisierte demokratische Regierung von dazu legitimierten und verantwortlichen Menschen durch die „Herrschaft” emergenter und wegen ihrer strukturellen Anonymität niemand gegenüber verantwortlicher „Mächte” ersetzt worden wäre.

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