Publikationen / vorgänge / vorgänge 124

Betrifft: „Innere Sicherheit”

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 80-84

Die Debatte um die „Innere Sicherheit” ist Wahlkampfthema und macht dem Medienrenner „Asylrecht” den ersten Rang streitig. Die beiden großen Parteien CDU und SPD überbieten sich mit Rezepturen, wie der wachsenden Alltagskriminalität, der Gewaltkriminalität und insbesondere der sog. Organisierten Kriminalität begegnet werden kann. Die Debatte wird parteistrategisch und populistisch geführt. Sie wird von der CDU auf die Frage „wie hältst Du’s mit dem Großen Lauschangriff” reduziert; aus SPD-Sicht wird mit der Frage „wie hältst Du’s mit der Geldwäsche” gekontert.

Grundrechte als „fahn­dungs­freie Zone”

Das Trommelfeuer aus Bonn zeigt Wirkung. Eine Versachlichung dieser Debatte bzw. eine offene Diskussion über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit und die wahren Ursachen von zunehmenden Normverletzungen scheint heute angesichts des vergifteten Klimas schon ausgeschlossen. Wer, wie Bürgerrechtler oder die immer schwächer werdenden Stimmen in den Medien, begründeten Widerspruch anmeldet und bei Realisierung dieser Forderungen auf die damit verbundenen Gefahren für Rechtsstaat und Grundrechte hinweist oder wegen der absehbaren Ineffektivität der von der „Großen Koalition” hinausposaunten Postulate vor unerfüllbaren Hoffnungen warnt, wird im besten Falle als naiv, ansonsten als Helfershelfer von Kriminellen denunziert.

Auch vor Grundrechten machen Sicherheitsstrategen bei der Begründung vermeintlicher „Ermittlungsdefizite” heute nicht mehr halt. Angesichts der Bonner Mehrheiten haben wir uns darauf einzurichten, daß das, was im Grundgesetz 1949 als „Unverletzlichkeit der Wohnung” im Gefolge einer langen Rechtstradition in zivilisierten Gesellschaften („my home is my castle“) festgeschrieben worden ist, ebenso wie das Asylrecht demontiert wird. Schließlich haftet diesem Grundrecht, so die CDU, der Geruch einer „fahndungsfreien Zone” an. Die Forderungsschraube wird sich jedoch — ähnlich wie beim Asylrecht — auch danach weiterdrehen. Die Lockerung gesetzlicher Bindungen bei der Strafverfolgung bestimmt den grenzenlosen Forderungskatalog der Ermittler schon seit den siebziger Jahren. Neu ist, daß aus Gründen vermeintlicher Effektivität nicht nur Verfahrensrechte, sondern jetzt auch in aller Offenheit Grundrechte unter Polizeivorbehalt gestellt werden sollen.

„Das Recht auf faire Handhabung der Justiz hat einen so hervorragenden Platz in der demokratischen Gesellschaft, daß es nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden darf.” (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Es ist wirklich vermessen, wenn sich die CDU und die auf den fahrenden Sicherheitszug aufspringende SPD öffentlich als Sachwalter und authentische Interpreten „Innerer Sicherheit” anpreisen. Beide Parteien hatten finden letzten Jahren aufgrund ihrer parlamentarischen Mehrheiten genug Zeit gehabt, der sog. Kriminalität des Alltags und der Wirtschaftskriminalität in Bund und Ländern entgegenzutreten. Die Politik der Bundesregierung hat den Bundesbürgern seit 1982 aber kaum ein Gefühl von Sicherheit vermitteln können. Steigende Kriminalität und sinkende Fahndungserfolge sind entlarvend genug.

Oder wollen uns die „Großen Koalitionäre” etwa weis machen, daß steigende Kriminalität etwas mit dem bisher fehlenden „Großen Lauschangriff” zu tun hat?

Seit 1974 wurden in der Bundesrepublik in Strafverfahrens- und Polizeirecht rechtsstaatliche Sicherheiten zugunsten der Strafverfolgungsbehörden abgebaut. Auch das materielle Strafrecht blieb davon nicht verschont. Bonner Sicherheitsgesetze dienen vor allem der Kompetenzerweiterung der Ermittlungsbehörden bei der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung. Der Zugriff auf Unbeteiligte ist durch moderne Ermittlungsmaßnahmen die Regel geworden (Raster- und Schleppnetzfahndung, Observation), ohne daß ernsthaft Sorge getragen wird, daß die Daten nicht in die falschen Hände geraten. Bei der Zahl der angeordneten Telefonüberwachungen ist Deutschland europaweit führend. Des „Großen Lauschangriffs” haben sich Ermittler schon lange bedient. Deshalb wird gegenwärtig eine Scheindiskussion geführt. Der „Lauschangriff” ist als gesetzlose Ausnahme längst zur Regel geworden. Schon jetzt darf die Polizei im übrigen nach Polizeirecht von außen in Wohnungen hineinhorchen. Sicherheitsgesetze sind Bestätigungsgesetze einer (gesetzlosen) Praxis.

Der Hinweis der SPD, der „Große Lauschangriff” ließe sich etwa durch die Festschreibung eines Richtervorbehalts kontrollieren, geht fehl. Daß der Wille und Instrumente zur wirksamen Kontrolle dieser Ermittlungstechniken in Deutschland nicht vorhanden sind, zeigt schon die geforderte Einbeziehung des keiner Kontrolle zugänglichen Verfassungsschutzes und der anderen „Dienste” in die Bekämpfung des „Organisierten Verbrechens”. Schon heute können Richter und Staatsanwälte ein Lied davon singen, daß ihnen der Polizeiapparat entgleitet und daß die ihnen vorgelegten Akten den Gang der Ermittlungen nicht mehr wiedergeben.

Der Mythos Sicherheit

Es stimmt, daß die Kriminalitätsbelastung ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik im Wachsen begriffen ist (1982: 3,8 Mio Straftaten; 1992: 6,3 Mio). Auch die Angst der Bürger vor ihr. Die Bürger fühlen sich bedroht. Dieses Bedrohungsgefühl wird tagtäglich mediengerecht durch neue Horrormeldungen über „Jugogangs, Russenmafia etc.” geschürt.

Das Bedürfnis nach Sicherheit gerinnt dabei nicht nur in den Medien zur Ware. Da „Sicherheit” in politisch und sozial unsicheren Zeiten eine Wachstumsbranche ist, wird das Gefühl der Bedrohung noch von privaten Bewachungsunternehmen etc. genährt, die neben und unter Verdrängung des staatlichen Gewaltmonopols sich Marktanteile als Produzenten von Sicherheit sichern wollen. Je undurchsichtiger und anonymer die neuen Bedrohungen sind, desto vielfältiger sind die Zukunftsmärkte für Sicherheit.

Subjektives Bedrohungsgefühl und tatsächliche Bedrohung sind jedoch zweierlei und fallen auseinander. Trotz aller Horrorszenarios rechtfertigen die Statistiken das verbreitete Bedrohungsgefühl nicht. Wird die Kriminalstatistik näher betrachtet, zeigt das Anwachsen von Kriminalität Schwerpunkte bei Eigentumsdelikten, dem Drogenhandel, der Steuer-und Wirtschaftskriminalität. Lediglich für die neuen Bundesländer ergibt sich eine starke Zunahme der Straffälligkeit. Für eine signifikante Bedrohung des Einzelnen etwa durch Gewaltdelikte oder Bedrohung der Öffentlichen Ordnung insgesamt, gibt die Kriminalstatistik nichts her.

Die aktuelle Debatte verkürzt „Innere Sicherheit” auf die Forderung nach Ausweitung polizeilicher und strafverfahrensrechtlicher Befugnisse. Sicherheitspolitiker reduzieren dabei das Gefühl von Unsicherheit der Bürger allein auf die Angst vor Kriminalität. Unsicherheit definiert sich jedoch vorwiegend subjektiv und für jeden anders. Der Verlust des Sicherheitsgefühls hat viele Ursachen; er hat mit dem Verlust von Milieus, Arbeitsplätzen, Lebensgewissheiten zu tun.

Der Begriff „Innere Sicherheit” hat eine obrigkeitsstaatliche Denkstruktur zum Paten und erweckt bei der Bevölkerung die Erwartung, der „starke“ Staat könne unabhängig von den gesellschaftlichen Voraussetzungen jedem Bürger persönliche Sicherheit gewährleisten. So soll suggeriert werden, der starke Staat könne strukturelle Gesellschaftsprobleme lösen und kontrollieren.

Wer erinnert sich noch daran, daß dieser Begriff seine Feuertaufe in den ideologischen Begleitmanövern der ersten wirtschaftlichen Erschütterung Nachkriegsdeutschlands 1966/1967 erhalten hat, als das Wirtschaftswunderland Ludwig Erhards seine ersten Risse bekam? „Innere Sicherheit” wird heute unter erheblich dramatischeren Vorzeichen, entmottet und kommt zu neuen Ehren. In Zeiten eskalierender ökonomischer und sozialer Krisenerscheinungen sind die Betroffenen verunsichert. Soziale Besitzstände werden durch Kahlschlag zurückgenommen. Traditionelle Autoritäts- und Wertestrukturen können auch nicht dagegen helfen, weil sie in einer neoliberalen Ellbogengesellschaft alle Verbindlichkeit verloren haben.

In Zeiten der Krise und der Verunsicherung, von der auch die „große” Politik nicht verschont bleibt und auf die sie mit Lähmung und politischer Ratlosigkeit reagiert, bedarf es neuer Feindbilder. Je weniger die konkreten Bedrohungslagen oder alte Feindbilder hierfür etwas hergeben, etwa die RAF oder die „kommunistische Bedrohung”, desto mehr spielen „Asylanten”, Fremde oder eben die anonyme „Organisierte Kriminalität” eine Rolle.

Dem verbreiteten Gefühl von Bedrohung durch Kriminalität und insbesondere durch „Organisierte Kriminalität” kann nicht allein aufklärerisch durch den Verweis auf die Fakten entgegengearbeitet werden. Zwar hat es Bandenkriminalität in der Tat immer schon gegeben. Es stimmt auch, daß die sog. Organisierte Kriminalität gegenüber Dritten nicht überdurchschnittlich gewaltbereit ist. Es bleibt aber die Tatsache, daß Wirtschaftsverbrechen, und dazu gehört jede Form von Organisierter Kriminalität“, grundsätzlich jede und jeden treffen können, vom simplen Betrug und Einbruch über Kapitalanlagebetrug, Firmenzusammenbrüche bis zu strukturellen Wirtschaftskrisen. Die hierdurch angerichteten wirtschaftlichen Verluste erreichen jedes Jahr schwindelerregende Milliardenbeträge, von ruinierten Existenzen ganz zu schweigen.

Wirtschaftsdelikte sind nicht nur Ladendiebstähle und — als Volkssport und Kavaliersdelikt — Versicherungs- bzw. Steuerbetrügereien, an denen sich auch Bundesbürger, die sich selbst von Kriminalität bedroht fühlen, munter als Täter beteiligen. Waffen- und Müllverschiebereien, unerlaubter Handel mit spaltbarem Material, Subventionsbetrügereien, Steuerdelikte im großen Maßstab zeigen erst das wahre Ausmaß des Problems auf, wo Gemeinschaftsinteressen zugunsten von Partikularinteressen verletzt werden. In diesem Zusammenhang sind Wirtschaftsverbrechen real sozial schädliche, menschenfeindliche und das ökologische System gefährdende und zerstörende Praktiken der Kapitalbeschaffung, Kapitalverteidigung und Kapitalverwertung.

„Triebfeder für das Organisierte Verbrechen ist das Gewinnstreben”
(aus dem CDU-Papier zur „Inneren Sicherheit” — These 21)

Der Begriff „Organisierte Kriminalität” taucht im Strafgesetzbuch nicht auf. Er wurde bisher von den Sicherheitspolitikern in keiner ihrer zahlreichen Gesetzesinitiativen juristisch definiert. Dennoch werden mit ihm repressiv-exekutive Forderungen geltend gemacht und „Ermittlungsdefizite” begründet. Unter unwissenschaftlicher Vermengung nationaler Erscheinungsformen von Kriminalität wird in diesem Zusammenhang das Gespenst von der „Mafia” zum Synonym für Organisierte Kriminalität.

Organisierte Kriminalität wird vom BKA, und ihm folgend von CDU und SPD, als planmäßige Begehung von Straftaten durch mehrere Beteiligte definiert; Triebfeder für ihr langfristiges Agieren soll das Gewinnstreben sein. Organisierte Kriminalität wird von ihren Definitoren und dem Medienpublikum fast nur mit Prostitution, Drogenkriminalität und Autoklau, also der „Schmuddelkriminalität”, in Verbindung gebracht. Als ihre bandenmäßigen Akteure werden „Ausländer und Asylanten” ausgemacht. Zeitgenossen wie „Hütchenspieler”, die ihre Mitspieler (welche sehr wohl wissen, was sie tun) über den Löffel zu halbieren versuchen, werden in diesem Zusammenhang zur eigentlichen Sicherheitsgefahr hochstilisiert. Das staatliche Einschreiten gegen sie wird als wirksames Vorgehen gegen das Wirtschaftsverbrechertum gefeiert.

Die auch in Deutschland neuerdings verbreitete Korrumpierung von Entscheidungsträgern in der öffentlichen Verwaltung, kriminelle Verbindungen von Wirtschaft und Politik, die als Gefahr für demokratische Entscheidungsstrukturen bzw., die Demokratie schlechthin in der Debatte um „organized crime” im Ausland im Mittelpunkt stehen, wird hingegen selten damit in Verbindung gebracht.

Organisierte Kriminalität ist keine „Schmuddelkriminalität“, die ihren Platz außerhalb der sozialen Marktwirtschaft hat. Vielmehr entspricht sie dieser; sie ist Funktion einer freien Marktwirtschaft und einer Weltwirtschaftsordnung, in der Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital herrscht. Ebenso wie legale Unternehmen arbeitet auch das sog. Organisierte Verbrechen, etwa bei der Geldwäsche, mit den Instrumenten der Weltwirtschaft, ihrer Infrastruktur, ihren kommunikativen, und juristischen Mitteln. Es hat sich international organisiert und ist mit der materiellen und der ideellen Infrastruktur der legalen Wirtschaft der Staaten und von überstaatlichen Organisationen verfochten und verursacht dabei konkrete Folgeschäden. Was für Unternehmen, die ihr Kapital aus dem Rauschgifthandel erwirtschaften, von Vorteil ist, wirkt sich für die übrige, „legale” Wirtschaft (Durchbrechung des Wettbewerbs) und letztlich für die gesamte Gesellschaft als Schaden aus. Legales und illegales Wirtschaften sind dabei nicht mehr klar zu unterscheiden, weil sich die Bedingungen für wirtschaftliches Handeln insgesamt gewandelt haben. Die „Grauzone” zwischen Legalität und Illegalität gewinnt an Bedeutung. Auch große legale Firmen verletzen im härter werdenden Konkurrenzkampf permanent geltendes nationales und internationales Recht (Umweltrecht, Steuer- und Wettbewerbsrecht, Kriegswaffenkontrollgesetz), wenn die dabei erwarteten Wettbewerbsvorteile und ein alles bestimmendes Kosten-Nutzen-Kalkül es verlangen. Strafprozesse bringen es an den Tag, daß auch Mitarbeiter von „seriösen” Weltfirmen (Siemens) Entscheidungsträger in der Öffentlichen Verwaltung bestechen.

Daß sich legales und illegales Kapital, gefördert durch eine fortschreitende Internationalisierung des Geld-, Kapital- und Warenmarkts, oftmals zu einer nicht mehr zu durchschauenden Wirtschaftsstruktur integrieren, liegt auf der Hand. So hat das illegale Kapital, wie etwa der Drogenhandel, in der Zwischenzeit aus seinen Gewinnen durchaus auch Unternehmen herausgebildet, die sich dann mit völlig legalen Mitteln, z.B. in der Baubranche, am Markt tummeln und durchaus „volkswirtschaftlich sinnvoll” investieren. Sie unterscheiden sich viel-fach von ihren Konkurrenten nur durch höhere Liquidität und eine anders strukturierte Kapitalbeibringung.

Profit und Profitmaximierung sind somit ebenso wie im legalen Wirtschaftskreislauf Motor der sog. Organisierten Kriminalität. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn hier BKA/CDU und der totgesagte Karl Marx zur selben Analyse kommen (müssen).

Lösungsansätze

Kampf gegen Organisierte Kriminalität als einer Form von Wirtschaftskriminalität ist immer ein Kampf für Demokratie und die Erhaltung des Rechtsstaats. Dementsprechend haben alle Methoden und Verfahren zu ihrer Bekämpfung auszuscheiden, die einem rechtsstaatlichen Verfahren widersprechen und „Waffengleichheit” mit Methoden von Kriminellen anzustreben versuchen (V-Leute, verdeckte Ermittler).

Politiker von SPD und CDU wollen der Wirtschaftskriminalität das Handwerk legen und fordern hierfür ein besseres rechtliches Instrumentarium. Was ist von der Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens zu halten, wenn genau dieselben Politiker dem „Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993” zustimmen, das in erster Linie Wirtschaftskriminellen nützt? (Unter Aufweichung des strafprozessualen Prinzips der materiellen Wahrheit kann zukünftig eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr auf Bewährung statt in der Hauptverhandlung auch durch Strafbefehl verhängt werden, was diesem Täterkreis ein Erscheinen vor dem Richter erspart und dem Strafprozeß durch Absprachen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft den Handel mit der Gerechtigkeit als neue Prozessmaxime beschert.)

Eine „Strategie” gegen Kriminalität hat heute niemand; auch nicht die Populisten, die dies behaupten. Allheilmittel gegen Organisierte Kriminalität wie gegen Kriminalität allgemein gibt es nicht. Vielmehr bedarf es „je nach Deliktsart” spezifischer Gegenmittel.

Illegales wirtschaftliches Handeln, illegales Handeln schlechthin wird in der „Sicherheitsdebatte” verkürzt als Ausdruck nicht hinreichend funktionierender staatlicher Kontrolle und Repression begriffen. Illusionär ist, daß die Strafjustiz wichtigster Faktor bei der Kriminalitätsbekämpfung und auch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sein soll. Die vergebliche Eindämmung des Drogenhandels als Teil der Wirtschaftskriminalität sagt hierüber einiges aus. Obwohl das staatliche Verfolgungsinstrumentarium gegen den Drogenhandel nicht nur in Deutschland erweitert worden ist, sind Erfolge nicht zu vermelden. Im Gegenteil. 2000 tote Fixer bleiben jährlich auf der Strecke, und im Drogenhandel wird viel „schmutziges Geld” verdient.

Organisierte Kriminalität ist in erster Linie ein politisches, soziales und kulturelles Phänomen und Spiegelbild der Gesellschaft. Die Vermeidung von Wirtschaftsverbrechen fordert deshalb zuvörderst soziale und politische Änderungen. In puncto Drogendelikten bleibt eine neue Drogenpolitik und dabei die tabuisierte Legalisierungsforderung und Entkriminalisierung im Mittelpunkt, um so dem Rauschgifthandel den Markt aus der Hand zu nehmen und Beschaffungskriminalität, die für mehr als ein Drittel der Wohnungseinbrüche verantwortlich ist, zu unterbinden.

Mit einer funktionierenden Gewerbeaufsicht und einem Wirtschaftsrecht, das den gewandelten Bedingungen für wirtschaftliches Handeln gerecht wird, ließe sich vieles, auch im Umweltrecht, besser und durchaus marktwirtschaftlich regeln. Verbote und Eingriffsinstrumente müssen so gestaltet werden, daß sich marktwirtschaftliches Handeln in einem von Staat und Gesellschaft als illegal deklarierten Bereich wegen zu hoher „Zusatzkosten” nicht mehr lohnt. Dem Kosten-Nutzen-Denken der Täter und Schadensverursacher kann deshalb durchaus über die Beeinflussung von Sanktionshöhe und Sanktionswahrscheinlichkeit, etwa im Verbund mit Bußgeldtatbeständen (mit der Möglichkeit der Gewinnabschöpfung) bei der Normdurchsetzung Rechnung getragen werden. Eine solche funktionierende flächendeckende Gewerbeaufsicht ist jedoch gegenwärtig politisch nicht erwünscht.

Soziale Kontrolle und Mobilisierung der Gesellschaft ist wichtiger als staatliche Kontrolle. Eine effektive Bekämpfung des Organisierten Verbrechens setzt daher eine Demokratisierung der Unternehmen, Transparenz von Verwaltungsentscheidungen, ein umfassendes Akteneinsichtsrecht, BürgerInnenbeteiligung bei Beratung, Vergabe und Kontrolle von öffentlichen Projekten sowie innerbetrieblich eine Stärkung von Betriebsräten und Gewerkschaften als Kontrollinstanzen voraus.

Auf den strafrechtlichen Bereich wird nicht vollständig verzichtet werden können. Wirtschaftsstaatsanwaltschaften und Referate der Kripo sollen ebenso wie Finanzämter rechtsstaatlich und effektiv arbeiten können. Die von den Apologeten „Innerer Sicherheit” geforderte „Waffengleichheit” darf nicht die Institutionalisierung von grundrechtswidrigen Ermittlungstechniken bedeuten, sondern primär, daß Ermittler personell und finanziell besser auszustatten bzw. auszubilden sind. Polizisten sind von ineffektiven Verwaltungsaufgaben (z.B. von der Aufnahme von Verkehrsunfällen ohne Körperschäden) freizustellen. Wirtschaftsverbrechen müssen in der Ausbildung von Juristen, in Forschung und Lehre eine Rolle spielen. Zu wenige Staatsanwälte und Ermittler haben betriebswirtschaftliche Erfahrung und können eine Bilanz lesen. Ohne Änderung des Öffentlichen Dienstrechts ist dies nicht machbar und es müssen deshalb genug Mittel vorhanden sein, um z.B. Wirtschaftsprüfer heranzuziehen. Einen effektiven Ermittlungsapparat gibt es im Rechtsstaat nicht zum Nulltarif. Wir vermissen in der „Sicherheitsdiskussion” seriöse Überlegungen über die Finanzierung dieser notwendigen Maßnahmen.

Berlin, September 1993

nach oben