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Editorial

aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 1-3

In den letzten Monaten werden die katastrophalen Folgen der europäischen Flüchtlingspolitik immer deutlicher: Regelmäßig spielen sich im Mittelmeer Flüchtlingsdramen ab. Nach einer Zählung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) kamen dort im vergangenen Jahr 3.419 Bootsflüchtlinge ums Leben;[1] die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Immer mehr Menschen sterben an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU), immer mehr Menschen sind auf der Flucht – vor Kriegen, Krisen, Verfolgung, Armut und Perspektivlosigkeit.

Wie reagiert die EU darauf? Die Flüchtlinge scheinen die EU-Mitgliedsstaaten zu überfordern, vor allem die Länder im Süden der Union. Das System der Dublin-Übereinkommen, wonach derjenige Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem eine Person erstmals innerhalb der EU polizeilich erfasst wurde, sorgt für ein massives Ungleichgewicht. In den krisengeschüttelten Staaten des Südens sind die rechtlichen und humanitären Unterstützungssysteme am Kollabieren. Dennoch sprechen sich die Staaten des Nordens – hier vor allem Deutschland, Frankreich und Österreich – gegen eine Neuregelung aus. Die verschiedenen Aspekte der europäischen Abschottung gegenüber und ihre verheerenden Folgen für die Menschen auf der Flucht ist Thema des aktuellen vorgänge-Schwerpunkts.

Einleitend diskutieren Daniel Thym und Jürgen Bast – zwei ausgewiesene Experten zum Asylrecht – den Zustand der europäischen Asylsysteme. Dorothee Frings setzt sich mit einigen Mythen und Hintergründen zur Migration in der EU auseinander. David Lorenz beschreibt anhand der Geschichte der Dublin-Übereinkommen, wie sich die Mitgliedstaaten gegenseitig die Verantwortung für Asylsuchende zuschieben: Das „Dublin-System“ hat in den vergangenen zehn Jahren nicht nur zwei Reformen erlebt, es beschäftigt auch die europäischen Gerichte. Für mehrere Länder bestehen mittlerweile EU-weite Abschiebeverbote, weil die dortigen Zustände für geflüchtete Menschen unannehmbar sind. Zugleich baut die EU ihre Strategien zur Abwehr von Flüchtlingen aus; ihre Grenzsicherungsmaßnahmen haben mittlerweile auch jene Länder erreicht, von denen aus Menschen Richtung Europa aufbrechen. Helge Schwiertz beleuchtet die so genannten „Mobilitätspartnerschaften“ mit mittlerweile acht europäischen Anrainerstaaten, die bei der EU-Grenzsicherung sowie der „Rücknahme“ von Flüchtlingen aus der EU eingebunden sind.

Matthias Lehnert erläutert Auftrag, Arbeitsweise und Struktur der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die immer wieder im Verdacht steht, menschenrechtliche Mindeststandards im Umgang mit Flüchtlingen zu verletzen. Wie schwierig es ist, Frontex auf ein transparentes, rechtsstaatlich kontrollierbares Handeln zu verpflichten, berichtet die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly. Matthias Monroy vertritt dagegen die Ansicht, dass Frontex nur die Spitze des Eisbergs ist, die europäischen Strategien zur Flüchtlingsabwehr und Grenzkontrolle viel weiter reichen. In seinem Beitrag skizziert er die zahlreichen Formen der Überwachung von Flüchtlingen und die enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Schließlich stellt Hagen Kopp mit „Watch the Med“ eine zivilgesellschaftliche Initiative vor, die der organisierten Verantwortungslosigkeit in der europäischen Grenzschutzpolitik etwas entgegensetzen und das „Sterben-Lassen auf See“ beenden will.
Welchen Handlungsbedarf gibt es angesichts solcher Probleme in der Asyl- und Flüchtlingspolitik? Dazu haben wir die im Bundestag vertretenen Parteien sowie die FDP und die Piraten befragt.

Mit den Parteipositionen leiten wir den zweiten Teil des Schwerpunkts ein, der sich mit der Situation in Deutschland befasst. Die deutsche Abschiebepolitik wurde im vergangenen Jahr durch mehrere Gerichtsurteile gebremst, u.a. wurde die hierzulande praktizierte Abschiebehaft für rechtswidrig erklärt – Heiko Habbe beschreibt die Auswirkungen und politischen Schlussfolgerungen in seinem Beitrag.

Auch ohne Haft werden in Deutschland immer mehr Abschiebungen durchgeführt, 10.884 waren es im vergangenen Jahr. Die meisten Abschiebungen fanden nach Serbien statt, darunter waren viele Angehörige der Roma. Sie genießen in den Balkan-Staaten kaum Schutz, gehören zu den am meisten verfolgten Minderheiten in Europa. Umso befremdlicher ist es, dass die große Koalition im September 2014 Serbien, Bosnien Herzegowina und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärte, und damit die Prüfung von Asylanträgen aus diesen Ländern weiter verkürzte. Die Auswirkungen dieser Entscheidung kommentiert der Bundes Roma Verband.

Das zweite große asylpolitische Gesetzgebungsverfahren dieser Bundesregierung – die Einführung einer Bleiberechtsregelung und die Neuordnung des Abschiebe- und Ausweisungsrechts – ist derzeit noch im parlamentarischen Verfahren. Den Entwurf dieses Gesetzespakets kommentiert das Komitee für Grundrechte und Demokratie.
2014 wurden fast 7.000 Menschen von der Bundespolizei nach Kontrollen im Inland zurückgewiesen bzw. an der Grenze zurückgeschoben. Die Zurückweisungen gehen nicht selten auf Kontrollen zurück, bei denen „racial profiling“ angewandt wird. Für viele seit Jahren hier lebende MigrantInnen gehört es deshalb zum Alltag, dass sie bei jeder Gelegenheit von der Polizei angehalten und überprüft werden – allein aufgrund ihrer ethnischen Andersartigkeit. Dagegen wehren sich immer mehr Betroffene. Vera Egenberger berichtet von den aktuellen Verfahren gegen diese Form diskriminierender Polizeiarbeit.

Eine andere Unterstützung erfahren hier lebende Flüchtlinge durch junge Jurist_ innen, die ihnen im Rahmen sogenannter Law Clinics bei der Bewältigung ihrer Asylverfahren und anderer bürokratischer Hürden helfen. Maximilian Oehl stellt die Arbeit der Refugee Law Clinic Köln stellvertretend vor. Den Schwerpunkt schließt ein Gespräch mit der bündnisgrünen Politikern Claudia Roth ab, in der sie Perspektiven einer menschenrechtskonformen Migrations- und Flüchtlingspolitik entwirft.

Über den Schwerpunkt hinaus bietet diese Ausgabe der vorgänge Beiträge zu zahlreichen aktuellen bürgerrechtlichen Themen. Michael Plöse setzt seine im letzten Heft begonnene Analyse des reformierten Antiterrordateigesetzes fort. Ein weiteres Sicherheitsgesetz hat die Bundesregierung im Frühjahr auf den Weg gebracht: die Reform des Bundesverfassungsschutzes. Unter der Überschrift einer verbesserten Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern sieht das Gesetz eine deutliche Aufwertung des Bundesamtes und eine zentralisierte Auswertung der Datenbestände aller Verfassungsschutzämter vor. Das Gesetz enthält jedoch noch deutlich mehr: so sollen erstmals die kriminellen Machenschaften von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern des Verfassungsschutzes gesetzlich legitimiert werden; zudem sieht das Paket neue Überwachungsbefugnisse für den Bundesnachrichtendienst vor. Sven Lüders fasst die Kritik an dem Vorhaben zusammen.

Außerdem dokumentieren wir in dieser Ausgabe den aktuellen Stand der jährlichen Staatsleistungen, die die Länder an die beiden christlichen Kirchen entrichten. Obwohl unsere Verfassung seit nunmehr fast 100 Jahren vorschreibt, dass diese Subventionen abzuschaffen sind, verweigern sich Bund und Länder diesem Auftrag – und das angesichts hoch verschuldeter öffentlicher Kassen.  Johann-Albrecht Haupt erläutert noch einmal, um welche Zahlungen es sich bei den Staatsleistungen handelt und was es mit dem Ablösegebot auf sich hat.

Die gesamte Redaktion wünscht Ihnen wie immer eine anregende Lektüre mit der neuen Ausgabe und freut sich über Ihre Anmerkungen, Kommentare und Kritiken.

Claudia Krieg und Sven Lüders
für die Redaktion

Heftvorschau:

vorgänge 209 Cyber-Sicherheit
vorgänge 210 Gesetzgebung zum Verbot der Suizidbeihilfe

Anmerkungen:

[1]  Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2014.

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