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„Irgend etwas nimmt immer mehr zu"

Kriminalitätsfurcht und Kriminalität

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 85-98

Zwar ließe sich die These aufstellen, Kriminalitätsfurcht brauche nicht zu interessieren — zumindest solange nicht, wie eine objektiv eskalierende Kriminalitätsentwicklung nicht verzeichnet werden kann. Indes: Subjektive Einstellungen wie Kriminalitätsfurcht können durchaus konkrete Wirkung entfalten. Folglich kann „es keiner Rechtsordnung gleichgültig sein …, wie die Bevölkerung über die Durchsetzung von Strafnormen und die eigene Sicherheit denkt“. Begründet wird diese Überlegung zumeist mit der Befürchtung, daß es sonst leicht zu Selbst- oder Privatjustiz kommen könne.

Ob dies aber begründbar ist, erscheint zweifelhaft. Zwar ist Selbstjustiz existent, doch eben weniger im öffentlichen Bereich als vielmehr in der Privatsphäre. Ein umfangreiches, meßbares selbst justitielles Verhalten kann trotz des ansteigens der Kriminalitätsfurcht nicht beobachtet werden.

Diese Überlegungen sind also nicht der wirkliche Auslöser, sich mit Kriminalitätsfurcht zu beschäftigen. Besieht man sich aber die Untersuchungen und die öffentliche Diskussion zu diesem Thema, scheint der ,war on fear of crime‘ mehr zu einem ,war on crime by fear of crime‘ geworden zu sein, in dem Ängste vor Kriminalität erst recht geschürt und Umfragen zur Kriminalitätsfurcht instrumentalisiert werden, unpolitische Forderungen zur Kriminalitätsbekämpfung zu stützen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zwischen dem starken Aufgriff des Themas der Kriminalitätsfurcht in den Medien und entsprechenden Reaktionen auf politischer Seite: Für die Medien sind Kriminalitätsberichte jeglicher sensationeller Art „marktweite Information“. Von Politikern, Verwaltungen oder Polizei werden diese Berichte „als faktischer Anhaltspunkt für politischen und administrativen Handlungsbedarf aufgefaßt. Die politischen Reaktionen werden wiederum von den Medien aufgegriffen und kritisch beleuchtet. Sebastian Scheerer nannte diese Erscheinung den „politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf“‚. [1]

Kriminalitätsentwicklung

Entsprechend der vorherrschenden Annahme vor allem im Alltagsdenken, wird die Frage, ob eine veränderte Kriminalitätsbelastung auch zu Veränderungen im Bereich der Kriminalitätsfurcht führten, zumeist bejaht. Um dies zu überprüfen, soll der Kriminalitätsfurcht als subjektiver Komponente ein objektiver Bezugspunkt gegeben und zunächst die Entwicklung der Kriminalität in der Bundesrepublik von 1975 bis 1990 anhand ausgewählter Deliktbereiche dargestellt werden. Untersucht wird die Entwicklung von Raubdelikten, Körperverletzungs- und Tötungsdelikten (ohne Zusammenhang mit dem Straßenverkehr), Vergewaltigung und sexueller Nötigung, da diese Delikte das persönliche Sicherheitsgefühl besonders betreffen, nach den Maßgaben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) auf der einen Seite und der Strafverfolgungsstatistik (SVS) als Teil der Rechtspflegestatistik auf der anderen.

Es ist allerdings problematisch, inwieweit die Kriminalstatistiken überhaupt die Kriminalitätswirklichkeit widerzuspiegeln vermögen. Die von ihnen ausgewiesene sozial sichtbare Kriminalität stellt nur einen Ausschnitt der „Verbrechenswirklichkeit“ dar, sie präsentiert das Ergebnis eines umfangreichen Filterungsprozesses. [2] So sind Kriminalstatistiken als Indikatoren für Kriminalitätsentwicklungen nicht repräsentativ, doch immerhin geben sie Anhaltspunkte für die Einschätzung von Entwicklungen in bestimmten Deliktsbereichen. Die Darstellung erfolgt bei der PKS unter Angabe der Häufigkeitszahl (jeweils auf 100 000 Einwohner) und der Verurteiltenziffer (auf 100 000 Strafmündige) bei der SVS.

Die von der Polizei bearbeiteten Raubdelikte haben sich seit 1975 annähernd verdoppelt: Kamen 1975 auf 100000 Einwohner 32,9 Raubdelikte, waren es im Jahre 1990 56. Nach einer Fluktuationsphase Mitte der achtziger Jahre ist seit 1988 ein erneuter Anstieg zu verzeichnen. Die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte nahmen im gleichen Zeitraum von 192 auf 317,1 zu. Von kurzen Einbrüchen 1982 und 1984 abgesehen, verlief der Anstieg konstant, die Rate der Tötungsdelikte war in diesem Zeitraum leicht rückläufig. Verzeichnete die PKS 1975 noch 15,9 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung, waren es 1990 nur noch 14,2. Die Rate sank in dieser Zeit relativ konstant. Diese Entwicklung beruht in diesem Bereich auf einem Rückgang der Vergewaltigungsfälle, während die Zahl der sexuellen Nötigungen leicht anstieg.

Bezüglich der Frage nach der Entwicklung der Kriminalität ließe sich auf dieser Basis der Schluß ziehen, bei der Gewaltkriminalität sei in fast jedem Bereich ein Anstieg zu beobachten; lediglich die Vergewaltigungen und — bei isolierter Betrachtung die Tötungsdelikte — weisen eine leicht rückläufige Tendenz auf.

Die Zahl der Verurteilten insgesamt bleibt aber im Verlauf der Zeit von 1975 bis 1990 relativ konstant. Wurden 1975 noch 664 536 Verurteilungen gezählt, waren es 1990 mit 692 363 nur unwesentlich mehr. Bemerkenswert ist, daß insbesondere die Verurteilung Jugendlicher und Heranwachsender deutlich zurückging. Bei den Raub- und Erpressungsdelikten weist die SVS 1975 eine Verurteiltenziffer von 9,3 auf — gegenüber 10,4 im Jahre 1990. Nach einem Anstieg zu Beginn der achtziger Jahre mit eine Höchstmarke von 13,7 im Jahre 1984 ist bis 1990 ein stetiges Absinken zu beobachten. Verglichen mit der Verurteiltenziffer 1975 war zwar insgesamt ein Anstieg zu verzeichnen, doch reicht er an die von der PKS ermittelte Verdoppelung nicht heran. Die Verurteiltenziffer bei Körperverletzungs- und Tötungsdelikten stieg von 49,3 1975 auf 55 im Jahre 1990. Bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung steht in der SVS (im Vergleich der Jahre 1975 und 1990) einer Verurteiltenziffer von 3,6 ein Wert von 2,9 gegenüber; nach einer Fluktuationsphase von 1981 bis 1984 mit Werten um 4, ging die Verurteiltenziffer stetig zurück. Die hier ermittelte abnehmende Tendenz steht im Einklang mit dem Ergebnis der PKS.

Problematisch ist, wie sich die unterschiedlichen Steigerungsraten in den Bereichen Raub und Körperverletzung erklären lassen und welche Werte zur objektiven Kriminalitätseinschätzung herangezogen werden können. Zunächst ist klarzustellen, daß die Angaben der PKS und der SVS (schon nach eigener Angabe der PKS) nicht vergleichbar sind. Als Gründe werden die Verschiedenheit des Erfassungszeitraumes, unterschiedliche Erfassungsgrundsätze und der Umstand angeführt, daß der betreffende Fall im Bereich der Justiz eine andere strafrechtliche Beurteilung erfahren kann. Doch vermögen diese Unterschiede im Modus der Erfassung nur den Schwund an sich zu erklären. Offen bleibt die Frage, warum der prozentuale Anstieg innerhalb der PKS nicht dem der SVS entspricht. Für den starken Anstieg der registrierten Kriminalität in den genannten Bereichen könnte ausschlaggebend sein, daß die Geschädigten weniger gewillt sind, erlittene Einbußen Reaktionslos hinzunehmen, das heißt, die Anzeigebereitschaft könnte gestiegen sein. Es läßt sich weiter vermuten, daß der ausgeweitete Versicherungsschutz das Anzeigeverhalten mitbestimmt, da ohne die polizeiliche Anzeige das Opfer nicht entschädigt wird. [3]

Aber nicht nur die Häufigkeitsziffern der PKS und die Verurteiltenziffern sind auf der objektiven Seite zu nennen, sondern es kommen weitere Faktoren hinzu, die statistisch die Gefahr erhöhen, von Kriminalität betroffen zu werden, wie Geschlecht, Alter und Größe des Wohnortes. Männer werden statistisch gesehen, den Handtaschenraub ausgenommen, doppelt so häufig beraubt wie Frauen und viermal so oft von einem Körperverletzungsdelikt betroffen. Jüngere tragen ein höheres Opferrisiko als ältere Menschen. Zudem korreliert die Viktimisierungsrate mit der Gemeindegröße: Sie ist in Großstädten ab 500 000 Einwohnern etwa dreimal so hoch wie in Gemeinden unter 20 000. [4]

Krimi­na­li­täts­furcht zwischen 1975 und 1992

Grundlage der meisten Umfragen ist ein Indikator, der als Standardinstrument zur Erfassung von Kriminalitätsfurcht im Rahmen von Mehrthemenbefragungen gilt. In der deutschen Fassung lautet er: „Gibt es eigentlich hier in der unmittelbaren Nähe — ich meine so im Umkreis von einem Kilometer — irgendeine Gegend, wo Sie nachts nicht alleine gehen möchten?“ In kriminologischen Untersuchungen lautet die Frage leicht abgewandelt: „Wie sicher fühlen Sie sich oder würden Sie sich fühlen, wenn Sie hier in dieser Gegend nachts draußen alleine sind?“

Bei Betrachtung der Ergebnisse, die auf Grundlage der Standardfrage gewonnen wurden, zeigt sich entgegen dem in den Medien unterstellten starken Anwachsen von Furchtgefühlen ein stetiger Rückgang, zumindest bis 1990. Antworteten 1975 noch 50 % der Befragten auf die dichotome Frage mit „Ja“, waren es 1982 und 1987 nur noch 35 bzw. 36 %. 1992 betrug der Anteil in den alten Bundesländern wieder 36 %. Frauen äußern auf diese Frage wesentlich mehr Kriminalitätsfurcht als Männer, ältere Menschen zumindest etwas mehr als jüngere — trotz der geringeren statistischen Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden. [5] Vielfach wurde dieses Phänomen als „Kriminalitätsfurcht-Paradox“ [6] bezeichnet, das heißt, diejenigen fürchten sich am meisten, die objektiv am wenigsten dazu Anlaß haben und umgekehrt. Es zeigt sich aber, daß die Annahme einer Paradoxie auf einem Zirkelschluss beruht: So läßt sich die stärkere Viktimisierung junger Menschen und Männer auch damit erklären, daß sie im Sinne eines „routinemäßigen Sozialverhaltens“ einen „outdoor- Lebensstil“ praktizierten, der sie vermehrt in „viktimogene Situationen“ bringe. [7] Umfragen bestätigen, daß sowohl Frauen als auch ältere Menschen gefahrenträchtige Situationen in großem Umfang umgehen. So wurde in einer neueren Untersuchung ermittelt, daß nach eigenen Angaben zwar ca. 49 % der Frauen, aber nur etwa 25 % der Männer in ihrer Wohngegend, wenn sie nachts allein draußen sind, gewisse Straßen oder Plätze immer oder manchmal vermeiden. Knapp über 18 % der Frauen im Gegensatz zu 3,5 % der Männer äußerten sich sogar dahingehend, daß sie nachts nie allein auf die Straße gingen.[8] Es läßt sich somit auch die These aufstellen, Frauen und ältere Menschen hätten nur deshalb so wenig Anlaß zur Furcht, weil sie ein ausgeprägtes Vermeideverhalten praktizierten.

In der neueren Diskussion wurde daher das Konzept der „Vulnerabilität“ entwickelt, das die rationalen Hintergründe dieser vermeintlichen Paradoxie beleuchtet. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist die Überlegung, daß nicht für jede Person jedes Delikt auch dasselbe bedeutet, daß „Viktimisierung qualitativ je nach den sozialen Merkmalen des Betroffenen jeweils etwas anderes bedeuten kann“. [9] So können sich Frauen und ältere Menschen aufgrund physischer Unterlegenheit oft schlechter gegen körperliche Angriffe wehren. Bei Frauen kommt hinzu, daß sie im Falle der Viktimisierung durch Sexual delinquenz besonders erniedrigenden Eingriffen in die Intimsphäre ausgesetzt sind. Für ältere Menschen bringen Verletzungen ein größeres Gesundheitsrisiko aufgrund möglicher Komplikationen mit sich als dies bei jüngeren Menschen der Fall ist. Bei Frauen ist über die körperliche Vulnerabilität hinaus auch das spezifische Rollenverhalten zu berücksichtigen, das Frauen „vulnerabler“ macht. Frauen sind noch immer der gesellschaftlichen Erwartung ausgesetzt, sich passiv zu verhalten, was sich wiederum negativ auf ein effektives, auch aktives Verteidigungsverhalten auswirkt. [10] Dieses Defizit zieht das Gefühl stärkerer Hilflosigkeit nach sich und könnte die größere Kriminalitätsfurcht bedingen.

Es zeigt sich bei anderen Untersuchungen, daß Frauen nicht nur mehr Kriminalitätsfurcht äußern, sondern auch sonst höhere Angstwerte in psychologischen Testinventaren haben, insbesondere, wenn diese an bestimmte Rollenerwartungen anknüpfen. So ließ sich anhand des von Becker entwickelten Interaktions Angst-Fragebogens zeigen, daß Frauen nicht nur eine höhere Ängstlichkeit vor physischen Verletzungen angeben, sondern auch mehr Angst vor „Auftritten“ in der Öffentlichkeit, vor Selbstbehauptung und Vertretung ihrer Interessen, Abwertung und Unterlegenheit, psychischen Angriffen und Bewährungssituationen haben.“ Zudem kann gerade eine rollen spezifische „Abschottung“ von Frauen wegen des fehlenden Umgangs mit gefahrenträchtigen Situationen für ein höheres Fruchtniveau verantwortlich sein, da es an einem aktiven, auf Bewältigung schwieriger Situationen ausgerichteten Verhalten fehlt, das zu einer rationalen Einschätzung tatsächlicher Gefährdungen verhelfen könnte. Nicht unberücksichtigt bleiben darf die Tatsache, daß Frauen wohl noch immer mehr Bereitschaft zeigen, Furcht auch zuzugeben. [12]

Wie schon Frauen und ältere Menschen äußern auch Großstadtbewohner mehr Kriminalitätsfurcht als Bewohner kleinerer Städte. Hier korreliert die größere Furcht mit der tat-sächlich vermehrten Viktimisierung von Großstadtbewohnern. Diese erklärt sich gleicher-maßen aus deren Lebensstil: der Nutzung kultureller Angebote, sozialer Kontakte und verstärkter Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel. Es konnte aber anhand der beiden anderen Gruppen gezeigt werden, daß Viktimisierungsrate und Furchtniveau sich insgesamt gesehen gegenläufig verhalten. So kann die größere Viktimisierungsgefahr nicht als ausschließlicher Erklärungsansatz für die höhere Kriminalitätsfurcht herangezogen werden. Dennoch: Mit zunehmender Wohnortgröße nimmt auch die Anonymität der Bewohner zu, mit der eine verstärkte Vereinzelung der Individuen verbunden ist. Insgesamt sind die Lebensverhältnisse Stressbelasteter, womit eine größere psychische Beanspruchung einhergeht. [13] Allerdings weist die Kriminalitätsfurcht nicht in allen Großstädten die gleiche Größenordnung auf: Gaben in Hamburg 1984 und in Bochum 1987 15,7 % bzw. 18,1 % der Befragten bei der Beantwortung der Standardfrage an, sich „sehr unsicher“ zu fühlen (Skala: „sehr sicher“; „ziemlich sicher“, „etwas unsicher“, „sehr unsicher“), waren es in München im Jahre 1989 nur 6%. [14] Diese Diskrepanz allein auf einen Rückgang der Kriminalitätsfurcht in Großstädten zurückzuführen, scheint zu kurz gegriffen. Vielmehr ist auch das Sicherheitsklima zu berücksichtigen, welches sich in München etwa durch die hohe, auch sichtbare Polizeipräsenz den Einwohnern wohl positiv darstellt.

Im Frühjahr 1991 wurde bei einer Untersuchung der Kriminalitätsfurcht in den Neuen Bundesländern ermittelt, daß auf die Frage nach dem Unsicherheitsgefühl abends allein im eigenen Wohngebiet (Skala wie oben) 21,6 % „sehr unsicher“ und 29,4 % „etwas unsicher“ angaben. Bei der Frage nach dem Unsicherheitsgefühl vor dem 9.11.1989 antworteten in der Retrospektive nur 3,1 % „sehr unsicher“ und 11,7 % „etwas unsicher“. Dieses Ergebnis ist aber kein tauglicher Indikator für eine Veränderung des Empfindens von Kriminalitätsfurcht, da die Retrospektive frühere Gefühle verzerrt erscheinen läßt — gerade in Hinblick auf eine Idealisierung „des früher Gewesenen“. [15] In einer anderen Untersuchung, die auch einen Vergleich zwischen Alten und Neuen Bundesländern erlaubt, liegt die Kriminalitätsfurcht 1992 um 13 Prozentpunkte höher als in den alten Bundesländern (49 % zu 36 %). [16]

Bei der Analyse der Entwicklung der Kriminalitätsfurcht in der Zeit von 1975 bis 1992 ist besonders das Absinken des Furchtniveaus bis 1990 zu klären. Bei genauerer Untersuchung der Umfrageergebnisse zeigt sich, daß für die skizzierte Entwicklung in erster Linie entsprechende Veränderungen bei den Frauen verantwortlich sind. Gaben 1975 noch 74 % der Frauen an, nachts in einer Gegend im Umkreis von einem Kilometer nicht allein gehen zu mögen, waren es 1982 und 1987 49 % bzw. 50 %, 1990 sogar nur 45 %. Bei den Männern bleibt das Niveau in diesem Zeitraum mit Größen von 24 %, 18 %, 19 % und 16 % dagegen stabiler. Bei Betrachtung der Altersstruktur ist darüber hinaus zu ermitteln, daß die Entwicklung bei den jungen Frauen am stärksten ausgeprägt ist. In der Altersgruppe der 18 bis 29jährigen ergibt sich von 1975 bis 1987 ein Rückgang um 30 Prozentpunkte von 74 % auf 44 %. Bei den 30 bis 44jährigen und den 45 bis 59jährigen waren es noch jeweils 27 %. In der Altersgruppe der 60 und mehr Jahre alten war ein Rückgang um 24 % zu verzeichnen. Durch diese Veränderungen hat die Beziehung zwischen Alter und Kriminalitätsfurcht im Laufe der Zeit eine Umstrukturierung erfahren. Nahmen noch 1975 die Jüngsten und die Ältesten hinsichtlich der Kriminalitätsfurcht eine exponierte Stellung ein, treten 1987 die Ältesten als diejenigen hervor, die die größte Kriminalitätsfurcht äußern, was den bei den Männern seit jeher bestehenden Verhältnissen entspricht.

Veränderungen bezogen auf die Kriminalitätsfurcht betreffen am meisten Frauen in den kleinen Gemeinden mit weniger als 20000 Einwohnern, also Gegenden mit verhältnismäßig geringer Kriminalitätsrate und traditionellem Rollenverständnis. [19] So läßt sich die These aufstellen, daß das seit Ende der sechziger und in den siebziger Jahren geänderte Rollenverständnis diese Entwicklung maßgeblich mitbestimmt hat. Ein größeres Selbstbewußtsein läßt langfristig auch das Gefühl der Vulnerabilität geringer werden und beeinflußt damit die Kriminalitätsfurcht. Hiermit kann der Ansatz verknüpft werden, daß ein Absinken der Kriminalitätsfurchtrate zumeist mit einer Verbesserung der sog. Coping-Fähigkeiten [20] (coping=Bewältigung) einhergehe. Menschen arrangierten sich oftmals mit Gefahren. „Sie gewinnen in dem Maße eine größere Sicherheit, wie sie glauben, Routinen gegenüber Gefahrensituationen entwickelt zu haben“. [21]

Im Zeitraum von 1975 bis 1990 stieg die Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit. Auf die Fragen: „Wie zufrieden sind Sie — alles in allem — mit der Öffentlichen Sicherheit und Bekämpfung der Kriminalität?“ (Zufriedenheitsskala von 0 bis 10, hier 6-10: „sehr/ eher zufrieden“) [17] bzw. „Bitte sagen Sie uns, wie zufrieden Sie mit folgenden gesellschaftlichen Bedingungen … sind. Sind Sie mit … sehr zufrieden, eher zufrieden oder sehr unzufrieden?“, unter anderem erfragt: „ . . . Schutz der Bürger vor Kriminalität“ (hier ausgewiesen „sehr/eher zufrieden“) [18], äußerten 1978 44 %, 1984 47 %, 1988 58 % und 1990 64 % der Befragten in Westdeutschland Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit. Seitdem ist aber ein starker Rückgang der Zufriedenheit zu verzeichnen. 1991 äußerten sich 59 % der Befragten zufrieden, 1992 waren es nur noch 48 %. Ein noch stärkerer Abfall des Zufriedenheitsniveaus ist in den Neuen Bundesländern zu erkennen. Gaben 1990 noch 58 % an, mit der Öffentlichen Sicherheit im großen und ganzen zufrieden zu sein, waren es 1991 15 % und 1992 nur noch 10 %.

Bei einem Vergleich zeigt sich, daß sich die Angaben zur Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit mit denen zur Kriminalitätsfurcht genau gegenläufig bewegen. Stieg die Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit an, sank die Kriminalitätsfurcht. Das Ansteigen des Furchtniveaus seit 1990 ging mit einem starken Absinken der Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit einher. Fühlten die Befragten sich unsicher, nicht hinreichend geschützt, äußerten sie somit auch mehr Kriminalitätsfurcht. Betrachtet man also die Entwicklung dieser beiden Komponenten von 1975 bis 1992, kommt man zu dem Ergebnis, daß die Zufriedenheit mit der Öffentlichen Sicherheit auf der Einstellungsebene ein Indikator für Kriminalitätsfurcht sein kann.

Das „Wissen“ um einen rasanten Anstieg der Kriminalität gehört zur gängigen Alltagsinformation. Neutral gefaßte Umfragen zur allgemeinen Kriminalitätsentwicklung können somit leicht zur reinen Reproduktion des „schon immer“ Gewussten führen. [22] In entsprechenden Untersuchungen findet sich deshalb gegen die vorausgesetzte Meinung vom permanenten Anstieg der Kriminalität oft ein Gegenstimulus. Dieser formuliert in der Fragestellung die vorwiegend nicht erwartete Antwort positiv: „Die Kriminalität in der Bundesrepublik ist im Zeitraum…kaum angestiegen“, gefragt wird sodann nach der Einstellung zu dieser These. Dennoch erhält man einen Anteil von 50 % bzw. 40 % der Befragten, die eine allgemeinen Verbrechenszunahme annehmen. [23] Variiert man die Frage nach dem Anstieg der Kriminalität bezogen auf das Gebiet, dessen Kriminalitätsentwicklung einzuschätzen ist, so geben die Befragten einen umso geringeren Anstieg der Kriminalität an, je enger der Kreis um ihr unmittelbares Umfeld gezogen wird. Je weiter entfernt Kriminalität ist, desto größer wird ihr Ausmaß eingeschätzt. Man könnte daher schon an dieser Stelle die Überlegung anstellen, daß Einstellungen zu Kriminalität eng mit der Einstellung zum „Fremden“ und „Unbekannten“ verknüpft zu sein scheinen.

Angesichts des starken Aufgriffs des Problems der Kriminalität und der Kriminalitätsfurcht stellt sich die Frage, welcher Rang der Kriminalität im Vergleich mit anderen sozialen Problemen zugewiesen wird. Bei der Bildung einer Rangfolge, welche sozialen Probleme als relevant betrachtet werden, ist die Art der Fragestellung von wesentlicher Bedeutung. Bei geschlossener Fragestellung, die entsprechende Antwortvorgaben vorsieht, nahmen „Kriminalität“ oder „Verbrechensbekämpfung“ nach Angabe früherer Umfragen den dritten Rang ein, während diese Probleme bei einer offenen Frage ohne entsprechende Antwortvorgaben auf einen unteren Rang absinken. Gefolgert wird aus diesem Ergebnis, daß für die Einordnung von „Kriminalität“ und „Verbrechensbekämpfung“ als gravierende soziale Probleme eine eindeutige Stimulierung notwendig sei. Eine Befragung aus dem Jahre 1983 ergab bei geschlossener Fragestellung („wirksame Verbrechensbekämpfung“) einen Wert von 62 % der Nennungen auf Rang 15 hinter Arbeitslosigkeit (94 %), Renten (82 %), Jugendarbeitslosigkeit (76 %), Umweltschutz (73 %), Inflation (72 %), Staatsverschuldung (70 %) und Abrüstung (69 %) u.a. [24] Bei neueren Umfragen zeigt sich aber eine Diskrepanz zwischen Alten und Neuen Bundesländern. Lag 1990 bei einer geschlossenen Fragestellung, was einem persönlich am meisten Sorge bereite, „Kriminalitätszunahme“ bei den Westdeutschen an sechster Stelle (31 % der Befragten), lag der Anteil in Ostdeutschland bei 68 % und nahm den ersten Rang ein. Bei einer Allensbach-Befragung ebenfalls 1990 wurden neben den üblichen Problemen auch die Rangwertigkeit von Vereinigungsproblemen erfragt. Die ersten Ränge nahmen hier im Osten und Westen Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, wirtschaftliche Probleme, Inflation und Rentenversicherung ein, während das Kriminalitätsproblem weit abgeschlagen lag. [25] Es zeigt sich trotz dieser Unterschiede, daß das Problem der Kriminalität im Verhältnis mit anderen Problemen relativ gesehen werden muß und nur einen Platz neben anderen einnimmt. [26]

Als zentrales Begründungsmuster einer an law-and-order orientierten Kriminalpolitik kann die Behauptung gelten, die Bevölkerung sei über die wachsende Kriminalität beunruhigt und verlange härtere Strafen. Durch eine unnachgiebige Verfolgung könne sodann nicht nur die Kriminalitätsrate gesenkt, sondern auch der Kriminalitätsfurcht begegnet werden. Zwischen der Kriminalitätsfurcht und den Sanktionseinstellungen der Betroffenen bestehen nach bisher durchgeführten Untersuchungen nur schwache Verbindungen. Es zeigte sich bei der leichten Korrelation aber, daß Probanden, die eine höhere Kriminalitätsfurcht geäußert haben, nicht punitiver, sondern lediglich weniger restitutiv reagieren, was ihre Sanktionseinstellungen bezüglich schwererer Eigentumskriminalität und Gewaltkriminalität angeht.

Medien und Krimi­na­lität

Das Wissen um „die Kriminalität“ und „den Kriminellen“ gehört zum Alltagswissen. Jeder hat irgendeine Vorstellung von Art und Häufigkeit von Straftaten, über ihre Ursachen und angemessene Reaktionen. Die Erlangung von Normen- und Wertewissen ist zunächst Teil der kindlichen und jugendlichen Sozialisation, die so vermittelten Norm- und Wertvorstellungen werden in lebenslangen Sozialisationsprozessen verstärkt und in gewissem Umfang erneuert. Zu den hier anzuführenden „Normverallgemeinerungs- und Kontrollinstanzen“ gehören auch die Massenmedien „als allgemeinste und übergreifende Instanz“. [27] Das reine Faktenwissen über Kriminalität wird nahezu ausschließlich über die Massenmedien vermittelt. Eigene Erfahrungen bleiben die Ausnahme. Das Wissen über Kriminalität wird aufgrund dieses Umstandes zum „Sekundärwissen“.

Daß durch die Tatsache der Beziehung von Kriminalitätswissen aus den Massenmedien auch eine Aufnahme des damit in Zusammenhang stehenden Normen- und Wertewissens erfolgt und eine Verknüpfung mit schon vorhandenen Vorstellungen vorgenommen wird, liegt nahe.

Als Indizien hierfür können zum Beispiel „öffentliche Meinungen“ über neue bzw. aktuelle Arten der Kriminalität, Straftäter, Strafvollzug oder auch Strafzwecke sein, die permanent gebildet werden, ohne daß direkte Erfahrungen nachweisbar wären. Massenmedien zeigen dem Rezipienten aber nicht nur, was Kriminalität ist, sondern auch inwiefern sie für den Einzelnen eine Bedrohung darstellt. Auch Bedrohung durch Kriminalität wird seltener direkt erlebt als vielmehr durch die Darstellungen in den Massenmedien erfahren. Durch den Umstand, fast ausschließliche Informationsquelle zu sein, bietet sich den Massenmedien die Möglichkeit, bestimmte Erscheinungen zu Problemen zu machen oder andere gar nicht aufzugreifen. Mit großer Schärfe formuliert könnte dies folgendes bedeuten: „Soziale Probleme entstehen nicht automatisch aufgrund objektiver Bedingungen, sondern man kann sie als entstanden denken im Kontext eines Meinungsstreites, in dem gegensätzliche Ansichten aufgezeigt, Überredungsprozesse aktiviert und Anstrengungen unternommen werden, Macht und Autorität zu institutionalisieren, um Bedingungen zugunsten bevorzugter Werte zu verändern. [28]

Die Darstellung von Kriminalität in den Massenmedien erfolgt auf ganz verschiedenen Ebenen. Zu nennen sind als Hauptquellen der Information der „klassische“ Krimi, Sendungen, die auf Aufklärung ungelöster Kriminalfälle ausgerichtet sind und zudem Ratschläge geben, um einer eventuellen Viktimisierung entgegenzuwirken, schließlich Berichte über aktuelle Kriminalfälle, Kriminalitätsentwicklungen oder Einstellungen in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen. Die beiden ersten Gruppen zeichnen sich dadurch aus, daß durchgängig die Perspektive der Strafverfolgungsorgane eingenommen wird, „was sich auch in der Überbewertung des Moments der Verhaftung des Beschuldigten niederschlägt“ [29] Die sozialen Zusammenhänge von Kriminalität werden kaum dargestellt. Es erfolgt überwiegend eine Reduzierung der Problematik auf die Pole „gut“ und „böse“, wobei die Fernsehzuschauer schon aufgrund der Aufforderung, sich auf der Suche nach den Tätern auch aktiv zu beteiligen, automatisch der positiv bewerteten Seite zugeordnet werden. An diesem Beispiel läßt sich die Interaktion zwischen Medium und Zuschauer, der aufgrund seiner „Mitarbeit“ durch die Identifikationsmöglichkeit mit dem Guten und „Rechtschaffenen“ in seiner reinen Wortbedeutung belohnt wird, in großem Umfang auf-zeigen. Weiter zeigt sich eine deutliche Konzentration auf die Darstellung von Gewaltkriminalität.

Dies steht in deutlichem Widerspruch zum tatsächlichen Gewicht, haben doch Körperverletzungsdelikte, Mord, Totschlag, Raub und Vergewaltigung nur einen Anteil von 5,8 % an der Gesamtkriminalität. [30] Zwar werden in der Wochenpresse in größerem Maße als in der Tagespresse auch andere Formen von Kriminalität berücksichtigt, doch zeigt sich dabei eine verstärkte Hinwendung zur Staats- und Großkriminalität. Als Beispiel kann genannt werden: „Falschgeld: Mafia-Blüten bedrohen die Wirtschaft [31]. Eine Darstellung „mittlerer“ Wirtschaftskriminalität erfolgt auch hier kaum.

Augenfällig ist auch die Darstellungsweise, die (Gewalt-)Kriminalität in den Massenmedien erfährt. Betrachtet man die Formulierungen, mit denen zum Beispiel alljährlich die PKS kommentiert wird, zeigt sich, daß die Situation vielfach bewußt überzeichnet wird. So verwischt etwa die Bezeichnung „Verbrechensrekord“ [32] eindeutig die Grenzziehung zwischen Verbrechen und Vergehen und suggeriert einen Rekord im Bereich der Gewaltkriminalität, der tatsächlich aber nicht gegeben ist. Weitere Formulierungen sind ,,…weniger als die Hälfte aller Verbrechen aufgeklärt“ [33] oder „Nur etwa jedes zweite Verbrechen — 47 % aller Straftaten — konnte aufgeklärt werden“ [34]. Selbst bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten wird in dieser Weise verfahren: „Immer mehr Verbrechen“ [35]. Neben diesen begrifflichen Manipulationen wird durch Aussparung bestimmter Tatsachen darüber hinaus eine eigene kriminelle Wirklichkeit geschaffen. So wurde 1991 nach Veröffentlichung der PKS in den Zeitungen auch ausgeführt, daß 2387 Menschen durch Mord und Totschlag zu Tode gekommen seien, obwohl „verblüffender weise mehr als zwei Drittel überhaupt nicht getötet worden sind…. man hatte nämlich versuchte (1644 Fälle=68,9 %) und vollendete (743 Fälle=31,1 %) Taten flugs in einen Topf geworfen“. [36] Die Massenmedien produzieren auf diese Weise eine immer neue Kriminalitätswelle. Im Bewußtsein der Konsumenten wird die Vorstellung von einem „Horror-Szenario“ gefördert. Dabei spielt nicht nur das Desinteresse überhaupt an „guten Nachrichten“ eine Rolle: „Wen interessiert es schon, daß der Kassierer Mayer am gestrigen Tag keine Unterschlagung begangen hat“ (H.-J. Friedrichs), sondern das Interesse an der vermeintlich ständigen Verschärfung der Lebensverhältnisse: „Irgend etwas nimmt immer mehr zu“. [37]

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß das Interesse der Massenmedien sich mehr zur subjektiven Opferseite gewendet hat. Die individuelle Betroffenheit des Einzelnen und seine persönlichen Angstgefühle werden stärker in den Vordergrund gerückt. Fast gleich-zeitig mit der Wiedervereinigung wurde in den Medien zudem eine Diskussion über die öffentliche Sicherheit entfacht. Die verstärkt erfolgten Umfragen über Kriminalitätsfurcht und Zufriedenheit mit der öffentlichen Sicherheit wurden umgehend von den Massenmedien aufgegriffen.

Als Beispiele können die Darstellungen zur Kriminalität im Spiegel vom 27. Juli 1992 herangezogen werden. Kriminalitätsfurcht und innere Sicherheit wurden als eigenständige Probleme thematisiert, die Ergebnisse der Umfragen als „dramatische Werte“ bezeichnet. Zwar wird die Kriminalitätsfurcht in diesem Beispiel auch in seiner dysfunktionalen Komponente betrachtet, wenn Zukunftsangst der Ostdeutschen als Erklärungsgrund angeführt wird, doch wird trotz der Erkenntnis, daß die Gewaltkriminalität nicht in großem Maße gestiegen ist, das Gewaltthema miteingebracht.

Der Leiter des Dresdner Landeskriminalamtes, Peter Raisch, wird mit der Äußerung zitiert, er sei verblüfft, „wie schnell im Osten zugelangt und geschossen wird“. Weiter führt der Spiegel aus: „Typisch ist der Fall einer Torgauer Studentin, die abends an einer Straßenbahnhaltestelle plötzlich von einem Unbekannten zur Herausgabe ihrer Umhängetasche aufgefordert wird. Als sie sich weigert, hält ihr der Räuber eine Gaspistole vors Gesicht und drückt ab“. Im folgenden werden weitere Kriminalitätsschilderungen angeführt. Schon die Verwendung des Wortes „typisch“ läßt entgegen der vorherigen Ausführung die Assoziation „ständiger krimineller Gewaltsituationen“ und somit einer steigende Kriminalitätsrate oder zumindest größerer Brutalität aufkommen. Hierdurch scheint die hohe Kriminalitätsfurcht wiederum ihre Berechtigung zu finden. Im Anschluß daran werden die Auswirkungen auf die Zufriedenheit mit der öffentlichen Sicherheit anhand von Zitaten kommentiert: „Die Leute hier empfinden die neue Rechtsordnung sehr intensiv als Täterschutz“ oder „Wenn wir nicht zeigen können, daß ein Rechtsstaat stark ist, treiben wir den Radikalen die Hasen in die Küche“.

Den Schlußpunkt setzt Jürgen Dzuibas vom brandenburgischen LKA mit dem resignierten Fazit: „Die Westler haben auch mit der Kriminalität zu leben gelernt. Bei denen ist ein Autoaufbruch doch inzwischen Teil des allgemeinen Lebensrisikos in einer freien Gesellschaft“. Dieses unkommentierte Schlußfazit schließt den Kreis von Angst, „erschreckender Gewaltkriminalität“ und Sorgen über die innere Sicherheit. Immer wieder kommt es zur Verwendung der Topoi „große Verunsicherung“ und „Kritik an der Polizei“, die auf Kriminalitätsfurcht und die öffentliche Sicherheit bezogen werden. [38]

Schadens­größe und Krimi­na­li­täts­furcht

Betrachtet man etwa die (objektiven) Schadensdimensionen im Zusammenhang mit „Wirtschaftskriminalität“, so fragt sich, ob auch diese Delikte in großem Umfang Kriminalitätsfurcht hervorzurufen vermögen.

Das erste Problem in diesem Zusammenhang stellt sich mit dem Begriff der Furcht. Bei allen bisher untersuchten Delikten war mittel- oder unmittelbar die Unversehrtheit von Personen, physisch und/oder psychisch, betroffen. So ließe sich zunächst argumentieren, Eigentumskriminalität und Wirtschaftskriminalität im besonderen seien gar nicht „furchtfähig“. Die äußerst geringe Aufnahme vor allem der „mittleren“ Wirtschaftskriminalität in den Massenmedien scheint diese Annahme zu bestätigen, gewährleistet die Forcierung von Ängsten doch sonst hohe Auflagen und ein starkes öffentliches Interesse.

Es stellt sich somit die Frage, ob die Furcht vor Kriminalität nicht durch ein bestimmtes Bild von Kriminalität und „dem Kriminellen“ beeinflußt wird, daher einige kriminelle Erscheinungsformen schon gar nicht als Kriminalität bewertet werden und sich deswegen auch nicht vor ihnen gefürchtet wird. Weiter muß überlegt werden, was die Furcht selbst ausmacht, was aus welchen Gründen gefürchtet wird und was nicht. Das Phänomen „Kriminalität“ wird insbesondere in der (Laien-)Öffentlichkeit sozialstrukturell recht eindeutig festgelegt. „Kriminalität ist danach immer noch im großen und ganzen eine überwiegend an niedrigen Sozialstatus, geringe Kompetenz, defizitäre Lebenssituation oder Entwicklungsstadien der Unfertigkeit gebundene Erscheinung. Kriminelle Abweichung wird weithin gleichgesetzt oder doch in engen Zusammenhang gestellt mit Abweichung des allgemeinen Lebensstils von einer den durchschnittlichen Normalitätserwartungen entsprechenden Ordnungsgemäßheit. [39] In das Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangt ist seit einiger Zeit auch die „Kriminalität der Mächtigen“ als „Makrokriminalität [40], nämlich die Kriminalität von Staatsführungen und ihrer Organe, multinationaler Konzerne und Verbrechensorganisationen. Die kriminologisch vermutete und für einige Bereiche mittlerweile bestätigte Ubiquität strafgesetzwidrigen Verhaltens unabhängig von der Schichtzugehörigkeit findet sich hingegen nicht als aktuelles Wissen in der Bevölkerung und der öffentlichen Diskussion wieder. Die „mittlere Wirtschaftskriminalität“ oder noch weiter die „Kriminalität der Rechtstreuen, Erfolgreichen, Angepaßten, der anständigen oder braven Bürger“ [41] wird in der Öffentlichkeit gerade in der Gruppe der hier Benannten nicht registriert. Die Bandbreite der Kriminalitätsformen in diesem Bereich ist groß. Genannt werden können nur beispielhaft der „Volkssport Versicherungsbetrug“, unberechtigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen, Betrugsdelikte hinsichtlich fingierter Kfz- und Fahrraddiebstähle, die nach Schätzungen des BKA bis zu 50 % der registrierten Fälle ausmachen, Neuetikettierung von Verfallsdaten durch Großhändler, Manipulation von Herkunftsangaben durch Einzelhändler, die Fehlerhaftigkeit der Mehrzahl der Abrechnungen und Reparaturen bei Kraftfahrzeugen, die Falschabrechnung medizinischer Leistungen, zahnärztliche Altgold- und Goldstaubunterschlagungen oder Rezeptschwindeleien. Angesichts dieser (nur kleinen) Auswahl scheint schon wegen des nicht mehr schätzbaren Gesamtschadens die Verwendung des Begriffs der „Furcht“ eher angebracht als der mit Eigentumskriminalität ansonsten eher assoziierte „Ärger“. In der öffentlichen Diskussion werden diese Deliktsarten trotz des objektiv großen Schadens aber nicht unter den Begriff der Furcht gefaßt und wohl vom überwiegenden Teil der Bevölkerung auch nicht „gefürchtet“. Hier stellt sich die schon Eingangs aufgeworfene Frage nach dem, was die Furcht im Zusammenhang mit Kriminalität ausmacht. Hinsichtlich ihrer eigenen Kriminalität bzw. der Kriminalität ihrer eigenen sozialen Schicht wird die „Normalbevölkerung“ durch „wahrnehmungspsychologische Barrieren vor reflexiver Selbsterkenntnis geschützt“, Verhaltensweisen, die im eigenen Umfeld gang und gäbe sind, „normalisieren“ sich selbst dann, wenn sie formelle Normen verletzen und werden darüber hinaus sogar in „subkulturelle Eigen- oder Gegennormen“ integriert. [42]

Aber nicht nur die Massenmedien und die Schutzprojektion der im großen und ganzen nicht professionellen Bürger stützen dieses Bild von Kriminalität. Auch die Rechtsordnung selbst definiert die Sanktionswürdigkeit in eine bestimmte Richtung. „Wo das Gesetz das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, seine Lebensverhältnisse, in der Persönlichkeit des Täters liegende besondere Umstände zur Zumessungsgrundlage für Art und Umfang der Rechtsfolge macht (§§ 46, 47, 56, 57 StGB), da wird eben nicht mehr nur die Tat sanktioniert, sondern auch ein Lebensstil“. [43] Hierdurch entsteht eine gesamtgesellschaftliche Allianz zur Ausgrenzung bestimmter Außenseitergruppen.

Mag diese Abgrenzung als psychologischer Schutzmechanismus gewisse Funktionen erfüllen, wirkt sie sich auf diejenigen fatal aus, die außerhalb der beschriebenen gesellschaftlichen Schutzbereiche leben und aufgrund von Defiziten in der „persönlichen Darstellungs- und Verbalisierungsfähigkeit, Definitions- und Beschwerdemacht, Verteidigungskompetenz, Verfügung über Verteidigungsressourcen [44] schnell in die Rolle des „Sündenbocks“ getrieben werden.

Reduzierung von Krimi­na­li­täts­furcht

Schließlich stellt sich die Frage nach Möglichkeiten, der Kriminalitätsfurcht zu begegnen. Die gängigste individuelle Strategie ist die Vermeidung vermeintlich gefährlicher Situationen, das heißt viele Menschen, insbesondere Frauen, bleiben zu Hause. Doch hat diese „Einigelung“ den umgekehrten Effekt. Mißtrauen, Fremdenfurcht und allgemeine Lebens-angst werden dadurch geschürt. [45] Zudem wächst durch das Vermeideverhalten auch die Unsicherheit im Umgang mit der furchteinflößenden Situation, was die Ängste vielfach verstärkt. Weiter verschärft das Vermeideverhalten letztlich auch die beängstigende Situation. Je weniger die Menschen aus dem Haus gehen, desto leerer werden die Straßen, Parks etc., ein Kreislauf, der sich immer weiter fortsetzt. „…Das verbreitete Meiden öffentlicher Verkehrsmittel etwa setzt diejenigen größerer Gefahr aus, welche auf deren Benutzung angewiesen sind“. [46] Auch der Gebrauch von Abwehrmaßnahmen wie die Anschaffung einer Waffe oder die Bildung von Bürgerwehren erweist sich nicht als taugliche Strategie. Diese Maßnahmen „bilden ein der demokratischen Kontrolle entzogenes, vielfach manipulierbares Gewaltpotential, das durch Jagdinstinkte beherrscht wird und auf Exempelstatuierung abzielt“. [47].

Eine schärfere Sanktionierung bewirkt eher einen negativen Einfluß auf die Kriminalitätsrate als ein Eindämmen der Kriminalitätsfurcht. Selbst höhere Aufklärungsquoten oder eine Verstärkung können ins Gegenteil umschlagen. Registrieren die Menschen eine — erstmalig — verstärkte Polizeipräsenz oder eine steigende Aufklärungsquote, kann damit erst erst der Eindruck entstehen, man sei einer dramatischen Entwicklung ausgesetzt.

Da sich Kriminalitätsfurcht in erster Linie als Furcht vor dem Fremden, Unbekannten darstellt, die insbesondere in Zeiten politischer und sozialer Unsicherheit mit Unterstützung der Medien durch eine Projektion eigener, ungelöster Probleme auf eine bestimmte Verhaltensform entsteht, könnte ein Ansatz zur Minderung von Kriminalitätsfurcht darin bestehen, trotz in der Öffentlichkeit geäußerten Vorbehalte eben diese Barrieren abzubauen. Zu denken ist hier insbesondere an die Möglichkeiten informeller Streitbeilegung, oder zur Wiedergutmachung im Sinne einer Reprivatisierung strafrechtlicher Konfliktbewältigung.

1 Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf; in: KrimJ 1978, S. 223
2 Vgl. Heinz, Wolfgang: Kriminalstatistiken-Indikatoren der Kriminalität und ihre Entwicklung; Polizei und Justiz 1977, S. 93 und Kerner, Hns-Jürgen: Verbrechenswirklichkeit und Strafverfolgung; München 1973
3 Vgl. Kaiser, Günther;Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen; Heidelberg 1989, S. 210
4 PKS 1990; Kirchhoff , Gerd Ferdinand/ Sessar, Klaus: Das Verbrechensopfer, Bochum 1979, S. 179ff und 311
5 Vgl.Kirchhoff (s. Anm. 4)
6 Z.B. bei Arnold, Harald: Kriminelle Viktimisierung und ihre Korrelate, ZStW 1986 (98), S.1004
7 Kunz, Karl-Ludwig: Die Verbrechensfurcht als Gegenstand der Kriminologie und als Faktor der Kriminalpolitik; MachrKrim 66, 3/1983, S. 162ff
8 Kury,H./ Dormann, U./ Richter H./ Wüger, M.: Opfererfahrungen und Meinungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland; Wiesbaden 1992, S. 234
9 Reuband, Karl -Heinz: Objektive und subjektive Bedrohung durch Kriminalität, KZfSS 2/ 1992, S. 341, 347
10 Stinchcombe, Arthur u.a.: Crime and Punishment-Changing Attitudes in America; San Francisco/Washington/London 1980, S. 47ff
11 Becker, zit. nach Kury u.a., s. Anm. 8, S. 232
12 Schwind, H.D. /Ahlborn, W. /Weiss,R.: . Dunkelfeldforschung in Bochum 1986/87; Wiesbaden 1989, S. 132
13 So Kury u.a. (s. Anm. 8), S. 239ff
14 Lamnek, Siegfried: . Fear of Victimization. Attitudes to the Police an Mass Media Reproting; in: Kaiser G./ Kury H./ Albrecht H.-J. (Hg.): Victims and Criminal Justice, Freiburg, 1991, S. 637 und 641
15 Datenbasis. Boers, Klaus: Kriminalitätseinstellungen in den neuen Bundesländern; Tübingen 1993
16 Datenbasis: ALLBUS 1992
17 Wohlfahrtssurvey 1978, 1984, 1988
18 ipos 1990, 1991, 1992
19 Vgl. auch Reuband (s. Anm. 9), S. 341 und 349
20 Zum Begriff des „coping“ vgl. Boers (s. Anm. 15), S. 286
21 Reuband (s. Anm. 9), S. 446f
22 Kerner, Hans-Jürgen: Kriminalitätseinschätzung und Innere Sicherheit, Wiesbaden 1980, S. 87
23 Stephan, Egon: Die Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminologisch-viktimologische Analyse zur Erforschung des Dunkelfeldes; Wiesbaden 1976, S. 420 und Kerner (s. Anm. 22), S. 91
24 Noelle-Neumann, Elisabet/Piel, Edgar (Hg.): Eine Generation später. Bundesrepublik Deutschland 1953-1979; München 1983; S. 263
25 Noelle-Neumann, Elisabeth: in der FAZ vom 26.9. und 24.10.1990, S. 5
26 Aus anderer Perspektive formuliert, bedeutet dies, „daß die wirklichen ,Lebenskatastrophen‘, soweit sie aus zwischenmenschlichen Problemen und Konflikten hervorgehen, nur selten mit Ereignissen verbunden sind, die wir als ,kriminell‘ Klassifizieren können.“ Hanak, G. /Stehr, J. /Steinert, H.: Ärgernisse und Lebenskatastropen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität; Bielefeld 1989, S. 193
27 Schneider, Hans-Joachim: Kriminalitätsdarstellungen im Fernsehen und kriminelle Wirklichkeit; Opladen 1977, S. 46
28 Larsen, Otto N. (Hg. ): Violence an the Mass Media; New York / Evanston / London 1968, S. 5
29 Kaiser, G. u.a. (Hg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch; Heidelberg 1993, S. 346
30 PKS 1990, S. 16
31 Spiegel Titel vom 19.7.1993
32 Die Welt 15.5.1991
33 taz vom 15.5.1991
34 Rheinische Post 15.5.1991
35 Heute-Journal vom 14.5.1991
36 Geiter, Helmut: Kriminalität und Strafvollzugs-Öffentlichkeit und Justiz zwischen, Mut, Unmut und Übermut; ZfStrVo 6/91, S. 323
37 ebd.
38 Siehe z.B. die Teilüberschriften in: Gewalt in Deutschland, Das Beste aus Reader`s Digest, Februar 1993, 5. 35
39 Frehsee, Detlev: Zur Abweichung der Angepaßten; KrimJ 1991, S. 25ff.
40 Jäger, Herbert: Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt; Ffm 1989, S. 7
41 Frehsee (s. Anm. 39), S. 25 und 28
42 Frehsee (s. Anm. 39), S. 37
43 Frehsee (s. Anm. 39), S. 25f.
44 ebd., S. 25f; so auch Sessar, Klaus: Von einem anderen Umgang mit Straffälligen in unserer Gesellschaft; Vortrag am 7.11.1991 in Kiel (MS)
45 Kunz (s. Anm. 8), S. 162 und 170
46 ebd.
47 ebd.

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