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Gegen das Sterben-Lassen auf See

Die Initiative Watch the Med(iterranean) startet ein rund um die Uhr erreichbares Notruftelefon, aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 89-91

(Red.) Die praktische Unterstützung für in Seenot geratene Bootsflüchtlinge blieb bislang häufig privater Initiative überlassen. Ein politisches Bündnis versucht seit einigen Jahren, diese Initiativen zu koordinieren, um Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Sterben zu retten. Ein neu eingerichtetes „Alarmphone“ konnte bereits mehrfach dazu beitragen.

Der Anruf des Satellitentelefons aus dem zentralen Mittelmeer erreichte die Watch The Med-Hotline am Vormittag des 8. Januar 2015: 107 Bootsflüchtlinge, die in einem Schlauchboot aus Libyen Richtung Italien gestartet waren, baten aus Seenot um Hilfe und konnten ihre GPS-Koordinaten durchgeben. Sie befanden sich noch in der libyschen Search and Rescue-Zone, also dort, wo in den vergangenen Monaten immer wieder Menschen ertrunken waren. Das Schichtteam rief sofort die Rettungsleitstelle in Rom an, gab die Daten durch und bat um einen zügigen Rettungseinsatz. Der dortige Verantwortliche verwies zunächst auf die libysche Küstenwache und verweigerte weitere Informationen. Es dauerte zwar bis in den späten Abend und bedurfte mehrerer Anrufe sowie dutzender Protest-Emails an die italienische Küstenwache, aber schließlich wurde die Rettung des Bootes bestätigt. Einige Tage später stellte sich heraus, dass ein eritreischer Flüchtling auf dem Boot die Alarmnummer von Watch The Med zuvor in Libyen von einem Verwandten in Deutschland erhalten und mitgenommen hatte. Er hatte auf dem Boot veranlasst, diese Nummer anzurufen.

Der Fall vom 8. Januar 2015(1) ist hochaktuell und exemplarisch in mehrfacher Hinsicht. Denn zur Zeit gibt es einen internen Machtkampf um die Reichweite der Rettungsoperationen im zentralen Mittelmeer. Auf der einen Seite drängt die Grenzschutzagentur Frontex mit Nachdruck darauf, die Einsätze der Küstenwache auf die 30-Meilen-Zone entlang der italienischen Küste zu beschränken. Angesichts der bestehenden Situation ist dies faktisch ein Aufruf zum Sterben-Lassen. Hätte sich die Leitstelle in Rom in obengenanntem Fall an die Frontex-Vorgabe gehalten, wären die 107 Flüchtlinge mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben. Allerdings gibt es innerhalb der italienischen Küstenwache sowie des italienischen Militärs auch Kräfte, die aus den Dramen der vergangenen Monate und Jahre gelernt haben und im gesamten Mittelmeerbereich der Straße von Sizilien Rettungseinsätze durchführen wollen. In diesem Machtkampf ist es umso wichtiger, dass eine öffentliche Stimme wie das Watch The Med-Alarmphone zu Gunsten der betroffenen Bootsflüchtlinge intervenieren kann, und zwar in Echtzeit wie oben beschrieben.

Watch The Med entstand bereits 2012 als Monitoringprojekt. Die Initiative, die aus antirassistischen AktivistInnen, JuristInnen und ForscherInnen aus mehreren europäischen Ländern besteht, hat in den letzten Jahren mehrere Fälle des Sterben-Lassens auf See (Left-to-die) dokumentiert. Diese Recherchen dienten nicht zuletzt – wie im Falle von über 250 ertrunkenen syrischen Flüchtlingen am 11.10.2013(2) – zur Unterstützung der Überlebenden, wenn sie gegen die unterlassene Hilfeleistung der Küstenwachen vor Gericht gehen wollen.

Mit den wachsenden Erfahrungen über die Situation im zentralen Mittelmeer sowie angesichts der anhaltend hohen Zahl gefährlicher Seeüberquerungen kam sehr bald der Vorschlag auf, mit dem Projekt über die Rekonstruktion der Todesfälle hinaus zu versuchen, in Echtzeit einzugreifen, um weitere Tote zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wurde seit Frühjahr 2014 insbesondere in den Netzwerken, die wie Welcome to Europe, Afrique Europe Interact sowie Borderline Europe seit vielen Jahren in Recherchen und in der Flüchtlingsunterstützung an den Außengrenzen involviert sind, die Idee eines gemeinsamen Alarmtelefons diskutiert.

Am 11. Oktober 2014 startete das Projekt mit einem öffentlichen Aufruf, der von zahlreichen antirassistischen Netzwerken und selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen sowie von vielen zum Teil auch prominenten Einzelpersonen – wie Jean Ziegler, Etienne Balibar oder Elfriede Jelinek – unterstützt wurde. Da das Projekt selbst nicht retten kann, bietet es den betroffenen Boatpeople eine zweite Möglichkeit, dass ihr SOS wahrgenommen wird. Der Alarm dokumentiert und mobilisiert in Echtzeit, Rückschiebungen von Flüchtlingen und Migrant_innen sollen gestoppt werden – einerseits indem versucht wird, mit schnellem öffentlichem Druck Rettungsoperationen zu erzwingen. Zum anderen geht es darum, in der Nähe der in Seenot befindlichen Boote auch Frachtschiffe oder Tanker zu alarmieren.

In mittlerweile über 20 Fällen hat das Alarmphone in Seenot-Fällen interveniert und in mehreren Situationen dazu beigetragen, dass Rettungseinsätze veranlasst wurden.iii Das Projekt ist in allen drei Regionen aktiv, in denen Migrant_innen und Flüchtlinge versuchen, in die EU-Länder zu gelangen: in der Ägäis (zwischen Griechenland und der Türkei), im zentralen Mittelmeer (zwischen Libyen/Tunesien und Italien) und im westlichen Mittelmeer (zwischen Marokko und Spanien). Die Situationen sind zwar jeweils unterschiedlich, aber überall kommt es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen durch Fälle von Sterben-Lassen oder Rückschiebungen. Es wurden zudem Kontakte und Kooperationen mit Gruppen und Einzelpersonen wie z.B. Father Mussie Zerai entwickelt, die eine ähnliche Arbeit mittels Notrufnummern leisten und sich für das Recht auf Schutz und auf Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge und MigrantInnen auf See einsetzen. Father Mussie Zerai ist ein aus Eritrea stammender Priester, der in der Schweiz lebt und seit vielen Jahren von eritreischen Boatpeople auf seiner privaten Nummer angerufen wird, wenn sie in Seenot geraten.

Das Alarmphone wird von ehrenamtlichen Aktivist_innen getragen, die zum großen Teil seit vielen Jahren an den Außengrenzen engagiert sind: in den Netzwerken von Welcome to Europe, Afrique Europe Interact, Borderline Europe, Noborder Morocco oder bei Watch The Med. Sie arbeiten in lokalen Gruppen, machen Recherchen oder sind an Kampagnen in den genannten drei Regionen beteiligt. Aktivist_innen des Projekts kommen aus Tunis, Palermo, Melilla, Tanger, Cadiz, Marseille, Strasbourg, London, Wien, Bern, Berlin und aus weiteren Städten. Einige Beteiligte haben ihre persönliche Erfahrungen bei der Überquerung des Mittelmeeres in kleinen Booten gemacht. Das Projekt wird durch Spenden finanziert. Die Aktiven schulen sich mit Handbüchern, in denen Erfahrungen von Menschen eingearbeitet sind, die bereits seit Jahren als Ansprechpartner für Boatpeople fungieren. Und sie nutzen Online-Karten und das Know How des Monitoring-Projektes Watch The Med.

Als alltägliche Unterstützungsstruktur soll das Alarmphone 2015 weiter etabliert und in den Migrant_innen-Communities der Transitländer durch mehrsprachige Visitenkarten und Informationsflyer besser bekannt gemacht werden.

Baustein für globale Bewegungs­frei­heit

Die letzten Monate waren von antirassistischen Aktivitäten geprägt, die nicht selten massenmediale Schlagzeilen erreicht haben. Die Spannbreite reicht von der Aktion des Zentrums für politische Schönheit zum ersten Europäischen Mauerfall in Berlin bis zum Hungerstreik der Non-Citizens in München, vom ausdauernden Protestcamp der sudanesischen Geflüchteten in Hannover bis zur erneuten Bleiberechtsdemonstration in Hamburg, von der Kampagne gegen die Verschärfung der Asylgesetze bis zu den erfolgreichen Kirchenasylen gegen Dublin-Abschiebungen. Symbolischer Protest und alltäglicher Widerstand attackieren auf unterschiedlichen Ebenen die herrschende Flüchtlings- und Migrationspolitik. Sie spiegeln wider, was das gesamte Jahr 2014 geprägt hat: die inneren wie äußeren Grenzen der EU sind umkämpfter denn je, die sozialen und politischen Kämpfe der Migrationsbewegungen haben sich enorm verdichtet. Das Projekt des Alarmphone versteht sich als ein kleiner weiterer Baustein in diesem vielfältigen Widerstand für das Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Kurzfristig geht es um Rettung und die Verhinderung offensichtlicher Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Der Tod von Flüchtlingen und Migrant_innen auf See könnte längst Geschichte sein, wenn das Grenz- und Visumsregime aufgelöst würde. Insofern zielt das Projekt letztlich auf einen mediterranen Raum mit offenen Grenzen für alle Menschen.

HAGEN KOPP   ist aktiv in der Kampagne kein mensch ist illegal in Hanau.

Anmer­kun­gen:

(1) Siehe http://watchthemed.net/reports/view/93

(2) Siehe http://watchthemed.net/reports/view/32

(3) Siehe Zwischenbericht unter: http://www.watchthemed.net/media/uploads/page/12/WTM-Interim-Report-AlarmPhone.pdf

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