Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 197: Die rechte Gefahr

Plädoyer für einen Paradig­men­wechsel bei der Bekämpfung der bei der Bekämpfung des Rechts­ex­tre­mismus

aus: Vorgänge: 197 (Heft 1/2012), S.29-38

Was sagt mehr über den moralischen Zustand einer Gesellschaft aus: die Existenz eines mörderischen rechtsterroristischen Trios oder die Tatsache, dass für die mittlerweile aufgedeckte Mordserie in der Öffentlichkeit die Opferfamilien verantwortlich gemacht wurden? Der Begriff „Dönermorde” steht nicht alleine für das Versagen staatlicher Organe in Thüringen. Er ist auch Ausdruck dafür, dass zur Bewertung rechtsextremer Taten nicht alleine der Blick auf die dafür verantwortlichen Strukturen und Personen gerichtet werden darf. Vielmehr sind immer auch die gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Reaktionen in den Blick zu nehmen. Nur so ergibt sich ein vollständiges Bild. Rechtsextremismus gefährdet Menschenleben. Seine jeweilige Ausformung, Stärke oder Schwäche ist dabei abhängig von den Interaktionen mit den demokratischen Kräften. Wer vom Rechtsextremismus redet, sollte somit nicht nur den Kapitalismus betrachten, sondern vor allem auch die demokratische Situation mitanalysieren. Der amtliche Rechtsextremismusbegriff lenkt von dieser Blickrichtung jedoch gezielt ab. Er lokalisiert den Extremismus an den politischen Rändern.

In der wissenschaftlichen Community gibt es wie in der Fachöffentlichkeit keine Einigung über die definitorischen Grundlagen zur Problematik.Verschiedene Schulen und Richtungen streiten um die Meinungshoheit. Das ist Ausdruck einer erfreulichen wissenschaftlichen Vielfalt. Auf Dauer jedoch ermüdet der „Stellungskampf‘ konträrer Positionen, wenn nicht Überlegungen zur Weiter- und, wo möglich, sogar zur Zusammenführung divergierender Positionen angestellt werden. Der Moment für solche Gedanken scheint günstig. Mit dem Auftauchen der rechtsterroristischen Zelle in Zwickau ist das bisherige staatliche Überwachungssystem ins Mark getroffen. Alle Verfassungsschutzberichte des letzten Jahrzehnts waren von Grund auf falsch. Über all die Jahre beteuerten die Zuständigen, dass rechtsterroristische Zellen nicht existierten und bereits im Entstehen entdeckt werden würden. Das Gegenteil war der Fall: Die Mörder verrichteten ihr Werk und die Opferfamilien wurden dafür öffentlich verdächtigt und mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. Die Bundeskanzlerin hat sich dafür derweil entschuldigt. Die Aufarbeitung der Geschehnisse ist noch nicht abgeschlossen, droht aber an technischen Abläufen der droht aber an technischen Abläufen der Informationsvermittlung festzulaufen. Eine neue zentrale Datei soll alle Rechtsextremisten umfassen. Was nützt aber diese Datei, wenn keine Klarheit darüber besteht, wer dort geführt wird? Die Zwickauer Zelle wäre Anlass genug, nicht nur an der technischen Sicherheitsarchitektur des Landes zu schrauben, sondern sich von neuem der tatsächlich vorherrschenden Gefährdungen und deren definitorischen Grundlagen zu vergewissern. Dazu will dieser Artikel einen Beitrag leisten. Er fragt, ob der amtliche Begriff den tatsächlichen politischen wie gesellschaftlichen Gefährdungslagen, die mit dem Begriff des Rechtsextremismus fachspezifisch wie öffentlich verbunden werden, gerecht wird. Dazu stellt er zunächst die empirische Herausforderung dar und stellt die Zusammenhänge zwischen scheinbar unverbundenen Phänomenen wie z. B. der Existenz rechtsterroristischer Zellen und abwertenden Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft dar. Am Ende gibt er einen Ausblick auf eine mögliche Überwindung der starren Begriffsverständnisse hin zu einer neuen Grundlage der Rechtsextremismusbekämpfung sowohl für den Staat als auch die gesellschaftlichen Akteure. Zunächst jedoch soll der amtliche Begriff des Rechtsextremismus gewürdigt und kritisiert werden.

Rechts­ex­tre­mismus im amtlichen Sinne

Der Arbeit der Staatschutz- und Verfassungsschutzämter liegt die Extremismustheorie zu Grunde. Extremismus ist demnach der „Gegenbegriff zum demokratischen Verfassungsstaat” (Jesse 2004: 21) und damit ein Oberbegriff für die Phänomene Rechts- und Linksextremismus, Terrorismus sowie einen politisch-religiös ausgerichteten Fundamentalismus. Extremistisch seien jene Bestrebungen, die in Opposition zum demokratischen Verfassungsstaat stehen. Jesse schreibt über den demokratischen Verfassungsstaat: „Er fußt auf zwei Bestandteilen, der demokratischen und der konstitutionellen Komponente. Mit der demokratischen sind die Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität und das Ethos fundamentaler Menschengleichheit gemeint. Die konstitutionelle stellt insbesondere auf die Geltung des Rechtsstaatsprinzips ab.

(Jesse2004: 9)
Extremistische Bestrebungen lehnten mindestens eines der beiden Elemente ab. Es handelt sich in diesem Verständnis zunächst um eine negativ ausgerichtete Definition, die alleine auf der Ablehnung eines Verfassungs- und Gesellschaftssystems beruht. Backes und Jesse gehen wie ihr Schüler Kailitz jedoch darüber hinaus und formulieren gemeinsame Wesenskerne der Extremisten. Zu diesen gehören:

  •  Der Glaube an die Möglichkeit einer homogenen Gesellschaft, in der eine Interessenidentität zwischen Regierenden und Regierten besteht.
     
  • Antipluralistische Einstellungen.
     
  • Der Glaube, im Besitz absoluter Wahrheiten zu sein.
     
  • Die Einteilung der Menschen in Gut und Böse.
     
  • Der Glaube, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten.
  • Neigung zu Dogmatismus und Verschwörungstheorien.
  • Neigung zu Fanatismus und manchmal auch zu Gewalttätigkeit. (Kailitz 2004:21–22)

Nach diesem Verständnis verfügten Rechts- wie Linksextremisten über gemeinsame Wesenskerne und lehnten gemeinsam den demokratischen Verfassungsstaat ab. Die Unterscheidung in die rechte wie linke Variante des Extremismus erfolgt dabei in der Beschreibung der jeweiligen Ziele der Akteure, die sich z. T. unterscheiden. Backes verdeutlicht diese Definition bildlich an dem Modell eines Hufeisens. An dessen linkem und rechtem Ende verortet er den „Rechts- bzw. Linksextremismus.” (Backes 1989: 252) Kailitz interpretiert dieses Bild folgerichtig, wenn er ausführt: „In diesem Modell berühren sich die Extreme von rechts und links nicht, auch wenn sie benachbart sind…” (Kailitz 2004: 25) Backes und Jesse spitzen das Verhältnis der Extremisten zueinander noch zu. So heißt es bei ihnen: „Rechts- und Linksextremisten brauchen mithin einander. Letztlich sind sie gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorrufen, was sie so heftig attackieren. (…).” (Backes/Jesse 1993: 400–401) Dieser Begriff des Extremismus steht dabei in enger Beziehung zum Totalitarismus. Nach Jesse stellt der Extremismusbegriff „eine Anwendung des Totalitarismusbegriffs auf diejenigen antidemokratischen Kräfte dar, die innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates wirken.” (Jesse 2004:13) Demnach wäre ein totalitäres Staats- oder Gesellschaftswesen das gemeinsame Ziel der Extremisten.

In der Forschungslandschaft blieb die Theorie nicht unwidersprochen. Ein Vorwurf lautet, dass der Ansatz den jeweils rechten und linken Extremismus gleichsetze. Das macht er nicht, er stellt sie in Beziehung zueinander, ohne ihre Unterschiede zu leugnen. Wichtig ist hingegen ein anderer Einwand: Die Extremismustheorie hat als Bezugsrahmen ausdrücklich den Staat und vernachlässigt damit die gesellschaftliche Dimension des Problems. Als staatstheoretische Konstruktion, die von einem demokratisch organisierten Verfassungsstaat ausgeht, ist die Theorie in sich durchaus schlüssig und kann als Ideenkonstrukt bis zu Denkern der Antike wie Aristoteles zurückverfolgt werden. Haben wir es beim Rechtsextremismus jedoch tatsächlich nur mit einem staatsfixierten Phänomen und damit einer staatsbezogenen Gefährdungslagen zu tun oder ist das Problemfeld vielschichtiger gestaltet und damit die Definition als Arbeitsgrundlage für staatliche wie gesellschaftliche Maßnahmen zu kurz greifend? Ein Blick in die Realität rechtsextremer Erscheinungen und deren Einbettung in gesellschaftliche Umfelder gibt dazu eine eindeutige Antwort.

Empirischer Überblick – vom Terror bis zur Mitte der Gesell­schaft

Blickt man kritisch auf die bisherigen Erkenntnisse zur rechtsterroristische Zelle in Zwickau, überrascht vor allem ihre Einbindung und Unterstützung aus anderen radikalisierten Bereichen des Rechtsextremismus. Die drei Mitglieder gehörten in den 90er Jahren zu den führenden Köpfen der so genannten Kameradschaft Jena, die wiederum zu-nächst Teil der Anti-Antifa Ostthüringen war und später deren Nachfolgerorganisation, dem „Thüringischen Heimatschutz” zugehörte. Ihre spätere Unterstützer entstammten alle diesem politischen Milieu. Bereits dieses kleine Beispiel zeigt, dass es somit fließende Übergänge zwischen den Gruppen zu geben scheint. Die gewalttätigste Variante ist dabei unzweifelhaft der Terrorismus.

Rechts­ter­ro­rismus in Deutschland

Politisch motivierter Terrorismus wird in Deutschland zumeist mit der RAF und nicht z. B. mit den Attentaten von Islamisten verglichen. Gibt es in Deutschland somit eine „braune RAF”? Die Frage kann nur verneint werden, und trotzdem gibt es rechtsterroristische Ansätze, nur nicht nach dem Ebenbild der linksextremen Seite. Rechtsterrorismus orientiert sich in Deutschland zumeist am amerikanisch geprägten Konzept des „leaderless resistance”, des führerlosen Widerstands. Demnach sollen sich Rechtsterroristen aus Angst vor der Verfolgung des Staates und – ganz im Sinne ihres paranoiden und antisemitischen Weltbildes – der Juden nicht zu größeren Netzwerken zusammen-schließen, sondern isoliert und vereinzelnd oder in Kleinstzellen – wie im Zwickauer Beispiel – auf eigene Veranlassung und ohne ein zentrales Führerkommando aktiv wer-den. Jeder ist dem Konzept nach selbst dazu aufgerufen, die Zeichen der Zeit zu interpretieren und z. B. durch eine Signaltat den Aufbruch zur Wiederauferstehung von
NSDAP und SA zu geben. Weitere Unterschiede zur RAF zeigten sich im gesellschaftlichen Herkunftsmilieu. Die RAF war ein bewusst intellektuell auftretendes und argumentierendes Terrorprojekt. Die Zwickauer Zelle hingegen verzichtete auf öffentliche Argumente und sogar auf ein öffentliches Bekenntnis zur Tat. Ihr Leben jenseits der Morde war geprägt durch typische Kleinbürgerlichkeit mit Katze, Camping und Urlaub an der Ostsee.

Weder die staatlichen noch die bürgergesellschaftliche Fachstellen können angesichts der grundlegenden Konzeption der isolierten und netzwerkunabhängigen Entscheidung sagen, ob und falls ja, wie viele Zellen oder Einzelpersonen sich derzeit zum Rechtsterrorismus hingezogen fühlen. Deutlich ist, dass der Weg in den innersten Kern des Diagramms über den zweiten Ring, die radikalen Netzwerke und Milieus läuft.

Bewegungs­för­miger Rechts­ex­tre­mismus

Die Unterscheidung in einen bewegungs- und einen parteiförmigen Rechtsextremismus bringt Ordnung in die Unübersichtlichkeit. Während die parteiförmigen Strukturen wie die NPD oder früher die DVU zumindest aus taktischen Gründen noch an den Spielregeln des parlamentarischen Systems teilnehmen, lehnen die bewegungsförmigen Strukturen eine Teilnahme ab. Sie begreifen sich als politische Revolutionäre. Ihr Ziel ist die Überwindung des politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Systems zugunsten der Widerauferstehung eines nationalen und sozialistischen Reichs nach der Blaupause des historischen Nationalsozialismus.

Der bewegungsförmige Rechtsextremismus stellt heute das Basisnetzwerk des modernen Rechtsextremismus. Er besteht in seinem aktiven Kern aus zwei Generationen, wird aber finanziell und organisatorisch nicht selten noch von Unverbesserlichen der „Erlebnisgeneration”, z. B. alten SS-Männern oder NSDAP-Verehrem, getragen. Die ältere, aktive Generation kann in Ostdeutschland noch auf die DDR-Zeit zurückblicken. Ab 1987 gründeten sich in vielen ostdeutschen Städten rechtsextreme Basisgruppen, die z. T. noch heute den Kern von Aktivisten ausmachen (Vgl. Wagner 1997). Die entscheidende Neuorganisation trat jedoch erst Mitte der 90er Jahre ein. Vorausgegangen war die bekannte Welle rechtsextremer Gewalt von 1991 bis 1993. Die staatlichen Stellen reagierten auf diese Eruption der Gewalt vielfältig. Neben der Änderung des Asylgrundrechts fand auch eine Welle von Verboten rechtsextremer Kleinstgruppen statt. Die damalige Szene reagierte darauf und organisierte sich neu in so genannten „Kameradschaften”. Das sind kleinere rechtsextreme Kadergruppen zumeist in einer Größenordnung zwischen 10 und 50 Personen, ohne formalisierte Strukturen. Intern sind sie strikt hierarchisch nach dem Führerprinzip organisiert. Aufgaben werden intern verteilt und die Nachwuchsrekrutierung gehörte neben der ldee der kulturellen Subversion auf kommunaler Ebene zu den Kernaufgaben. Sie konzentrierten sich fortan auf die kommunale Ebene und versuchten dort mit einem Mix aus Integrationsangeboten und Gewalt gegen Andersdenkende Dominanzzonen und Einflusssphären, so genannte „National befreite Zonen” zu organisieren (Vgl. Borste! 2011). Bundesweit entstand innerhalb weniger Jahre ein dichtes Netzwerk dieser Kameradschaften, die sich zu so genannten
regionalen Aktionsgruppen oder auch in Internetplattformen zusammenschlossen. Einige dieser Kameradschaften brachten sich auch in internationale rechtsextreme Netzwerke wie z. B. „Blood & Honour” oder den „Hammerskins” ein. Diese Netzwerke sind vor allem im Bereich des Rechtsrocks federführend, Zwar wurde in Deutschland die Gruppe „Blood & Honour” öffentlichkeitswirksam verboten. Das sich dahinter verbergende Netzwerk arbeitet aber nach Ansicht von Experten nahezu unberührt weiter.

Um die Jahrtausendwende organisierte sich im Umfeld von Kameradschaften vor allem in Berlin und Dortmund eine jüngere Generation von Rechtsextremisten. Sie übernahmen ästhetisch viele Codes und Insignien der linksextremen Szene, versuchte neue ideologische Schwerpunkte zu setzen und bezeichneten sich selbst als „Autonome Nationalisten”. In der Öffentlichkeit betonten sie vor allem eine scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Spaltungen dieser Gesellschaft und stellten sie in einen inhaltlichen Zusammenhang mit einer ausführlichen Globalisierungs- und Imperialismuskritik. Ihre Argumentationsweisen ähnelten nicht selten linken Gesellschaftskritiken. Die Antworten fielen jedoch anders aus. Wie die Kameradschaften propagieren auch sie die Auferstehung eines neuen nationalsozialistischen Staates. Lediglich die ästhetische Verpackung ist eine andere und die ideologische Herleitung modernisiert. Die Beziehungen dieser bewegungsförmigen Rechtsextremisten zu den rechtsextremen Parteien sind regional unterschiedlich und schwanken zwischen offener Zusammenarbeit z. B. in Mecklenburg-Vorpommern bis zur offenen Abgrenzung.

Partei­för­miger Rechts­ex­tre­mismus

Umstritten ist im Zwiebelmodell die Zuordnung der NPD. Natürlich ist zuvorderst eine Partei und nimmt am parlamentarischen System statt. Sie selbst bezeichnet sich jedoch als Organ des nationalen Widerstands. In mehreren Regionalstudien z. B. aus Mecklenburg-Vorpommern wird sie als von den Kameradschaften weitgehend gekaperte Partei beschrieben (Vgl. Buchstein/ Heinrich 2010). In anderen Regionen, z. B. im Ruhrpott, hingegen ignorieren die bewegungsförmigen Rechtsextremisten weitgehend die NPD. Dort ist sie nur noch eine sektenhafte Nischenpartei ohne gesellschaftlichen Einfluss.
Die Übergänge von der NPD zu den bewegungsförmigen Rechtsextremisten sind fließend, der Weg von dort in den Rechtsterrorismus eine individuelle Entscheidung. Von dieser Einheit versuchen sich rechtspopulistische Bewegungen und Parteien bewusst abzugrenzen. Sie kämpfen nicht gegen die Demokratie, sondern stellen sich als „wahre” Demokraten dar. Sie kritisieren die etablierten Parteien und versprechen eine Vertretung des „kleinen Mannes” in der Politik.

Rechtspopulismus

Im Gegensatz zum europäischen Umland ist Deutschland bisher vom dauerhaften Einzug einer rechtspopulistischen Partei in die Parlamente verschont geblieben. Das gesellschaftliche Potential für eine erfolgreiche Gründung wäre durchaus gegeben. Etwa jeder
zehnte Deutsche — so das Ergebnis der Bielefelder Untersuchung zu den „Deutschen Zuständen” — verfügt über ein enges rechtspopulistisches Weltbild (Klein! Heitmeyer 2012). Erste Ansätze  z.B. mit der Schill-Partei in Hamburg scheiterten bisher jedoch auch an der eigenen Unzulänglichkeit der Protagonisten. Lediglich regional lassen sich derzeit rechtspopulistische Bewegungsformen ausmachen, die vereinzelnd, wie z. B. in Köln, auch in kommunalen Parlamenten vertreten sind. Trotz dieser erfreulichen Organisationsschwäche ist das Mobilisierungspotential bedenklich. Der bewegungs- und parteiförmige Rechtsextremismus wirbt vor allem um deren Zustimmung, ideologisch hingegen ahnen sie Zustimmung viel tiefer in der Mitte der Gesellschaft.

Gruppen­be­zo­gene Menschen­feind­lich­keit

Die Vorstellung von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Menschen, die den Kern der Idee des Menschenrechts ausmacht, prägt das Verständnis moderner westlicher Gesellschaften. Ihr stehen verschiedene Ideologien entgegen, die von einer prinzipiellen Ungleichwertigkeit der Menschen ausgehen. Sie sind per se undemokratisch und stehen nicht selten in direktem Zusammenhang mit politisch motivierter Gewalt (Vgl. Küpper/ Zick 2008:129). Heitmeyer schreibt zu Recht: „Gewalt (…) stellt die finale Form von Machtaktionen dar. Die Vorformen der Gewalt sind vielfältig. Sie beginnen bei Abwertungen, können sich in Abwehr manifestieren, in Diskriminierungen ausdrücken und zu Ausgrenzungen von einzelnen Menschen allein schon aufgrund von faktischer, vermuteter oder zugeschriebener Gruppenzugehörigkeit führen.” (Heitmeyer 2002:15)

In dem Projekt „Deutsche Zustände” der Universität Bielefeld wurde zu den Vorformen das Modell der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit” entwickelt und in einer jährlichen Befragung empirisch seit 2002 immer wieder neu geprüft (Vgl. Heitmeyer 2012). Verschiedene Abwertungen von schwachen Gruppen wie z. B. im Rassismus, Antisemitismus, bei der Abwertung von Behinderten, Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen konnten zu einem Syndrom verdichtet nachgewiesen werden. Interessant ist dabei die Selbstverortung derjenigen, die dem Syndrom zustimmen: sie sehen sich in der überwiegenden Mehrheit als „Mitte der Gesellschaft”, wählen etablierte Parteien und würden vermutlich jede Verbindung zum Rechtsextremismus brüsk ablehnen (Vgl. Zick/ Küpper 2006). Ideologisch jedoch teilen sie das Kernstück rechtsextremen Denkens: die Ideologie der Ungleichwertigkeit der Menschen. Rechtsextremisten fühlen sich durch sie in ihrem Weltbild bestätigt und wähnen sich als politische Vertreter der „stillen” Mehrheit, die es zu aktivieren gelte. Es ist dieser Zusammenhang, der es erlaubt, von einer Bezugstheorie vom Terrorismus bis zum Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu sprechen (vgl. Borstel/Heitmeyer 2012).

Folgen für die defini­to­ri­schen Grundlagen

Blickt man vor dem Hintergrund dieser Zusammenschau noch einmal auf die definitorischen Grundlagen des Rechtsextremismus fällt deren mehrfache Begrenztheit auf. Weder lässt sich das Gefahrenpotential vollkommen an den politischen Rändern verorten, noch stimmt der ausdrückliche Staatsbezug. Der Rechtsextremismus in seiner Vielfalt und in seiner gesellschaftlichen Einbettung bis in die Mitte der Gesellschaft hinein versteht sich als politische, gesellschaftliche und ökonomische Systemalternative zur Demokratie. Der Kampf gegen den bestehenden Verfassungsstaat, Kernmoment der Extremismustheorie, ist darin nur ein Aspekt von mehreren. Erkennbar ist dies an den Opfergruppen rechtsextremer Gewalt. Sie trifft vor allem Migranten und politische Gegner. Staatsvertreter wie z. B. Polizisten gehören zwar auch dazu, stellen aber eine kleine Minderheit in der Gesamtzahl. Der Extremismusbegriff reicht somit weder für die Phänomenbeschreibung aus, noch ist er adäquat in der Praxis der Gefahrenabwehr.

Es wäre spätestens angesichts der Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit und der erkennbaren Begrenzungen der vorherrschenden Extremismusdoktrin an der Zeit, einen Paradigmenwechsel – weg vom Rechtsextremismus hin zur Demokratie als zentrale Kategorie – vorzunehmen. Hilfreich wäre ein Perspektivwechsel von der Täterorientierung hin zu dem, was es zu schützen gilt, und das sind vor allem die Demokratie und die demokratische Kultur, die allerdings nicht nur von rechtsextremer Seite angegriffen wird und auch aus sich selbst heraus immer gefährdet ist. Der Blick auf die Demokratie könnte die staatsfixierte Verengung der Extremismustheorie auflösen.

Nun ist Demokratie natürlich auch ein unterschiedlich definierter Begriff. Was ist damit gemeint? Eine gute Übersicht schafft die Unterteilung der Demokratie von Hirnmelmann in eine Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform (Himmelmann 2002). Dabei wäre generell vermessen, eine spezifische Demokratievorstellung als einzig demokratische vorauszusetzen, sondern Demokratie muss schon in ihrer Konstituierung dem Aushandlungsprozess der Bürger unterliegen. Die Herrschaft des Volkes über das Volk muss vom Volk dauerhaft selbst entwickelt und bestimmt werden, um nachhaltig den eigenen demokratischen Ansprüchen gerecht zu werden. Ein demokratischer Staat ist dabei auf eine scheinbar paradoxe Voraussetzung, nämlich auf kulturelle Einstellungen und Prägungen bei seinen Bürgern, angewiesen, die er selbst nicht garantieren kann. Jutta Limbach schreibt:

„Die Demokratie (…) hängt auch von ethischen Voraussetzungen ab, d, h. sie erfordert ein Mindestmaß an demokratischem Ethos bei Bürgern und Amtsträgern. Damit sind die öffentlichen Tugenden gemeint, auch Bürgertugenden gemeint, wie der Respekt vor dem anderen, ungeachtet seiner politischen Auffassung, die Bereitschaft zum Miteinanderreden und Verstehen wie die um Kompromiss, die Loyalität gegenüber Mehrheitsentscheidungen und die Beachtung demokratischer Verfahrensregelungen.” (Limbach 2003:40)

Der demokratische Staat und eine demokratische Gesellschaft brauchen Demokraten, die die Demokratie auch als Lebensform begreifen. Demokratie ist somit erheblich mehr als ein politisches Entscheidungs- und Verfahrensprinzip mittels Mehrheitsentscheid, sondern umfasst auch „…den Minderheitenschutz; das Ausklammern von Bereichen, in denen und über die nicht abgestimmt werden kann; die Freiheit der Diskussion und die Chance des Arguments; die klare Beschreibung von Verantwortlichkeiten.” (Brandt 1974: 269) Der demokratische Staat braucht somit zu seiner Absicherung und Funktionsfähigkeit eine demokratische Kultur in der Bevölkerung und dabei bestehtwiederum eine gegenseitige Angewiesenheit von Verfassung, deren Umsetzung und dem Vertrauen der Bürger in diese Strukturierung (Vgl. Schaal 2004).

An die Stelle eines verengten Blicks auf Staatsgefährdungen wie in der Extremismustheorie wäre eine dauerhafte Analyse von umfassenden Demokratiegefährdungen ein qualitativer Fortschritt für Wissenschaft und Praxis. Statt eines Verfassungsschutzberichtes, der jährlich jeder gesellschaftlich und politisch noch so einflusslosen Sekte, wenn sie sich nur radikal genug gebärdet, ein ausgiebiges Forum gibt, könnte ein jährlicher Bericht zum Zustand der Demokratie den Fokus der Beobachtung öffnen. Hinein gehörten dann nicht alleine die aktuellen Erscheinungen des Rechtsextremismus oder anderer Formen politischer Verwirrtheit, sondern auch Aussagen zur alltäglichen Verankerung der Grundwerte für schwache Gruppen, Integrationsbilanzen der gesellschaftlichen Entwicklung in Hinsicht auf Demokratie gefährdende Spaltungen, vor denen schon Staatstheoretiker wie Hermann Heller warnten, kritische Worte zu den Tendenzen der Postdemokratie sowie Aussagen zur demokratischen Qualität staatlichen und bürgergesellschaftlichen Handelns. Ein solcher Bericht, als in sich pluralistisches Produkt von Wissenschaftlern, Staatsorganen und Bürgern, wäre ein Quantensprung der deutschen Demokratieentwicklung und sowohl für die Bürger als auch für den Staat von Nutzen. Er würde die bestehenden Demokratieprobleme nicht auf jene kleinere Gruppe, der aktiv kämpferischen, gegen den Staat gerichteten Akteure reduzieren, sondern ihre Gefährdungen umfassend betrachten. Demokratiegefährdung wäre dann auch keine alleinige Aufgabe mehr für staatliche Repressionsorgane, sondern eine dauerhafte Herausforderung aller Demokraten und demokratischer Akteure in Staat und Bürgergesellschaft. Die Bedeutung des Rechtsextremismus könnte gewichtet und staatliches wie bürgergesellschaftliches Handeln endlich auch definitorisch auf eine neue Basis gestellt werden.

Literatur

Backes, Uwe 1989: Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer
normativen Rahmentheorie, Opladen.
Backes, Uwe/Jesse, Eckhard 1993: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Borstel, Dierk 2011: „Braun gehört zu bunt dazu!”. Rechtsextremismus und Demokratie am Beispiel
Ostvorpommern, Münster.
Brandt, Willy 1974: Über den Tag hinaus, Hamburg.
Buchstein, Hubertus/Heinrich, Gudrun (Hg.) 2010: Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Demokratie
und Rechtsextremismus im ländlichen Raum, Schwalbach/ TS.
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) 2012: Deutsche Zustände, Folge 10, Frankfurt.
Himmelmann, Gerhard 2002: Demokratie-lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, in: Breit, Gotthard/ Schiele, Siegfried (Hg.): Demokratie-lernen als Aufgabe der politischen Bildung,
Bonn, S. 21-39.
Jesse, Eckhard 2004: Formen des politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Inneren (Hg.):
Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahmen, Berlin, S. 7-
24.
Kailitz, Steffen 2004: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einiührung.
Lehrbuch, Wiesbaden.

Klein, Anna/Heitmeyer, Wilhelm 2012:auf dem rechten Weg ?Entwicklungen, rechtspopulistischer Orientierungen und politischen Verhaltens in den letzten zehn Jahren, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) 2012: Deutsche Zustände, Folge 10, Frankfurt, S.87-104

Limbach, Jutta 2003: Die Demokratie und ihre Bürger. Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur, München.

Schaal, Gary S. 2004: Vertrauen, Verfassung und Demokratie. Über den Einfluss konstitutioneller Prozesse und Prozeduren auf die Genese

von Vertrauensbeziehungen in modernen Demokratien, Wiesbaden.

Wagener, Bernd 1997: Rechtsexremismus und kulturelle Subversion in den neuen Ländern, Berlin.

Zick, Andreas/ Küpper, Beate 2006: Politische Mitte. Normal feindselig., in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg): Deutsche Zustände, Folge 4, Frankfurt, S.115-134.

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