Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 208: Europas Abschottung

Mosaik der Diskri­mi­nie­rung

aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 140-144

Roma Center Göttingen und alle-bleiben-info (Hrsg.), Abgeschobene Roma in Serbien – journalistische, juristische und medizinische Recherchen, Redaktion: .Jean-Philipp Baeck & Allegra Schneider, 2014, unter http://www.alle-bleiben.info/wp-content/uploads/2014/03/serbien_2013_web.pdf

Die Bundesregierung hat Serbien zum „sicheren Herkunftsstaat“ erklärt, dabei ist die Situation von abgeschobenen Roma dort äußerst prekär. Eine Broschüre, die von Ärzt_innen, Jurist_innen und Journalist_innen nach einer gemeinsamen Reise herausgegeben wurde, bestätigt dies eindrücklich und auf erschreckende Weise.

Seit Monaten wird in Deutschland über Einwanderung aus Südosteuropa diskutiert. Oft ist dabei pauschal die Rede vom „Asylmissbrauch“ durch Menschen, die nach Deutschland kämen, um sich hier zu bereichern. Besonders betroffen davon sind Roma aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, die seit Einführung der Visafreiheit 2010 vermehrt als Asylsuchende nach Deutsch­land kommen. Dahinter liegen rassistische Vorannahmen, die einer ganzen Bevölkerungsgruppe unlautere Absichten unterstellen, während die individuellen Fluchtgründe und Schicksale der Menschen ausgeblendet werden.

Die Bundesregierung selbst bedient diese Vorurteile   gleichermaßen durch populistische Rhetorik in den Medien wie durch restriktive Verfahren gegenüber Asylsuchenden aus dem Westbalkan. Am 19. September 2014 hat nun der Bundesrat über einen vom Bundestag bereits verabschiedeten Gesetzentwurf entschieden, der Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien als »sichere Herkunftsstaaten« einstuft. Menschen, die aus diesen Ländern in Deutschland Asyl beantragen, müssen im Rahmen ihres Asylantrags eigene Beweise dafür vorlegen, dass sie in ihren Heimatländern Verfolgung oder unmenschlicher bzw. erniedrigender Bestrafung oder Behandlung ausgesetzt sind. Gelingt es ihnen nicht, die Vermutung „sicherer Herkunft“ eigenständig und eindeutig zu widerlegen, wird ihr Asylantrag pauschal als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und sie müssen Deutschland innerhalb einer Woche verlassen. Klagen gegen die Ablehnung haben keine aufschiebende Wirkung.

Dadurch wird die bereits zuvor vom Bundesamt vertretene pauschale Annahme, Antragssteller_innen aus dem Westbalkan hätten per se keine legitimen Fluchtgründe, rechtlich abgesichert. In den verkürzten Verfahren werden Qualitätsstandards unterlaufen und Fluchtgründe nicht mit der gebotenen Gründlichkeit geprüft. In der Folge werden die Asylanträge von AntragstellerInnen aus diesen Ländern bereits jetzt fast ausnahmslos als offensichtlich unbegründet abgelehnt und die Betroffenen rasch abgeschoben oder zur „freiwilligen“ Ausreise gedrängt.

Was aber sind die Hintergründe, vor denen Roma aus Serbien in die EU fliehen? Was erwartet sie, nachdem sie aus Deutschland abgeschoben wurden oder „freiwillig“ ausgereist sind und wieder in Serbien ankommen? Welche Möglichkeiten haben sie, für sich und ihre Familien ein Überleben zu sichern? Mit diesen Fragen besuchten wir im Juni 2013 als Teil einer Gruppe von AnwältInnen, AktivistInnen, JournalistInnen und einer Ärztin abgeschobene Roma in Serbien.

Die Situation der Rückkehrer_innen

Seit dem 1. Januar 2008 besteht zwischen der Europäischen Union und Serbien ein Rückübernahmeabkommen. Mit dem Abkommen verpflichtet sich Serbien, auf Ersuchen eines EU-Mitgliedstaats alle serbischen Staatsangehörigen „rückzuübernehmen“, die die Bedingungen für die Einreise oder den Aufenthalt in diesem Staat nicht oder nicht mehr erfüllen. Auch hat sich Serbien verpflichtet, diejenigen Menschen zurückzunehmen, die vom serbischen Staatsgebiet aus in das jeweilige Land ausgereist sind, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.

Nach Auskunft des serbischen Kommissariats für Flüchtlinge und Migration sind zwischen 2008 und 2012 etwa 6.259 Personen von den EU-Staaten über den Belgrader Flughafen Nikola Tesla zurückgeführt worden. Genaue Informationen zur Zahl der Rückkehrer_innen nach Serbien fehlen jedoch, unter anderem weil die Mehrheit der abgelehnten Asylsuchenden mit dem Bus nach Serbien zurückkehrt und daher nicht erfasst wird.

Zudem möchten viele Rückkehrer_innen nicht als solche registriert werden, weil sie negative Folgen befürchten, z.B. dass sie an der Grenze nach Überprüfung ihrer Daten an einer erneuten Ausreise gehindert werden könnten. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Rückkehrer_innen Roma sind, denn es sind vor allem Roma, die als Asylsuchende in andere EU-Länder migrieren. Insofern kann die Situation von Rückkehrer_innen nicht losgelöst von der allgemeinen Situation von Roma in Serbien betrachtet werden.

Anlässlich der Zeichnung des Rückübernahmeabkommens mit der EU hat die serbische Regierung eine Strategie zur Reintegration von Rückkehrer_innen entwickelt. Zentrale Elemente dieser Strategie sollen unter Federführung des Kommissariats für Flüchtlinge und Migration umgesetzt werden. Das Kommissariat ist verantwortlich für die (Not-)Aufnahme von Rückkehrer_innen, deren Identifizierung und für das Bereitstellen von Informationen über Hilfsangebote. Zu diesem Zweck betreibt das Kommissariat ein Informationsbüro am Belgrader Flughafen, das abgeschobene serbische Staatsangehörige in Empfang nehmen und hinsichtlich Fragen zur Registrierung beraten soll.

In der Praxis scheinen die Aktionspläne und Hilfsmaßnahmen jedoch kaum eine Wirkung zu zeigen. Von der Existenz eines Informationsbüros am Flughafen wusste keine der Familien, mit denen wir während unserer Recherchereise sprachen. Das Informationsbüro soll nach Auskunft des Kommissariats für Flüchtlingsfragen besonders Schutzbedürftige unter den Rückkehrer_innen identifizieren und Schritte in die Wege leiten, damit diese angemessen versorgt werden.

In der Realität werde medizinischer Beistand nur im äußersten Notfall herbeigeholt, oder bei sehr offensichtlicher Schutzbedürftigkeit wie Schwangerschaft oder körperlicher Behinderung, wie uns ein Mitarbeiter des Büros am Flughafen mitteilte. Auch eine kurzzeitige Unterbringung in den wenigen für Rückkehrer_innen vorgesehenen Notunterkünften wird nur sehr selten angeboten. In den meisten Fällen versuchen Rückkehrer_innen, bei Verwandten und Bekannten unterzukommen oder landen in informellen Siedlungen bzw. in der Obdachlosigkeit.

Viele Rückkehrer_innen scheuen davor zurück, sich an den Beauftragten für Flüchtlingsfragen in ihrer Gemeinde zu wenden, weil sie durch die Registrierung als Rückkehrer_innen und damit als in der EU abgelehnte Asylsuchende Nachteile befürchten. In den serbischen Öffentlichkeit wird seit Einführung der Visafreiheit eine Debatte um sogenannte „falsche“ AsylantragstellerInnen geführt. Roma, die in den Ländern der EU einen Asylantrag stellen und abgelehnt wurden, werden als eine Gefahr für die serbische Integration in die EU angesehen. Dies trägt zur weiteren Stigmatisierung von Roma in Serbien bei, verschärft den ohnehin allgegenwärtigen Rassismus und stellt einen berechtigten Grund zur Sorge dar, sich als RückkehrerIn zu bekennen.

Schockzustand nach der Abschiebung

Die Situation vieler Rückkehrer_innen ist äußerst prekär. Die NGO Group 484 listet in ihrem Bericht „Challenges of forced migration in Serbia“ eine Reihe von Problemen auf, mit denen Rückkehrer_ innen unmittelbar nach der Ankunft in Serbien am häufigsten konfrontiert sind. Dazu gehören fehlende Papiere, fehlende Gesundheitsversorgung, finanzielle Mittellosigkeit, kaum überwindbare Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt, der teils langfristige Ausschluss aus dem Bildungssystem – unter anderem, weil die abgeschobenen Kinder kein Serbisch sprechen – sowie Probleme bei der Wohnungssuche.

Group 484 beschreibt die Situation von abgeschobenen Menschen als besonders kritisch. Sie seien, im Gegensatz zu den „freiwilligen“ Rückkehrer_innen, auf die Rückkehr zum Teil nicht vorbereitet gewesen und befänden sich in einer Art Schockzustand, unfähig mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Unsere Erfahrungen während der Recherchereise und unsere Gespräche mit Abgeschobenen bestätigen dies: Nicht selten landen nach Serbien Abgeschobene fast unmittelbar in irregulären Siedlungen an Stadträndern oder im Wald, ohne Wasser- und Stromversorgung, in dürftig gebauten Hütten aus Pappe und Sperrholz.

Viele unserer Gesprächspartner_innen in diesen Siedlungen waren junge Menschen, die den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht hatten. Sie waren völlig fassungslos angesichts der Umstände, in denen sie sich in Serbien wiederfanden. Aber auch diejenigen, die nur kurze Zeit in Deutschland gelebt hatten und nur wenige Monate nach der Ablehnung ihrer Asylanträge abgeschoben wurden, planten angesichts der fehlenden Möglichkeiten zur Existenzsicherung in Serbien bereits die nächste Ausreise.

Spirale der Unterversorgung

Die Probleme bei der Wiedereingliederung nach einer Rückkehr sowie die insgesamt schwierigen Lebensbedingungen für Roma in Serbien führen dazu, dass viele erneut migrieren. Vor allem diejenigen, die in den frühen 2000er Jahren aus der EU zurückgekehrt sind, konnten in der vom Krieg und vom kapitalistischen Transformationsprozess veränderten Gesellschaft nicht wieder Fuß fassen und nutzen die Visafreiheit nun, um ein zweites Mal auszuwandern.

Aufgrund der behördlichen Registrierungshürden können viele Roma in Serbien keine Personaldokumente erhalten und dadurch weder eine Wohnanmeldung, noch eine Gesundheitskarte oder eine Meldung als Arbeitssuchende erwirken. Selbst dann, wenn sie sich registrieren und Sozialleistungen erhalten können, reichen diese ohne zusätzliche informelle Hilfe oder Beschäftigung nicht zum Überleben aus. Bereits vor der Abschiebung schwer erkrankte Menschen haben in Serbien in vielen Fällen kaum eine Aussicht auf eine angemessene Weiterbehandlung.

Dadurch entsteht für Roma in Serbien eine Spirale der Unterversorgung, die kaum durchbrochen werden kann. Sie ist geprägt von einem in allen Gesellschaftsschichten etablierten und unverhohlenen Rassismus, permanenten Ausschluss und Diskriminierungserfahrungen im Alltagsleben und in staatlichen Institutionen. Die Folge ist ein Dahinvegetieren weit unterhalb des Existenzminimums und eine unmittelbare existenzielle Bedrohung nicht nur für besonders schutzbedürftige Menschen wie Kinder, Ältere und Kranke.

Die Ursachen dafür sind angesichts der gesetzlichen Regelungen in Serbien, die pro forma Rechte für alle BürgerInnen garantieren, auf den ersten Blick nicht einfach nachzuvollziehen. Erst durch das Zusammenspiel von Ausschlüssen und Diskriminierung entsteht eine systematische Verletzung sozialer Rechte der Roma in Serbien und ihre Verdrängung in Elendssiedlungen und ins gesellschaftliche Abseits. Die Flucht ist eine Überlebensstrategie, da es für die meisten kaum einen Ansatzpunkt gibt, wie sie aus dem Kreislauf der fehlenden Dokumente, Diskriminierung, mangelnder Versorgung, existenzbedrohender Armut und Ausgrenzung heraus kommen können.

Der Anwalt Reinhard Marx plädiert dafür, dass für die Verletzung sozialer Rechte im Flüchtlingsschutz kein anderer Maßstab als für die Verletzung politischer Rechte zugrunde gelegt werden sollte.(1) In ihrer Summe könnten diese eine ähnlich schwere Rechtsverletzung darstellen wie eine politische Verfolgung. Gerade weil ihre Ausermittlung nicht so unmittelbar auf der Hand liegt, bedarf es einer genaueren Einzelfallprüfung, um festzustellen, ob die Diskriminierungen auf eine Art zusammenspielen, die eine existenzielle Bedrohung für Schutzsuchende bedeutet. Diese genauere Einzelfallprüfung sucht die deutsche Bundesregierung zu umgehen, wenn sie Staaten wie Serbien pauschal zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Sie höhlt das Asylrecht als Individualrecht aus, indem sie vorschnell und im Voraus feststellt, was sie nach rechtsstaatlichen Kriterien sorgsam und in einzelfallbezogener Betrachtung prüfen müsste. Zudem entbehrt die von der Bundesregierung vorgenommene Einstufung von Serbien und Mazedonien als sichere Staaten laut einem Gutachten von Pro Asyl(2) der verfassungsrechtlichen Grundlage, weil Tatsachen und Beweise hierfür nicht gründlich genug geprüft wurden. Die Beweise sind jedoch vielfältig und erdrückend – Serbien ist kein sicherer Staat für Roma.

Der Artikel ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus der o.g. Broschüre.

Ivana Domazet ist Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats Brandenburg,
Martina Mauer ist Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats Berlin.

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