Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 208: Europas Abschottung

Manchmal sind Schlepper Lebens­retter

aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 144-146

Stefan Buchen: Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden. Dietz Verlag, Juni 2014, 200 Seiten, 14,80 Euro.

Menschen, die selbst einmal Flüchtlinge waren, holen ihre Frauen, Kinder und Verwandten aus dem syrischen Krieg illegal nach Deutschland. Dafür behandelt der deutsche Staat sie wie Verbrecher. Die Fluchthelfer, die „Schleuser“, werden von Regierung, Polizei, Justiz und Presse mit Terroristen und Mördern auf eine Stufe gestellt. In dem Fall, den Stefan Buchen recherchiert hat, verlieren Behörden und die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik jedes menschliche Maß. Die Angeklagten haben Pässe gefälscht, Grenzbeamte bestochen, Geld über Staatsgrenzen hinweg verschoben. Aber warum? Wie bewertet der deutsche Staat Verstöße gegen das Ausländerstrafrecht im Angesicht von Kriegsnot, Flucht und Vertreibung?

Der Panorama-Autor Stefan Buchen dokumentiert in seinem Buch, wie mehreren Syrern der Prozess wegen „organisierter Kriminalität“ gemacht wird – sie hatten seit 2011 insgesamt 270 ihrer Landsleute zur Flucht nach Deutschland, zu deren Verwandten verholfen. Vor dem Essener Landgericht wird nun ein aufwendig eingeleiteter Strafprozess geführt. Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, dass sich ca. 9 Millionen Syrer_innen auf der Flucht befinden und dass eine legale Einreise nach Deutschland erst seit Mai 2013 nur für 20.000 auserwählte Kontingentflüchtlinge überhaupt möglich ist.(3)

Prozess vor dem Essener Landgericht

Der Hauptangeklagte, ein Bauingenieur syrischer Herkunft aus Essen, wird verhaftet, weil er Geld nach Syrien überwiesen hatte, mit dem Flüchtlinge die „illegale“ Reise zu ihren Verwandten in Deutschland bezahlten. Von den Strafverfolgern wird er als führendes Mitglied einer international operierenden Schleuserbande angesehen. Dazu soll auch ein in Athen lebender Syrer gehören, den die Bundespolizei in Athen festnehmen und nach Deutschland ausliefern ließ. Er hatte in Griechenland gestrandeten syrischen Landsleuten Obdach, Kleidung und Papiere verschafft und bei der Weiterreise per Flugzeug zu Verwandten in Deutschland geholfen. Zwei Taxifahrer aus Frankreich, die die Flüchtlinge vom Pariser Flughafen ohne Aufpreis, aber auch ohne Visa, nach Deutschland gefahren haben, werden ebenfalls der Schleuserbande zugerechnet. Sie sind über Monate in Untersuchungshaft und verlieren ihre Existenzgrundlage.

Der Aufwand, den Bundespolizei und Staatsanwaltschaften im Kampf gegen „Schleuser“ betreiben, ist nur mit dem Ziel Deutschlands und der EU zu erklären, die Zahl der einreisenden Flüchtlinge gering zu halten und den Zuzug von Ausländer_innen „bedarfsgerecht“ zu steuern.

Buchen beschreibt die 2011 aufgenommenen Ermittlungen, in deren Verlauf ein Jahr lang Telefone im In- und Ausland abgehört, zehntausende Seiten Abhörprotokolle erstellt, Hausdurchsuchungen – allein in Deutschland sind es 37 – veranlasst, und Auslieferungsabkommen mit der Türkei und polizeiliche Kooperationsabkommen mit Griechenland in Anspruch genommen werden.

Die massenhafte Überwachung von Telefon- und Internetverbindungen wird von der Unterabteilung „Terrorismus“ des BND im Rahmen der „strategischen Fernmeldeaufklärung“ durchgeführt. Sie dient sowohl der Verhinderung als auch der Verfolgung von Straftaten. Der BND gibt personenbezogene Daten verdächtiger Schleuser an die Bundespolizei weiter. In den Protokollen der polizeilichen Ermittler wird das Wort Kriegsgebiet vermieden – der Krieg wird als „wachsende politische Lage in Syrien“ bezeichnet.

Hintergründe der Verfolgung von „Schleuserbanden“

In Anlehnung an die Bekämpfung des Terrorismus, die seit 2001 als Teil der Sicherheitspolitik verstanden wird, hat in der Migrationspolitik die Schleuserbekämpfung oberste Priorität. Dazu richtet die Bundesregierung 2006 das „gemeinsame Strategie- und Analysezentrum illegale Migration“ (GASIM) ein, das am Bundespolizeipräsidium angesiedelt ist. Der Aufbau dieser Institution entspricht dem 2004 gegründeten Terrorabwehrzentrum GTAZ, das den internationalen (islamischen) Terrorismus bekämpfen soll. Auch im GASIM arbeiten unterschiedliche Sicherheitsbehörden wie BKA, BND, Bundespolizei, Zoll und Verfassungsschutz mit dem Bundesamt für Migration zusammen, um Flüchtlingsströme zu ermitteln und Schleuserbanden zu bekämpfen.

Für Menschen, die aus Kriegsgebieten mit falschen Papieren fliehen oder auch nur falsche Angaben zu ihre Identität machen, ist heute etwas strafbar, was in der Geschichte der Bundesrepublik einst auf beeindruckende Weise legalisiert wurde:(4) Die Bundesrepublik erließ im Jahr 1949 eine Amnestie für alle Straftaten, die zwischen Kriegsende und 1949 begangen wurden und deren Strafmaß nicht mehr als zwei Jahre betrug. Nach Kriegsende hatten sich viele der damaligen Funktionsträger des NS Regimes eine neue Identität zugelegt. Mit der Amnestie wurden ihre Pass- und Urkundenfälschungen nicht mehr geahndet – sie konnten wieder zu ihrer alten Identität zurückkehren.

Ein weiteres Detail aus der bundesdeutschen Geschichte ist in diesem Zusammenhang interessant: Noch bis zur deutsch-deutschen Grenzöffnung wurden Fluchthelfer als Helden gefeiert, die Flüchtlinge aus Osteuropa mit falschen Papieren, versteckt in Fahrzeugen, gegen Entlohnung in den Westen brachten. Das BGH bewertete für die Fluchthelfer der 1970er Jahre die in der Regel eingenommenen 13.000 – 20.000 DM „nicht als von vornherein wucherisch und ausbeuterisch“. Dem Hauptangeklagten im Prozess vor dem Essener Landgericht rechnet der Richter vor, er hätte 300 Euro an einer Schleusung verdient. Den Schleusern von damals blieb ein Gewinn von 2.650 DM, inflationsbereinigt entspräche dies heute etwa 3.000 Euro.

Revision in 2015

Der Hauptangeklagte aus Essen und der Syrer aus Griechenland wurden vom Landgericht Essen zu drei Jahren Haft verurteilt. Alle der von den Angeklagten angeblich „eingeschleusten“ Flüchtlinge wurden asylrechtlich anerkannt. Die beiden Angeklagten hatten nach dem Urteil Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Das Berufungsverfahren läuft seit dem 15. Januar 2015. Die Bundesrichter prüfen, ob sich die besondere Situation in Griechenland auf die Verurteilung der beiden Fluchthelfer auswirkt. Wegen der schlechten Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern dort schickt Deutschland derzeit keine Flüchtlinge in den südeuropäischen Staat zurück.

Stefan Buchen verdeutlicht in seinem Buch auf eindrucksvolle Weise, in welcher Notlage sich Menschen befinden, die ihr Leben nach Europa retten konnten, doch weiter um das ihrer Angehörigen fürchten müssen. Die meisten Angehörigen haben kaum eine Möglichkeit, auf legale Weise zu ihren Verwandten nach Deutschland zu kommen. Was kostet sie der Weg in die Sicherheit und was kostet uns die Abwehr von Flüchtlingen? Ist die Unterstützung von Flucht oder die dementsprechende unterlassene Hilfeleistung strafbar? Und warum wird etwas zur Straftat, was unter menschlichen Aspekten eine Pflicht ist: das Leben anderer zu retten, wenn die Möglichkeit dazu besteht?

Helga Lenz
ist Mitglied im Bundesvorstand der
Humanistischen Union

Anmerkungen:

(3) Die UNO bezeichnete die Flüchtlingskrise von 2014 als die schlimmste seit dem Völker­mord in Ruanda in den 1990er Jahren

(4) S. Axel Nagler, Lob der Schleuser. Wer Menschen in Not hilft, ist kein Verbrecher. RAV-Infobrief 109, Juni 2014, abrufbar unter http://www.rav.de/publikationen/infobriefe/infobrief-109-2014/lob-der-schleuser/

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