Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 208: Europas Abschottung

„Wenn jemand vor Ihrer Haustür im Sterben läge, würden Sie die Verant­wor­tung über­­neh­men und handeln.“

Interview mit Emily O’Reilly, Ombudsfrau der Europäischen Union, aus: vorgänge Nr. 208 (Heft 4/2014), S. 76-78

(Red.) Die Irin Emily O’Reilly ist seit dem 1. Oktober 2013 Ombudsfrau der Europäischen Union. Ihre zentrale Aufgaben ist es, Beschwerden über Missstände in den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union nachzugehen. In dieser Funktion hat Emily O’Reilly auch die Arbeit der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex untersucht, deren Einsätze an den europäischen Außengrenzen immer wieder in der Kritik stehen. Gegenüber den vorgängen berichtet sie von den bisherigen Ergebnissen ihrer Recherchen und Interventionen.

Frau O’Reilly, Sie sind seit einem Jahr im Amt. Fast zeitgleich mit ihrem Amtsantritt ertranken im Mittelmeer am 3. Oktober 2013 mindestens 366 Flüchtlinge. Hat diese Katastrophe den Beginn Ihrer Arbeit beeinflusst?

Diese und andere Tragödien, die wir in den letzten Jahren an der europäischen Mittelmeerküste miterlebt haben, können niemandem gleichgültig sein. Wenn jemand vor Ihrer Haustür im Sterben läge, würden Sie die Verantwortung übernehmen und handeln. Das Mittelmeer ist vor Europas Haustür, daher müssen wir die Verantwortung übernehmen und etwas unternehmen, um Menschenleben zu retten. Dies ist eine humanitäre Katastrophe, bei der Politik nebensächlich ist. Daher ist diese Angelegenheit ein Hauptbereich meiner Arbeit.

Im Zuge der zahlreichen Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer gerät auch die Grenzschutzagentur Frontex immer mehr in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Namhafte NGO’s werfen Frontex starke Verstöße gegen die Menschenrechte vor.i Welche Gründe haben Sie veranlasst, verschiedene Untersuchungen zu den sogenannten Joint Return Operations (JROs) von Frontex einzuleiten?

Es ist meine Aufgabe sicherzustellen, dass die EU-Institutionen, einschließlich Agenturen wie Frontex, im Hinblick auf Transparenz, ethisches Verhalten und Einhaltung von Grundrechten den höchsten Ansprüchen genügen. Bei Abschiebungen besteht naturgemäß die Gefahr, dass ernsthafte Grundrechtsverletzungen vorkommen können. Mit Hilfe dieser Untersuchung möchte ich herausfinden, wie Frontex gegen mögliche Grundrechtsverletzungen gewappnet ist.

Als EU-Agentur operiert Frontex seit dem Jahr 2005 und genießt dabei weitgehende Autonomie. Agenturhandeln und Entscheidungsprozesse bleiben undurchsichtig. Wie können die Vorwürfe und Bedenken von menschenrechtlichen Zuwiderhandlungen damit in Übereinstimmung gebracht werden – oder präziser: Wer kontrolliert Frontex?

Ich bin generell der Auffassung, dass die EU-Institutionen und Agenturen offen und transparent arbeiten sollten, sonst ist es für die Öffentlichkeit schwierig, ihren Handlungen und Entscheidungen zu vertrauen. Selbstverständlich gilt das auch für Frontex. Frontex spielt eine große Rolle bei der Koordination der Erstaufnahme von Asylsuchenden und anderen Migrant_innen, die versuchen, die europäische Küste zu erreichen. Mit den Ergebnissen meiner Untersuchungen kann ich Mängel bezüglich der Transparenz oder der Einhaltung von Grundrechten aufzeigen. In dieser Hinsicht hat mein Amt eine Wächterfunktion.

Was haben Ihre bisherigen Untersuchungen zu Frontex-JRO’s ergeben?

Die Untersuchung darüber, wie Frontex sicherstellt, dass die Grundrechte von Migranten_innen respektiert werden, die in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, dauert noch an. Ich habe Frontex um Erläuterungen gebeten, wer die Verantwortung für das Wohlergehen der Rückkehrer_innen während der Flüge trägt und wie eine unabhängige Überwachung während der Rückführungsaktionen gewährleistet werden kann.

Um den Zusammenhang zu verdeutlichen: Eine EU-Richtlinie legt gemeinsame EU-Standards und Verfahren für die Abschiebung von Personen aus Drittländern fest, die sich unrechtmäßig in der EU aufhalten (z.B. abgelehnte Asylbewerber_innen). EU-Mitgliedstaaten ordneten 2012 die Ausreise von 484.000 Personen an, von denen ungefähr 178.000 tatsächlich die EU verließen. Frontex koordiniert gemeinsame Rückführungsaktionen, an denen verschiedene EU-Mitgliedstaaten teilnehmen. Von 2006 bis 2013 fanden 209 solcher Aktionen statt, bei denen insgesamt 10.855 Personen abgeschoben wurden.

Meine Untersuchung umfasst Frontex‘ Zusammenarbeit mit staatlichen Kontrollinstanzen, wie z.B. Ombudsleuten. Ich habe allen meinen Kolleg_innen im Europäischen Verbindungsnetz der Ombudsleute geschrieben und sie um relevante Informationen über Abschiebungen gebeten. Die Untersuchung umfasst außerdem die Überwachung gemeinsamer Rückführungsaktionen oder die Behandlung von Rückkehrern, die z.B. krank oder im fortgeschrittenen Stadium einer Schwangerschaft sind. Sie wirft auch Fragen nach der Umsetzung des Verhaltenskodex auf, den Frontex eingeführt hat. Dazu gehören Standards für Begleitpersonen, Beschwerdemechanismen und die Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedstaaten.

Was sind die Ergebnisse Ihrer anderen Untersuchungen bezüglich Frontex?

Im Zusammenhang mit einer anderen wichtigen Initiativuntersuchung habe ich Frontex empfohlen, einen internen Beschwerde-Mechanismus einzurichten, damit sich Einwanderer_innen und andere Betroffene direkt bei Frontex beschweren können, wenn sie der Ansicht sind, dass ihre Menschenrechte verletzt wurden.

Frontex sieht die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen ausschließlich bei den jeweiligen Mitgliedstaaten. Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Die ersten Menschen, die Asylsuchende an der Küste sehen, sind Frontex-Beamte, die die Europaflagge an ihrer Uniform tragen. Ich denke, dass jede_r, die/der in einer dienstlichen Eigenschaft diese Flagge trägt, die Standards der EU-Grundrechte aufrecht erhalten muss. Diese verzweifelten Menschen müssen in der Lage sein, sich zu beschweren, wenn das nötig ist. Danach kann entschieden werden, ob sich eine Behörde des Mitgliedstaats mit der Beschwerde auseinandersetzen muss. Frontex selbst sollte Beschwerden entgegennehmen können. Von Menschen, die oft schutzbedürftig sind, kann unter diesen schrecklichen Umständen nicht verlangt werden, dass sie erst selbst Untersuchungen anstellen, an wen sie sich mit ihrer Beschwerde wenden können.

Jedoch hat Frontex bisher keinen Beschwerdemechanismus eingeführt. Ihre Begründung: einzelne Vorfälle lägen in der Verantwortung der jeweiligen Mitgliedstaaten. Ich bin auf dieses Problem in einem Sonderbericht an das Europäische Parlament eingegangen. Jetzt liegt es am Parlament dafür zu sorgen, dass Frontex seine Position überdenkt.

Vielen Dank für Ihre Antworten.

Die Fragen stellte Claudia Krieg.

Der Sonderbericht ist zu finden unter:
www.ombudsman.europa.eu/en/cases/specialreport.faces/en/52465
/html.bookmark

Anmerkungen:

(1) Siehe u.a.: Amnesty International, The Human Cost of Fortress Europe. Human Rights Violations against migrants and refugees at Europe’s borders, 2014; Pro Asyl, Pushed-back: Systematic human rights violations against refugees in the aegean sea and at the Greek-Turkish border, November 2013; Human Rights Watch, The EU’s dirty hands: Frontex involvement in ill-treatment of migrant detainees in Greece, September 2011.

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