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Nein zum „Großen Lausch­an­griff” und zum Bespitzeln

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 108-110

Wieder einmal rufen vor allem Unionspolitiker zum Kampf gegen organisierte Kriminalität auf und fordern deshalb den großen Lauschangriff. Obwohl in Deutschland wesentlich öfter und unkontrollierter Telefongespräche abgehört werden als in den viel größeren USA, reicht das den Befürwortern von immer mehr staatlicher Macht noch nicht. Was bisher vor allem bei Gefahr für die Sicherheit des Staates und für Menschenleben (z.B. Geiselnahme, Morddrohung) als heimliche Maßnahme angeordnet werden kann, die selten überprüft und nicht einmal nachträglich bekannt gegeben werden muß, soll auf bloßen Verdacht bestimmter Straftaten hin erlaubt werden:

– Das heimliche Beobachten und Ausspähen mit optischen und elektronischen Hilfsmitteln der verdächtigen Bürgerinnen und Bürger selbst in der privatesten Sphäre, also bis ins Schlafzimmer oder die Badewanne;

– das Belauschen mit Wanzen, Richtmikrophonen und allen anderen erdenklichen technischen Mitteln überall und jederzeit auf Verdacht hin, also auch bis in den Privatbereich;

– dieselben gravierenden Eingriffe gegen völlig Unverdächtige, also bloße „Kontaktpersonen“ wie etwa Arbeitgeber, VermieterInnen, KollegInnen, FreundInnen, Verwandte;

– das verdeckte Ermitteln durch eingeschleuste Spitzel in Verbrecherbanden, denen das Mitmachen bei Straftaten erlaubt sein soll. Von Polizisten würde verlangt, Straftaten nicht aufzudecken, sondern selbst zu begehen.

Entscheidende Grundrechte und demokratische Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger, ja sogar zentrale Menschenrechte, sollen damit aufgehoben werden:

– Der Schutz der Menschenwürde, die nach Art. 1 GG unantastbar ist. Dieser Artikel darf nach Art. 79 Absatz 3 GG nicht verändert werden (Ewigkeitsgarantie).

– Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz abgeleitet hat.

– Der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG. Die Angehörigen, die die Aussage verweigern dürfen, würden zu Belastungszeugen, wenn z.B. abgehört wird, wie sie jemand seine Unrechtstaten vorhalten, um ihn davon abzubringen.

– Das Post- und Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG, das schon länger immer mehr mißachtet wird.

– Die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Absatz 1 GG.

– Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Absatz 4 GG, die unseren Rechtsstaat auszeichnet: Wer von der Überwachung nichts weiß, kann auch keine Rechtsmittel einlegen.

Außerdem werden die demokratischen Verfassungsgrundsätze nach Art. 20 GG verletzt: Vor allem die Gewaltenteilung und die Bindung der staatlichen Gewalt — auch der Legislative — an die verfassungsmäßigen Ordnung. Die Aufhebung der Trennung zwischen polizeilicher Exekutive und der Jurisdiktion war und ist eines der wichtigsten Kennzeichen der Diktatur. Die vorgeschlagene Mißachtung der Verfassung ermöglicht das Ende von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Die angebliche Begründung mit dem Kampf gegen organisiertes Verbrechen rechtfertigt diese Aufgabe der Bürgerfreiheiten nicht. Sie ist zudem völlig unglaubwürdig.

Häufige und schwere Straftaten sind in letzter Zeit die Bandenüberfälle und Mordbrennereien rechtsradikaler Gruppen und Jugendbanden gegen ausländische Mitmenschen. Aber der Rechtsradikalismus wird aus durchsichtigen Gründen ständig verharmlost. Findet man ein Waffenlager bei einem Rechtsradikalen, war er nur „ein Waffennarr”. Werden Brandanschläge oder Mordversuche verabredet, sind das „Alkoholexzesse” oder „Jugendkriminalität” oder es handeln sich (um den Bundeskanzler zu zitieren) um „irregeleitete Gewalttäter”. Wird in Kneipen rechtsradikale Hetze betrieben, sind das „Stammtischparolen“. Wird in heimlichen Gruppen („Wehrsportgruppen“) Mord und Terror geübt, ist das nur „verbotener Waffenbesitz“. Die organisierte Nazi-Kriminalität im Hintergrund wird oft geleugnet, nicht untersucht und erst recht nicht ernsthaft bekämpft. Im Gegenteil! Ausländerfeindliche Sprüche waren und sind aus den Kreisen, die jetzt den Großen Lauschangriff fordern, immer wieder zu hören, am schlimmsten in der Asyldebatte. Es dürfte kein Zufall sein, daß mehrere Unionsparlamentarier in den letzten Monaten zu den Republikanern übergelaufen sind. Und es ist wohl auch kein Zufall, daß die Demonstration am Todestag von Rudolf Heß, dem Stellvertreter Hitlers als Führer der verbrecherischen NSDAP, in der CDU-Hochburg Fulda im Wahlkreis von Dr. Dregger stattfand, der nach eigenen Worten schon 1941 das Abendland in Rußland „verteidigte”, und vor dem Dom des Bischofs Dr. Dyba, dessen Angriffe auf liberales Denken nur zu bekannt sind.

Die derzeitige Kampagne gegen „organisierte Kriminalität” richtet sich vor allem gegen Ausländer, gegen die italienische Mafia, die Russenmafia, die chinesischen , die polnischen Autoschieberbanden, die kolumbianischen Drogenkartelle, die internationalen Menschenschmuggler bzw. Schlepperbanden. Die Atommafia dagegen, die deutsche Atomtechnik an Staaten liefert, die den Atomwaffensperrvertrag nicht akzeptiert haben, die Rüstungsmafia, die deutsche Waffen in Krisengebiete liefert und UN-Boykottmaßnahmen unterläuft, die Müllmafia, die deutschen Müll illegal exportiert, werden nicht erwähnt. Und beim Kampf gegen den internationalen Drogenhandel fällt kein Wort über die deutschen Drogen und die Tausende von Toten die Alkohol-, Nikotin- und Arzneimittelmißbrauch jedes Jahr fordern. Die Verlogenheit des angeblichen Kampfes gegen die organisierte Kriminalität wird hier deutlich.

Dies zeigt sich auch in dem Gesetz von 1992 gegen die organisierte Kriminalität, das weder schwere Untreue, noch schweren Betrug, Industriespionage, Korruption oder Bestechung bekämpft.

Die Kampagne zur „inneren Sicherheit” soll offensichtlich mit ausländerfeindlichem Unterton Angst machen und von den Ursachen der Probleme ablenken. Die realen täglichen Gefahren werden übergangen. Die meisten Menschen fallen in Deutschland dem Straßenverkehr zum Opfer. Aber die selben angeblich um die Menschen so besorgten Politiker bekämpfen alles was vor Unfällen schützen konnte: Geschwindigkeitsbegrenzungen, Verbot von Alkohol am Steuer, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs anstelle des mörderischen Individualverkehrs. Statt der rechtsradikalen Mordbrenner und der Wirtschaftskriminellen bei uns werden Ausländer beschuldigt. Um alles zu dramatisieren und den Regierenden mehr Macht zuzuschanzen, werden dabei die Menschenrechte nicht nur eingeschränkt, sondern im Kern angegriffen. Daß gerade in Deutschland in diesem Jahrhundert die schlimmsten Verbrechen von der Staatsgewalt ausgingen, wird nicht bedacht.

Dabei weiß jeder Informierte nur zu gut: Je mehr die sozialen Gegensätze wachsen, also die Reichen reicher und die Arbeitslosen und anderen Armen noch ärmer werden, desto größer wird die Gefahr für den inneren Frieden. Wer verarmt und keine Zukunftschancen mehr sieht, wird anfälliger für kriminelle Verlockungen. Wer sich ausgegrenzt und ungerecht behandelt fühlt, ist in Gefahr, seinen Protest auch rechtswidrig zu zeigen. Und wo Politik ungerecht wird haben politische Rattenfänger die größten Chancen. Die Massenarbeitslosigkeit und die unsozialen Sparmaßnahmen vor 1933 waren bekanntlich der Nährboden für die Erfolge Hitlers.

Deshalb ist es nötig, die Ursachen der Kriminalität zu bekämpfen, also gegen die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot das Fehlen von Lehrstellen, anzugehen. Es ist dringend nötig, durch eine liberale Drogenpolitik die Beschaffungskriminalität zu verringern und den Drogenkartellen ihre Gewinne zu nehmen, statt durch Repression die Gewinne zu steigern und nicht einmal energisch gegen Geldwäsche vorzugehen. Offensichtlich wird der Anstieg der Kriminalität demagogisch benutzt, um mehr Staatsgewalt, mehr Möglichkeiten zur Überwachung der Bürger zu fordern und untergründig weiter gegen ausländische Mitmenschen Stimmung zu machen. Dem wollen wir widerstehen.

Nötig ist eine bessere Ausbildung, Bezahlung und Ausstattung der Polizei. Nötig ist die Anwendung bestehenden Rechtes gegen kriminelle Vereinigungen. Nötig sind Maßnahmen gegen Geldwäsche durch schärfere Kontrolle des Geldverkehrs und die Abschöpfung illegal erworbener Vermögen. Das ist alles möglich ohne Einschränkung der Freiheitsrechte.

Deshalb erklärt der Vorstand der GHI:

Wir wollen nicht zurück zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat.

Wir verwahren uns gegen Überwachungsmöglichkeiten, die durch die Garantie der Grundrechte ein für alle mal verboten sein sollten.

Wir fordern Achtung vor dem Grundgesetz und den Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger.

Wir fordern Vorbeugung gegen Verbrechen durch mehr soziale Gerechtigkeit und ernsthaften Kampf gegen Arbeitslosigkeit.

Wir fordern eine menschliche Gesellschaft, die die wirklichen Gefahren des Alltags bekämpft, aber ihnen mit rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln begegnet.

Wir sagen Nein zum großen Lauschangriff und zur Bespitzelung der Bürgerinnen und Bürger.

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